Je länger sich Hilde mit den Briefen beschäftigt, umso mehr hat sie das Gefühl, außerhalb ihrer selbst zu stehen. Sie schaut sich zu, wie sie einst war, was sie tat, wie sie in der einen oder anderen Situation agierte. Sie sieht zwei Personen, die junge und die alte Hilde, zwei Frauen, die so unterschiedlich, so anders sind. Die junge, ängstliche und sich stets anpassende Frau mit runden, drallen Formen und verunsichertem Blick und die alte, von der Mühsal der Jahre gebückte, faltige Greisin, die, wäre da nicht die bewegte Vergangenheit, die auf ihren Schultern lastet, in sich ruhen und ihren Lebensabend genießen könnte.
Ja, so hatte sie es sich einmal vorgestellt. Eine Schar Kinder um sich, denen sie aus Märchenbüchern vorliest oder mit denen sie Weihnachtskekse bäckt. Heute sind die Enkel erwachsen und beschäftigen sich mit Dingen, von denen sie keine Ahnung hat. Ein Handy hat sie zwar, mit ganz großen Tasten, aber einen Computer oder andere technische Geräte versteht und braucht sie nicht. Am unbegreiflichsten ist ihr, dass sogar ihre Urenkel lieber auf einem Bildschirm grüne und rote Männchen abschießen, anstatt sich im Garten oder auf dem Spielplatz auszutoben.
Das Leben fließt dahin, ob wir es wollen oder nicht. Man sagt, die Zeit sei etwas Einmaliges. So wie sie jetzt ist, kommt sie nie mehr. Wir können nichts wirklich wiederholen, einen Lebensabschnitt zweimal erleben. Gelebt ist gelebt und definitiv vorbei. Aber was wäre, wenn? Ließe sich der Fluss der Zeit doch noch anhalten? Hilde weiß, dass so manch Vergangenes doch nicht ganz vergangen ist, nicht einmal vergessen. Es ruht unter einer dicken Staubschicht, aber jetzt, genau jetzt beginnt es wieder lebendig zu werden und nach Aufmerksamkeit zu verlangen.
Warum gerade jetzt?, fragt sie sich immer wieder. Warum verlangen die Kinder auf einmal, dass sie ihr Haus verlassen, ihre Leben in die Hände anderer Menschen legen, den Haushalt auflösen und in ein Seniorenheim ziehen? Warum taucht ausgerechnet jetzt Willi Hammer auf und bohrt in Angelegenheiten, die ihn nichts angehen?
Und kaum erreichen ihre Gedanken Willi, läutet es schrill am Tor.
»Frau Dorn, Herr Hammer ist da und möchte Sie sprechen«, meldet Markus, der gerade die Wege rund um das Haus kehrt. Und ein Madl ist auch bei ihm.«
»Ein Madl?«, ruft Hilde und verlässt ihren Lieblingsplatz unter dem Nussbaum.
»Hm … ein großes Mädchen. Eher eine junge Frau«, schmunzelt er.
»Kennen Sie sie?«
»Ja …«, Markus wird auf einmal verlegen. In dem Moment trottet Willi in den Hof, hinter ihm eine junge, hübsche Frau mit kurzer, modischer Frisur.
»Was willst du schon wieder?«, herrscht Hilde den Mann an. »Geh bitte wieder! Mich interessieren deine G’schichteln nicht!«
»Sollten sie aber«, verkündet Willi geheimnisvoll. Dann zeigt er auf seine Begleiterin. »Darf ich dir meine Enkelin Milli vorstellen?«
»Emilia«, sagt die junge Frau, geht auf Hilde zu und reicht ihr die Hand.
»Es freut mich«, murmelt Hilde, die es mit dem Händeschütteln nicht eilig hat, weil sie sich gerade an einem Stuhl festhält und befürchtet, wenn sie ihn loslässt, umzufallen.
Emilia zieht die Hand zurück. Sie versteht oder zumindest versucht sie Hildes Reaktion zu verstehen und lächelt verständnisvoll. »Mein Opa ist ganz begeistert von der Geschichte Ihres Hauses«, sagt sie.
»Ja, gut, aber ich kann es mir nicht erklären, warum. Es ist doch ein ganz normales Haus. Wie jedes andere in der Gasse.«
»Eben nicht«, fällt ihr Willi ins Wort. »Dieses Haus war immer ein besonderes. Ich kannte noch deinen Vater, den alten Biehler, der etwas darstellte. Die Leute im Dorf sahen zu ihm auf. Und auch seine Frau war eine g’standene Geschäftsfrau und Bäuerin. Wie hieß sie doch gleich?«
»Anna. Meine Mutter hieß Anna. Gott hab sie selig.«
»Ja, Anna Biehler. Ich kannte sie alle beide. Und alle deine Schwestern. Elfi, Gunde, Helene … Sie alle waren feine Leit’. Vor allem der alte Bäckermeister war eine Persönlichkeit«, fuhr Willi mit seinen Lobpreisungen fort. »Ein Ausländer, die Schlesier waren doch Ausländer hier, oder? Er war ein fleißiger, fähiger Mann. Mit nichts ist er ins Dorf gekommen und hat es zu einem ansehnlichen Besitz gebracht.«
»Und das willst du mir jetzt vorwerfen?«
»Nein, absolut nicht.«
Hilde verschränkt die Hände unter ihrer Brust und schaut ihn verzweifelt an. »Mensch, Willi, hast du kein eigenes Leben? Was geht dich, um Gottes Willen, unser Haus und unsere Familie an? Bitte, lass uns damit in Ruhe und forsche rund um dein Haus. Da ist sicher auch viel zu entdecken.«
»Weißt du, warum mich gerade dein Haus interessiert? Das kann ich dir gleich sagen. Das Verschwinden von Hubert und deiner Nichte geht mir wirklich nicht aus dem Kopf.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Auch mich lässt die alte Sache nicht in Ruhe. Aber was können wir zwei noch ausrichten? Die zwei sind von einem Tag auf den anderen verschwunden und seitdem fehlt von ihnen jede Spur. Du weißt doch, die Polizei war damals hier, die Gestapo, alles haben sie genauestens untersucht, jeden Stein auf dem Grundstück umgedreht, das Dorf durchforstet, Leute befragt … Was glaubst du, wie oft wir auf die Kommandantur vorgeladen wurden? Wochenlang ging das so, aber sie haben die beiden nicht gefunden. Als ob sie die Erde verschluckt hätte.«
»Das verstehe ich nicht. So unfähig war die Polizei damals auch nicht. Und die Gestapo war immer sehr gründlich.«
»Was heißt gründlich? Sie haben das ganze Haus auseinandergenommen und waren dabei nicht zimperlich. So manches Möbelstück und Geschirr mussten daran glauben. Sogar die Selchkammer haben sie uns zertrümmert, weil sie dachten, dass sich jemand im Rauchfang versteckt haben könnte.«
»Hat der Hubert nicht einmal seinen Eltern was gesagt? Ich meine, dass er geht. Und wohin er geht. Das wäre doch das Normalste auf der Welt.«
»Nein. Kein Sterbenswörtchen.«
»Der alte Fischer hat damals ausgesagt, dass seinem Sohn die Lina sehr gut gefallen hat. Das steht sogar hier, in der Zeitung.«
»Aber sie war erst sechzehn.«
»Fast siebzehn.«
»Auch kein großer Unterschied. Nach Aussage der Nachbarn sind die beiden durchgebrannt. Ich fand den jungen Fischer äußerst arrogant und dumm, aber wenn sie sich für ihn entschieden hat, in Gottes Namen, konnte ich auch nichts dagegen ausrichten. Das mussten wir so akzeptieren.«
»Und wieso haben sie sich bis heute nicht gemeldet?«
»Wieso, wieso? Aus Scham wahrscheinlich … oder was weiß ich? Was glaubst du, wie oft ich mir diese Frage schon gestellt habe?«
»Hältst du es für möglich, dass sie im Krieg umgekommen sind?«
»Du nicht? Bei dem Chaos, das überall herrschte?«
Hilde und Willi stehen einander wie zwei Kampfhähne gegenüber. Jeder beharrt auf seiner Meinung, jeder versucht den anderen von seiner Wahrheit zu überzeugen.
»Ich kann mich noch an einen Streit erinnern«, murrt Willi und schaut Hilde dabei misstrauisch an. »Einen fürchterlichen Streit.«
»In jeder Familie wird irgendwann gestritten.«
»Die Stimmen kamen aus dem Keller. Der Paul und ich pirschten uns an, weil wir dachten, dass Huberts Vater wieder einer Bäckereiverkäuferin nachgestellt hat und die Mutter ihm draufgekommen ist. War das ein Lärm! Aber das hat uns dann nicht weiter gekümmert. Wir wollten ja endlich jemanden beim Schmusen erwischen.«
»Und? Habt ihr?«
»Nein. Es war nicht der alte Fischer, sondern der Hubert, der mit der Lina unten gestritten hat. Was heißt gestritten, ich glaube, er hat sie geschlagen.«
Hildes Gesicht wird weiß. »Er hat sie geschlagen? Was fantasierst du denn da?«
»Ich fantasiere nicht. Ich kann mich jetzt ganz genau erinnern. Hubert und Lina haben im Keller gestritten. Und dann hat das Mädchen geweint.
»Jetzt ist aber Schluss«, zischt Hilde. »Geh bitte. Sofort. Ich will mir deine Fantastereien nicht mehr anhören.« Sie schiebt ihn von sich weg und deutet zum Gartentor. »Bitte geh endlich. Und komm nie mehr wieder.« Willi dreht sich umständlich um, sucht nach seiner Enkelin. Und dann sieht es auch Hilde. Milli und Markus stehen auf der Brücke über den Bach, der Arm des Jungen ruht auf ihren Schultern. Bevor sie geht, drückt er ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen.