image

BERLIN, 21. JUNI 1941

Als Hilde in die Küche kam, saß Karl vor dem Radio und hörte Nachrichten. Die schrille Stimme des Führers und seine stakkatoartigen Sätze, die er von sich gab, verursachten ihr wie so oft Beklemmungen. Ohne abzuwarten, worüber er gerade sprach, setzte sie sich zu ihrem Mann, der wie paralysiert das Gerät anstarrte. »Es ist so weit«, sagte er. »Der Krieg ist ausgebrochen. Unsere Armee steht schon in Russland.«

»Und was hat sie dort zu suchen?«, zischte Hilde giftig.

»Sei still.«

»Ich meine nur … könnte nicht zur Abwechslung der Friede ausbrechen?«

»Du verstehst nichts.«

»Nein, ich verstehe nichts. Ich bin nur eine dumme Frau.«

»So habe ich es nicht gemeint.«

»Und wie hast du es gemeint?« Hilde stand auf und ging, um nach Trudi zu sehen, die im Zimmer plötzlich zu weinen begonnen hatte. Sie nahm das Kind hoch, wiegte es, legte es an ihre Brust. Die Kleine griff gierig nach der Brustwarze der Mutter und saugte zufrieden. Als sie satt war und wieder friedlich schlief, legte Hilde sie in den Kinderwagen und ging mit ihr hinaus. »In einer Stunde sind wir zurück«, rief sie ihrem Mann zu. Bald darauf hörte man die Kinderwagenräder die Stufen von der Souterrainwohnung hinaufpoltern.

Es war ihr ein Bedürfnis, mehrmals am Tag die schäbige Wohnung zu verlassen und mit Trudi spazieren zu gehen. Wäre Hilde nur ein bisschen anspruchsvoller gewesen, hätte sie an der Trostlosigkeit ihrer Wohnsituation zerbrechen müssen. Aber hässlich war nicht nur hässlich, sondern auch praktisch. Und praktisch war wichtig, weil sie alle zusammen sein konnten.

In ihren Gedanken dekorierte sie die Wohnung. Positiv gestimmt, wie sie es von Anfang an sein wollte, sah sie nicht die feuchten Wände und stellenweise eingebrochenen Bodendielen, sondern ein strahlendes Zuhause, in dem sie schöne Tage, aber vor allem liebevolle Nächte mit ihrem Karl erleben würde. Sie freute sich auf gemeinsame Frühstücke mit gebratenen Eiern mit Speck und Umarmungen ohne Ende.

Als sie nach Berlin ging, war sie nicht auf der Suche nach einem Abenteuer, sondern nach Glück. Aber das, was sie dort fand, war weder das eine noch das andere. Sie litt an Heimweh und fühlte sich krank und verbraucht. Aber das Schlimmste für sie war, dass sie sich, je länger sie und Karl gemeinsam in Berlin lebten, ihrem Mann langsam entfremdete. Das war das erste Mal, seit sie ein Paar waren, dass zwischen ihnen keine wirkliche Nähe mehr bestand. Eine Liebesnacht in Fischbach duftete wie frisch gebackenes Brot, wie ein schlafendes Kind in der Wiege, wie schöne, unbeschwerte Stunden im Heu. In Berlin kam ihr dieser Genuss abhanden. Karl, der ihr früher einfühlsame Briefe schrieb, die sich wie zarte Schmetterlinge auf ihre Seele setzten, kam jeden Tag müde von der Arbeit heim, roch nach Maschinenöl und legte sich nach dem Essen gleich nieder. Der Krieg, der sich allmählich in alle Lebensbereiche hineinfraß, die alltäglichen Sorgen und der Kampf ums Überleben, entfernten sie mehr voneinander als die vielen Kilometer, die vor der Heirat zwischen ihren beiden Wohnorten lagen.

»Karl, nicht alles, was sie im Radio sagen, muss der Wahrheit entsprechen«, flüsterte sie vorsichtig, während sie eine Stunde später das Abendessen richtete. Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Ton, weil sie wusste, wie heikel das Thema war. »Glaubst du nicht auch?«

Karl, der immer noch am Tisch saß, sah sie erschrocken an. Dann stand er abrupt auf, in dem Moment fürchtete sie, er würde sie schlagen, aber er ging hinaus, knallte laut die Tür hinter sich zu und schrie draußen etwas, was sie nicht verstand. Durch das offene Küchenfenster sah sie, wie er im Hof auf und ab ging, rauchte und in die Ecke des Hofes starrte, in der die Mülltonnen standen. Nach ein paar Minuten kam er zurück, holte aus dem Küchenschrank Brot und schnitt sich davon eine Scheibe ab. Hilde bemerkte, wie er sich bemühte, ruhig zu bleiben, seine Kieferknochen dabei aber nervös hin und her zuckten. Einige Brotkrümel fielen auf den Boden, keiner reagierte darauf, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Karl hatte nicht mit Hildes Abwehr gerechnet, er hatte ihr keine eigene Meinung zugetraut und war nun überrascht, wie unerwartet resolut sie sich gegen ihn stellte. Er legte seine Stirn in Falten, dachte nach, was das zu bedeuten hatte, wusste aber nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sollte er seine Frau ignorieren, ihr erlauben, das System anzuzweifeln, oder sie zur Räson bringen?

Während des Abendessens schwiegen sie. Nur die Uhr, die in der Küche tickte, maß endlos die schleichende Zeit. Plötzlich stand Karl auf, stellte sich knapp hinter Hilde und begann, als ob nichts geschehen wäre, ihren Nacken zu massieren. Er liebte ihren weichen Körper, ihren natürlichen Körpergeruch, besonders in der Schwangerschaft fand er ihn anziehend. Seine Hand rutschte ein wenig tiefer, berührte ihre vollen Brüste, streichelte sie zärtlich. Hilde drehte sich um, sah ihn verwundert an und ergab sich schließlich seinen warmen Händen. In dem Augenblick spürte sie jenseits aller Schwierigkeiten, denen sie ständig ausgesetzt war, einen Hauch von Zärtlichkeit.

Karl verstand es, das Richtige im richtigen Moment zu tun. Schon öfter hatte sich Hilde gefragt, womit sie ihr Glück verdiente, dass dieser wunderbare Mann, der immer mit allen Problemen fertigwurde, gerade sie geheiratet und nach Berlin mitgenommen hatte. Anstatt über eine Antwort nachzudenken, stand sie auf und führte ihren Mann ins Schlafzimmer.