Hilde kramt in der Küche, legt Kopfsalat, Tomaten, Gurken, Paprika und Jungzwiebeln auf das Schneidebrett auf der Arbeitsfläche, sucht nach einer geeigneten Schüssel, in der sie den Salat zubereiten kann. Sie entscheidet sich für die alte mit den beigefarbenen und braunen Figuren und stellt sie daneben. Oh ja, denkt sie, die Salatschüssel haben wir schon in Berlin gehabt. Wie alt ist sie eigentlich? Dass Keramik, oder ist es Steingut, so lange heil überleben kann? Sie hat mit den Jahren Schrammen abbekommen wie sie selbst, aber sie ist noch da.
Die alte Frau dreht die Schüssel um, betrachtet den Firmenaufdruck auf dem Boden. TK, Thun, Bohemia, liest sie. Hat sie die Schüssel schon in Fischbach gekauft und nach Berlin mitgenommen oder hat sie sie erst in Berlin gekauft? Hilde stellt die Schüssel wieder ab, versucht sich zu erinnern, aber so sehr sie auch ihre grauen Gehirnzellen anstrengt, kommt sie nicht darauf, woher sie die Schüssel hat. Könnte es sein, dass sie noch aus den Beständen ihrer Mutter stammt?, schießt es ihr durch den Kopf. Das würde aber bedeuten, dass sie noch viel älter ist, als sie zuerst angenommen hat.
Auf dem Anwesen gibt es noch einige sehr alte Gegenstände, manche sind noch in Verwendung, andere unter einem Berg von unnützem Zeug begraben, aber sie haben viele Jahrzehnte überlebt und zeugen von einer ganz anderen Zeit. Hilde nimmt sie nicht mehr wahr, weil sie zu ihrem Alltag gehören, aus dem sie nicht wegzudenken sind. Darum sollen sich einmal die Kinder kümmern, und wenn es die Alten nicht mehr gibt, das Gerümpel einfach wegfahren oder im Internet verkaufen. Bei dem Gedanken muss sie schmunzeln, weil sie einerseits das Wort Internet kennt, seine Bedeutung aber jenseits ihres Verständnisses liegt.
Noch bevor sie mit dem Gemüseschneiden beginnt, schlurft sie ins Schlafzimmer, um Karl zu fragen, ob er auch Lust auf einen frischen Salat zu den gestrigen Nockerln habe. Sie wird sie mit Eiern anbraten und mit Schnittlauch bestreuen. Die Vroni kommt erst am Abend und Markus hat seinen freien Tag. Gleich beim Eintreten fällt ihr Blick in den Spiegel auf der Psyche, die zwischen den beiden Fenstern steht, und sie erschrickt. Dass sie alt geworden ist, weiß sie schon lange. Aber so alt? Mit der rechten Hand hält sie sich an der Türschnalle an, mit dem Stock in der linken sorgt sie für Gleichgewicht, fühlt sich aber nicht ganz sicher auf den Beinen.
»Papa, magst du auch einen Salat?«, fragt sie. »Ich mache uns gerade einen.« Karl schaut sie an und nickt. Er sitzt im Stuhl neben dem Ehebett, auf dem die Berliner Puppe Marlene thront, im Schoß eine aufgeschlagene Zeitung, die Brille auf der Stirn. Seine Lippen bewegen sich. Leise plappert er etwas, was ihm seine brüchige Erinnerung gerade auf die Zunge legt. Hilde tastet sich zu ihm, setzt sich auf den Bettrand und streichelt zart über seinen altersschwachen Nacken.
»Was möchtest du dazu trinken?«
»Mineralwasser«, gurgelt er das Wort aus sich heraus und deutet eine Trinkbewegung an.
Hilde nickt und sieht sich um. Es wird ihr wieder einmal bewusst, dass die alten Zimmermöbel sie schon fast das ganze Leben lang begleiten. Das Ehebett, den großen Schrank, die Kommode und auch die Psyche, das alles haben sie in Berlin gekauft, als sie die neue Wohnung in der Solmstraße 33 gefunden haben. Daran kann sie sich sehr genau erinnern. Es war im Sommer 1940 und sie hatten vor, für immer in Berlin zu bleiben. Zumindest Karl hatte es vor.
Helles, mit vielen Astlöchern durchsetztes Walnussholzfurnier, wie es damals in Mode war, abgerundete Ecken, Profilleisten, zarte Beschläge mit leicht angerosteten Schlössern an den Schranktüren. Ein hohes Brett auf der Stirnseite des Bettes, ein etwas niedrigeres am unteren Ende. Zwei Nachtkästchen, verschlissene Teppiche, ein dreiarmiger Luster mit gelblichen Glasschalen, von denen seidene, vom Staub ergraute Fransen herunterhängen. Ein nicht wegzudenkendes Madonnenbild mit dem Jesuskind an der vor Ewigkeiten tapezierten Wand über dem Bett. Ein leeres Parfümflakon auf einem gehäkelten Deckchen, dahinter das Hochzeitsfoto, daneben eine kleine Vase aus Kristallglas. Ein Schlafzimmer wie aus der Berliner Zeit herausgeschnitten. Vor Hildes Augen rennt ein Film ab.
Berlin war schön, aber fremd. Hilde verbrachte den ganzen Tag in dem kleinen Zimmer und grübelte. Karl war in der Arbeit und am Abend, wenn er müde und oft gereizt nach Hause kam, hatte er kein Ohr für ihre Sorgen. Sie vermisste ihr Dorf, ihr Haus, den Garten, die lauen Nächte im Wirtshausgarten, in dem die Musik spielte und die Jugend tanzte, sie vermisste sogar die Kunden, die in der Früh Brot holten und danach eine Stunde vor dem Geschäft standen und Neuigkeiten austauschten. Die Reihe der Dinge, die sie vermisste, war sehr lang. Von Tag zu Tag wurde sie länger. Sogar die harte Arbeit auf dem Feld und im Stall ging ihr genauso ab wie das anschließende Schwimmen in der Traisen. Und erst der Duft der frischen Backwaren im Haus, die grünen Wiesen, der Bach, der durch den Garten floss, blühender Flieder, der Löwenzahn, die Felder, der Wald … einfach alles. Sie vermisste ihre Schwestern, ihren Dialekt, ihr Essen, sogar das Wetter schien ihr in Fischbach besser zu sein als der großstädtische, ewig graue Nieselregen. Sie war erst vor ein paar Wochen gekommen, um die große Welt zu entdecken, und nun erschien sie ihr auf einmal winzig klein. Hilde wollte nichts so sehr wie weg aus dieser Enge. Und so entschied sie sich, ihr Wort zu halten und für ein paar Wochen nach Hause zu fahren. So könnte sie Elfi bei den Frühjahrsarbeiten helfen, Lina umarmen und an sich drücken und die Angelegenheit mit dem Haus und der Wirtschaft regeln. Aber da erlebte sie eine große Überraschung.