»Geheiratet haben wir in aller Stille am 10. Februar 1940 am Standesamt Berlin-Kreuzberg. Und genauso einfach, wie unsere standesamtliche Hochzeit war, verlief auch am nächsten Tag die kirchliche Trauung in der St. Hedwig-Kathedrale (hinter der katholischen Kirche) völlig unspektakulär. Die Trauzeugen waren beide Male deine Arbeitskollegen Hans-Jürgen und Manfred. Diese beiden sympathischen Freunde mit ihren Ehefrauen und unsere Vermieterin Frau Schorm, die sich nach dem anfänglichen Schock zu einer sehr netten Person entwickelt hatte, und ihr Mann waren unsere einzigen Gäste. An den beiden Tagen trug ich ein dunkelblaues Kleid mit eingewebten, glänzenden Ornamenten und einer weißen Schleife um die Mitte, du deinen besten Anzug mit breitem Revers, wie es damals in Mode war, ein weißes Hemd und eine schmale Fliege unter dem Kragen. Für ein weißes Hochzeitskleid, wie ich es mir immer erträumt hatte, war weder Zeit noch Geld vorhanden. Und das von Steffis Schwester wollte ich nicht mitnehmen, weil inzwischen zwei weitere Bräute, Erna und Gerti, darin geheiratet haben. Noch dazu ist Gertis Mann kurz danach gefallen, und das hielt ich für ein schlechtes Omen. Deshalb musste ein neues Kleid her. Und trotzdem war ich an dem besagten Tag die glücklichste Frau auf Erden. Was war schon ein weißes Kleid gegen das Glück, endlich unter der Haube zu sein?
Das Hochzeitsmahl fiel genauso wie die Zeremonien relativ bescheiden aus: ein Eisbein mit Weißkohl und Klößen, wie sie die Berliner nennen, aber wir wissen, dass die Speise geselchte Stelze mit Kraut und Knödeln heißt. Als Nachspeise gab es Berliner Luft. Ich wollte sie unbedingt kosten, diese süße Versuchung aus Eiern, Zucker, Gelatine und Himbeersaft, auch wenn mir, im Nachhinein betrachtet, unser Apfelstrudel viel lieber gewesen wäre. Trotzdem schmeckte alles hervorragend in der Wirtschaft, deren Namen ich längst vergessen habe. Es war nur ein paar Häuser weiter in Richtung Hallesches Tor. Vielleicht steht das Haus noch.«
Hilde verspürt einen Hauch von Melancholie. In Gedanken fliegt sie in ihre Kindheit, wo sie am Dachboden mit ihren Schwestern Hochzeit spielt. Sie ist die Braut, trägt ein Kleid aus der Mottenkiste und zieht hinter sich einen meterlangen Vorhangschleier über den staubigen Boden. Für die gespielte Hochzeit reichte eine Torte aus Holz, aber für die richtige erhoffte sie sich ein vom Vater gebackenes Meisterwerk der Konditorkunst aus mehreren geschichteten Teigböden und diversen Cremes. Mit weißem Fondant sollte die Torte überzogen sein, mit zartrosa Blümchen verziert und mit einem Brautpaar aus Zucker und Marzipan auf der obersten Etage. Auch weiße Täubchen würden ihr gefallen, egal was, Hauptsache, die Romantik kam auf ihre Kosten.
Alfred Biehler, der Bäckermeister, backte selten Torten, allenfalls auf Bestellung für Freunde und Verwandte, dann aber nahm er sich viel Zeit und kreierte meistens eine eigene Backmasse und probierte neue, unbekannte Füllungen aus, damit jede Torte nicht nur gut schmeckte, sondern auch schön anzusehen und ein wahres Kunstwerk war.
Seit ihrer Kindheit trieb sich Hilde gern in der Backstube herum, stibitzte frische Semmeln oder Topfengolatschen, auch wenn ihr bewusst war, dass der Vater sie schimpfen würde, wenn sie nach den schönsten Stücken griff, die für den Verkauf bestimmt waren. »Nur die verwordackelten dürft ihr haben«, schrie er seinen Töchtern nach, die schon längst über alle Berge waren.
Genauso wie alle ihre Schwestern und die Mutter half auch Hilde später in der Familienbäckerei mit. Sie durften manchmal die Kaisersemmeln oder Golatschen falten, die Backbleche reinigen, den Boden kehren und wischen, aber auf keinen Fall dem Vater ins Handwerk pfuschen. Hilde sah ihm gern zu, wie er den Brotteig mit dem Sauerteig ansetzte, wie er rührte und knetete, Salz, Kümmel oder Anis der Masse beigab, aber wie sehr sie sich auch bemühte, ließ der Bäckermeister keinen an den Brotteig heran. Vorschussbrot, Roggenbrot, Mischbrot. Das tägliche Brot war sein Heiligtum, eine Ehrensache. Er fühlte sich den Kunden verpflichtet, ein ehrliches Brot zu backen und es um ehrliches Geld zu verkaufen.
Wie gern hätte Hilde bei ihrem Vater das Brotbacken gelernt, aber das ging nicht. Hatte das die Welt schon gesehen? Eine Bäckermeisterin! Nein! Das war zu schwer für ein Mädchen. Bäcker waren nur die Männer. Frauen konnten im Geschäft hinter der Budl stehen und verkaufen, aber am Brotteig und Ofen hatten sie nichts verloren!
Nur manchmal, am späten Nachmittag, wenn der Vater müde vom Ausliefern an die umliegenden Geschäfte und Gasthäuser zurückkam und in der Küche eine heiße Suppe schlürfte, stahl sich Hilde in die Backstube und versuchte einen richtigen Kuchen zu backen. Ihre Lieblingszutaten Powidl, Nüsse und Topfen holte sie aus der Vorratskammer mit Erlaubnis der Mutter, die es immer verstand, dem Vater die »Vergehen« der Tochter zu erklären und sie für das noch nicht perfekte Backwerk zu entschuldigen.
Aber am Tag ihrer Hochzeit war alles anders als in ihren Träumen. Kein Mehl, kein Zucker, aber vor allem kein Backofen, in den sie den Kuchen hätte schieben können. Das würde aber kommen, schwor sie sich. Ob in Berlin oder anderswo.
»Karl, egal wie es war, es war unsere Hochzeit und sie war sehr schön. Was mir aber sehr leidtat, war, als ich irgendwann gehört habe, da war ich schon wieder in Fischbach, dass unsere Hochzeitskathedrale nach einem Luftangriff der Alliierten fast vollständig ausbrannte. Schade um die schöne Kirche.«
Karl sitzt da und schweigt. Hilde sieht ihn an, berührt leicht sein faltiges Gesicht. »Ich habe gerade von unserer Hochzeit gesprochen«, betont sie. »Und von unserem Hochzeitsmahl. Viele Jahre war Geselchtes mit Kraut und Knödeln dein Lieblingsessen«, fährt sie begeistert fort. »Erinnerst du dich? Vor allem nach dem Krieg, als es uns etwas besser ging, wünschtest du es dir alle paar Wochen. Manchmal sogar mit Erbsenpüree, wie wir es in Berlin einmal gegessen haben. Erst mit den Kindern hat deine Liebe zu Fleisch nachgelassen, weil sie lieber Palatschinken oder Mohnnudeln aßen. Aus dir ist damals ein richtiger Mehlspeistiger geworden.
Schau Karl, hier sind die Fotos. Und die Hochzeitsanzeigen und Glückwunschkarten. So viele nette Menschen haben uns gratuliert und uns ein langes, zufriedenes Leben zu zweit gewünscht. Und das ist uns auch gelungen … mehr oder weniger. Wir waren … wir sind immer noch glücklich, dass wir einander seit so vielen Jahren haben. Oder?«
Hilde stupst ihren Gatten an, der plötzlich zur Seite kippt. Er gibt ein lautes Stöhnen von sich und bleibt auf der Küchenbank liegen. Hoffentlich fallen ihm die Zähne nicht heraus, denkt Hilde, praktisch wie immer. Ihm jetzt noch einmal die Dritten anzupassen wäre umständlich, so wie jeder Arztbesuch mit Karl umständlich ist. Darüber hinaus die Verhandlungen mit der Krankenkasse, die Gutachten … nein, hoffentlich nicht.
Hilde deckt Karl mit einer Wolldecke zu. Sie streichelt liebevoll seinen Kopf, spürt nur die Leere, die kaum Hoffnung auf eine Zukunft gibt. Trotzdem berührt sie ihn immer wieder, als ob sie sich vergewissern wollte, dass er immer noch da ist. Egal in welchem Zustand.
Sie legt ein Polster auf den Boden für den Fall, dass die Zähne doch noch der Erdanziehungskraft folgen.