»Frau Dorn, mein Zivildienst geht in einem Monat zu Ende«, sagt Markus. »Möchten Sie, dass ich mich nach einem neuen Zivi umschaue? Ich könnte mich im Freundeskreis umhören.«
»Was? Sie werden uns verlassen?«
»Ja, das Jahr ist schneller um, als wir dachten.«
»Und wissen Sie inzwischen, was Sie dann machen möchten?«
»Ja, ich werde ab Oktober Geschichte und Politologie studieren.«
»Das wird Ihren Vater sicher freuen.«
»Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Aber jetzt weiß ich es zumindest selbst ganz genau. Seit ich in Mauthausen arbeite, finde ich die Vergangenheit und ihre Auswirkung auf die Gegenwart sehr spannend.« Hilde hört zu, wie er nach Wörtern sucht und die passenden Formulierungen in die richtige Reihenfolge bringt, sie sieht seine strahlenden Augen und spürt, dass Markus auf dem richtigen Weg ist.
Sie beide sitzen unter dem mächtigen Nussbaum und lösen Nüsse aus. Markus knackt sie mit einem Nussknacker auf, Hilde befreit sie von der Schale und legt sie säuberlich in eine Porzellanschüssel. »Bevor die heurigen reif werden, soll uns Vroni ein paarmal einen schönen Strudel mit den vorjährigen backen. Was sagen Sie?«
»Ja, Vronis Nussstrudel sind legendär.«
Markus arbeitet mechanisch, fängt nicht erneut eine Debatte über seine berufliche Zukunft an. Hat sie mich überhaupt verstanden?, denkt er und greift dabei an sein Handy in seiner hinteren Hosentasche. Er möchte nachschauen, wie spät es ist, lässt es aber bleiben. Wenn ich gehe, verlieren die Dorns wieder eine Vertrauensperson, und das war für sie schon nach seinem Vorgänger schwer genug. Alte Menschen gewöhnen sich sehr langsam um, das weiß er von seiner Oma, die im Alter zu ihrer Tochter, Markus’ Mutter, zog und seitdem an Einsamkeit leidet, weil sie den ganzen Tag in der verwaisten Wohnung verbringen muss. Markus’ Eltern sind berufstätig, der verheiratete Bruder lebt mit seiner Familie in Salzburg und Markus ist auch den ganzen Tag nicht da. Seit Neuestem redet sie sich verschiedene Krankheiten ein, die aber laut ihrer Ärzte nur psychosomatisch bedingt sind. Und dabei ist Markus’ Oma um etwa zehn Jahre jünger als Hilde und Karl.
Schweigend lösen sie die restlichen Nüsse aus. Markus ist mindestens dreimal so schnell wie Hilde und hilft ihr. Irgendwo über ihnen zirpen Insekten, im Garten klopft ein Specht einen Baum ab. Ein Spatz setzt sich an den Tischrand und versucht eine Nuss zu stibitzen. Hilde schiebt ihm ein Stück entgegen, der Vogel erschrickt und fliegt davon. Sie sieht ihm kurz nach, dann senkt sie wieder den Blick auf die Nüsse vor ihr. In den Fingern hält sie eine Hälfte: »Markus, haben Sie sich schon einmal die Windungen einer Nuss angesehen?«, fragt sie und streckt ihre Hand aus. »Sehen sie nicht wie ein Gehirn aus?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Berühren Sie eine Nuss, langsam und mit Gefühl, und Sie werden spüren, wie die magischen Kurven unter Ihren Fingerspitzen über Ihre Adern einen Kontakt zu den Windungen in Ihrem Gehirn aufnehmen. Das ist das Wunder der Natur … das Wunder.«
Jetzt wird sie ein bisschen sonderbar, denkt Markus und zieht seine Augenbrauen zusammen. Ist es nur das Alter oder fängt bei ihr auch schon die Demenz an? Oder liegt es an den Briefen, die seit mehr als einer Woche auf dem Couchtisch herumliegen? Er knackt die letzte Nuss auf, löst die restlichen aus, die noch auf dem Tisch liegen, schiebt die leeren Schalen auf ein Zeitungspapier und trägt sie zum Komposter. »Fertig«, sagt er und geht mit der Porzellanschale voller Walnüsse ins Haus. Zurück kommt er mit einer Thermoskanne und zwei Schalen. »Ich habe Ihnen noch Tee gemacht.«
»Danke, das ist ganz lieb von Ihnen.«
»Ja, bitte.«
»Brauchen Sie mich heute noch?«
»Nein, für heute ist schon gut. Laufen Sie nur.«
Der Junge geht zum Tor. »Markus«, ruft ihm Hilde nach. »Sie werden uns sehr fehlen.«