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FISCHBACH, 25. AUGUST 2008, MITTAG

»Und so bin ich gefahren. Mit zwei Koffern, ein paar Mark in der Geldtasche und großer Vorfreude im Herzen. Aber du brauchst nicht zu glauben, dass ich besonders mutig gewesen war. Im Gegenteil. Ich hatte Angst … und was für eine! Seit meinem Entschluss, zu dir zu fahren, raste mein Herz wie wild und meine Finger zitterten, aber keiner durfte etwas davon merken. Nicht einmal ahnen. Doch trotz meiner nervlichen Anspannung überwog die Vorfreude.«

Hilde und Karl sitzen am Küchentisch und trinken Tee. Vor ihnen liegen ein paar der vergilbten Briefe.

»Weißt du, Karl«, sagt sie leise, »mir ist, als ob es erst gestern gewesen wäre.« Er schaut sie an, für einen Moment glaubt sie, er erinnert sich. Und dann murrt er etwas von Einbrechern und Dieben, denen er eine Falle stellen muss.

»Mama, Mama … wo sind wir?«

Hilde schaut Karl liebevoll an und lässt ihre knochige Hand zärtlich über seine stachelige Wange gleiten.

»Morgen wird die Vroni dich baden und rasieren. Ist das nicht fein?«

»Gemma schwimmen? In der Havel?«

»Ja, in der Havel waren wir öfter schwimmen. Und im Großen Wannsee. Das war ein Spaß.«

»Berlin war schön«, sagt Karl.

»Oh ja, Berlin war am Anfang sehr schön. Erinnerst du dich, Karl?«

»Berlin? Wann waren wir in Berlin?«

Hilde legt ihren Kopf in die Hände und atmet tief durch. Sie möchte sich nicht aufregen, im Gegenteil, sie sehnt sich danach, einen harmonischen Abend mit ihrem Mann zu verbringen. Reden, sich aussprechen, auch wenn er das meiste nicht versteht.

Der 22. Dezember 1939 war ein Freitag. Es war ein besonderer Tag in ihrem Leben. Es war der Tag, der ihr Leben verändern, ihm eine neue Richtung geben sollte.

Mit zwei Koffern bestieg Hilde am St. Pöltner Hauptbahnhof den Zug. Mit einem Schwung hob sie den leichteren in die Höhe und legte ihn in das Gepäcknetz über ihr, den schwereren verstaute sie unter den Sitzen. Ein wenig aus der Puste nahm sie am Fenster Platz, zum Glück konnte sie einen ergattern, und sah aufgeregt um sich. Wie lange würde es dauern, fragte sie sich und sah auf die Uhr. Würden sie pünktlich sein? Vor lauter Nervosität holte sie ihre Jause heraus und biss in das mit Speck und Zwiebeln belegte Brot, das ihr Lina in der Früh gerichtet hatte.

Mit an der Fensterscheibe platt gedrückter Nase sah sie später neugierig hinaus. Menschen, Autos, Fuhrwerke. Felder, Wälder, Flüsse. Rehe, Hasen, Hunde, Katzen. Die wunderschöne Wachau, das majestätische Stift Melk. Hilde kam es vor, als hätte man all das ihr zu Ehren an der Bahnstrecke aufgestellt, damit sie sah, wie schön das Reich war. Karl hatte recht, die Welt war groß und wunderschön, und es lohnte sich, sie kennenzulernen. Und bald würde ihr die große, wunderschöne Welt zu Füßen liegen. Karl und sie würden bald heiraten, eine Familie gründen und in Berlin glücklich sein.

In Linz stieg sie, wie Karl es ihr empfohlen hatte, in den Schnellzug um. Der Tag verging, die Nacht brach an. Kälte kroch ihr unter die Kleidung. Sie verspürte Hunger und Durst, saß aber nur apathisch da und sah aus dem Fenster, das keine Bilder mehr von draußen durchließ und ihr nur das Spiegelbild des Abteils entgegenwarf. Schon seit Stunden schnaufte der Zug durch die nächtliche Landschaft. Hilde konnte nicht mehr sitzen, nicht mehr stehen. Alles tat ihr weh. Zum wiederholten Mal legte sie ihren Kopf gegen den neben ihr hängenden Mantel und versuchte einzuschlafen, aber die Aufregung und der Lärm der ratternden Räder und weinende Kinder ließen es nicht zu. Doch das lauteste Geräusch, das nur sie in ihrem Kopf hörte, war das Klacken der Tür, die hinter ihr zufiel, als sie ging. Ein scharfer Schnitt zwischen ihrem alten und neuen Leben. In dem Moment verstand sie, dass egal, was käme, ab nun alles anders werden würde.

Am Tag vor ihrer Abreise war es zu einem Streit mit Elfi gekommen. Sie schrie Hilde hysterisch an, als ob sie erst jetzt begriffen hätte, dass ihre Schwester endgültig aufbrach. Lina stand verängstigt in der Küche, sah unschlüssig von ihrer Mutter zu Hilde und von Hilde zu ihrer Mutter, konnte es nicht fassen, dass ihre über alles geliebte Tante mit ihrem Aufbruch ernst machte und sie beide für lange Zeit, vielleicht sogar für immer verließ.

»Tante Hilde, du kommst aber zurück?«, fragte sie schluchzend. »Ich … wir brauchen dich.«

»Natürlich komme ich zurück, mein Engelchen. Irgendwann!« Sie umarmte ihre Nichte und drückte sie an sich. »Linchen, wenn ich zurückkomme, werde ich dir ein schönes Geschenk mitbringen. Und wenn du ein bisschen älter bist, kommst du mich in Berlin besuchen.«

»Hör auf zu lügen!«, herrschte Elfi sie an. Du kommst nicht mehr zurück, weil du eine Egoistin in Person bist, die nur an sich selbst denkt.« Noch nie war Elfi so aufgebracht wie an jenem Tag. Es fielen hässliche Worte und schwere Beleidigungen, die Anspannung, die sich in den letzten Monaten aufgestaut hatte, entlud sich wie ein Gewitter. Aber es war kein reinigendes Gewitter, eher ein zerstörerischer Orkan, bei dem die Beziehung der beiden Schwestern große Risse bekam.

»Als ich in der Früh völlig ermattet in Berlin ankam, warst du nicht da«, erzählt die alte Frau weiter, mit der vagen Hoffnung, Karls Langzeitgedächtnis möge funktionieren. Sie kann aber nicht mehr schweigen. Sie braucht jemanden zum Reden, und sei es ihr dementer Mann. Schon allein die Stimme, die aus seinem Mund kommt, macht ihr Mut. Und seine Augen, die sie anschauen und trotz erloschener Sterne darin Vertrautheit wecken. Armer Karl, denkt sie. Unser Leben war schwer und voller Entbehrungen, aber das Ganze zu vergessen, ist auch keine Erleichterung, eher eine Strafe. Wofür, das wusste sie nicht.

»Mein erster Eindruck von Berlin war überwältigend und machte mir gleichzeitig Angst. Schon allein der außergewöhnliche Anhalter Bahnhof am Askanischen Platz wirkte auf mich wie eine Kathedrale, aber als ich auf die Straße trat, geriet ich auf einmal in Panik, die pulsierende Energie der Stadt könnte mich auf der Stelle verschlingen. Die Menschen eilten in alle Richtungen, Zeitungskolporteure schrien und priesen ihre Extra-Blätter an, Autos hupten, ankommende Züge zischten und Kinder liefen streunenden Hunden nach.

Ein paar Minuten stand ich nur da und sah dem bunten Treiben zu. Langsam gewöhnte ich mich an den Lärm und begann mich zu orientieren. Du hattest an dem Tag Dienst in der Fabrik und konntest nicht weg, so fragte ich Passanten nach der Wilhelmstraße 13 und ging zu Fuß dorthin. Wie du es in deinem Brief beschrieben hast, war es nicht weit. Nur ein paar Minuten, trotz des schweren Reisegepäcks höchstens eine halbe Stunde. Und damit ich mich sicher nicht verlief, fragte ich an jeder Straßenecke erneut nach dem Weg. Die Stresemann Straße entlang, dann nach links in die Hedemann Straße und nach ein paar Metern rechts in die Wilhelmstraße abbiegen – du hattest mir den Weg sehr gut beschrieben. Die Berliner waren hilfsbereit und sprachen ein merkwürdiges Deutsch, aber ich verstand sie trotzdem. Als du zu Besuch in Fischbach gewesen warst, hattest du mich vorgewarnt. Trotz meiner Müdigkeit musste ich manchmal schmunzeln. Unbewusst wartete ich auf den Satz ›Berlin, ick liebe dir‹, über den wir viel gelacht hatten, aber gleich nach meiner Ankunft hörte ich ihn nicht. Später schon, aber da war ich schon eine Berlinerin.

Die beiden Koffer waren schwer. Ich musste sie immer wieder auf dem Gehsteig abstellen. Aber das machte mir nicht viel aus. So konnte ich ein wenig darauf sitzen, mich ausruhen und staunen über alles, was rund um mich herum geschah. Ich trank den Rest der Limonade und aß das letzte Stück Brot auf. Die Passanten eilten an mir vorbei, manche drehten sich sogar um, aber keiner fragte mich, was ich da machte oder wohin ich wollte. Es war deutlich, sie alle hatten mit sich selbst genug zu tun.«

Auf einmal tauchen vor Hildes Augen Bilder auf, die so anders waren als die, die sie von ihrem Heimatdorf kannte. Die graue Großstadt mit brummenden Automobilen und laut rufenden Menschen erinnerte sie an ein freilaufendes Raubtier, das alle bedrohte. Sie fühlte sich klein und dumm und unfähig. Sie war noch nie so weit von zu Hause weg gewesen. Und noch nie in einer so großen Stadt. In der Hauptstadt. Wie sollte sie sich da zurechtfinden? Und trotzdem tat sie instinktiv das Richtige, arbeitete sich von Hausecke zu Hausecke vor, fragte sich durch und fand die gesuchte Adresse. Vor dem alten, düsteren Haus stehend fühlte sie sich am Ziel. Sie läutete bei der Hausbesitzerin an und fragte nach ihrem Mieter Karl Dorn. Die Frau nickte und bat Hilde, ihr zu folgen.

Das Zimmer lag im Hochparterre. Die hagere Frau sagte schnell etwas auf Berlinerisch, was Hilde deutete als »Wasser und Klosett sind im Gang. Abfalltonnen im Hof. Und die Miete immer im Voraus. Kein offenes Feuer, kein Kochen, keine Besuche«. Ohne abzuwarten, ob die Fremde sie verstanden hatte, überreichte sie ihr einen Zimmerschlüssel und verschwand.

Der Raum war weiß gestrichen, kahl und wirkte kalt. Hilde sah sich ängstlich um. Ein Bett, ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein schmaler, grün lackierter Schrank. Und ein winziger Ofen in der Ecke, daneben ein schäbiger Karton gefüllt mit Holz und Papier. Was für ein Glück, dachte sie, wir werden nicht erfrieren. Kurz entschlossen legte sie ein paar Holzscheite hinein, die sie mit Holzspänen und zerknüllten Zeitungen unterlegte, und zündete alles an. In dem Augenblick begann das Feuer zu knistern, loderte auf und erhellte die Zimmerecke. Schon allein der Anblick des Feuers wärmte sie.

Ihre Sachen verstaute sie, so gut es ging, in dem Schrank, den Rest schob sie samt den beiden Koffern unters Bett. Die mitgebrachten Lebensmittel stellte sie auf die Fensterbank, wo sie die von außen eindringende Kälte vor dem Verderben schützen sollte. Eine Kranz-Dürre, Speck, Geselchtes, Powidlbuchteln, Nüsse aus dem Garten, ein paar Äpfel. Und zum Aufwärmen eine Flasche Obstler.

Es war Vormittag, die Zeit kroch langsam dahin. Von der langen Reise ermüdet, ihre Beinmuskeln zitterten noch ein wenig, stand sie am Fenster und sah hinaus auf die Straße. Sie beobachtete vorbeieilende Fußgänger und Radfahrer, Automobile, Busse, Lastkraftwägen, Mütter mit Kinderwagen, Kinder auf Rollern, mit und ohne Schulranzen, Hunde, Katzen und eine Ratte, die blitzschnell unter einem Kanalgitter verschwand, aber vor allem den eisigen Wind, der an den kahlen Bäumen riss und die Vögel vertrieb.

Hilde legte sich angezogen aufs Bett und schloss die Augen. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Ihre Gedanken kreisten um das Haus in Fischbach. Was wohl Elfi gerade tat, fragte sie sich. Hat sie die Kühe schon gefüttert und gemolken oder ist sie mit dem Haushalt beschäftigt? Und ihre kleine Lina? Was würde sie in den Ferien unternehmen? Weihnachten stand vor der Tür. Bei dem Gedanken spürte Hilde einen Stich im Herzen. Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sie nicht zu Hause verbringen würde. Dafür aber mit ihrem geliebten Karl. Und bald würden sie Mann und Frau sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen fiel sie endlich in einen längst fälligen Schlaf.

Nach ein paar Stunden ging endlich die Tür auf und ein Mann, schmutzig, unrasiert, nach Maschinenöl riechend, fast hätte sie ihn nicht erkannt, stand auf der Türschwelle. Aber es war kein Fremder, wie er auf den ersten Blick wirkte, sondern ihr heiß ersehnter Verlobter, der sie an sich drückte und innig küsste.

»Erinnerst du dich?«, fragt Hilde und lehnt sich an ihren Mann. »Damals, kurz vor Weihnachten begann in Berlin unser gemeinsames Leben.«

»Waren wir schon verheiratet?«

»Nein, aber wir arbeiteten daran.«

»Aha, ich erinnere mich. Du nicht?«