Zu Elfis Begräbnis kam fast das ganze Dorf. Und auch meine Schwestern Helene, Hermi, Gunde und Eva waren da. Ihre Männer und Söhne kämpften an der Front.
Bei der Messfeier saß ich mit Lina in der ersten Reihe, hielt sie fest an der Hand und drückte sie an mich. Ich spürte ihr Zittern und zitterte mit. Obwohl wir im Gotteshaus saßen, war mir, als ob sich die Hölle unter mir geöffnet hätte. Unser Land befand sich im Krieg, und ich verstand nicht, warum. Karl war weit weg, meine Schwester verlor ihr junges Leben, und ich hatte nun zwei Kinder und keinen Plan, wie es mit uns weitergehen sollte. Wovon leben, woher Trost und Kraft nehmen, um das Ganze zu überstehen? Dass ich allein die Wirtschaft nicht führen konnte, war klar, aber wie unsere Zukunft aussehen sollte, davon hatte ich noch keine Vorstellung.
Die kleine Kirche auf dem Berg war voll. Ich schwitzte und war der Ohnmacht nah. Lesung aus dem Ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther: »Ich ermahne euch aber, ihr Brüder, kraft des Namens unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle einmütig seid in eurem Reden und keine Spaltungen unter euch zulasst, sondern vollkommen zusammengefügt seid in derselben Gesinnung und in derselben Überzeugung.«
Ich hörte die Stimme des Pfarrers, den Gesang des Chors, Lamm Gottes , die Fürbitten für die gefallenen Soldaten und verstand sie nicht. Ein Ministrant gähnte, man sah seine Zahnlücken, dann stand er auf, nahm das Messbuch vom Opfertisch, legte es vor das Tabernakel, kratzte sich am Schenkel und setzte sich wieder auf die Seitenbank.
»Wir beten für unsere Männer, Väter, Söhne, Brüder …«
»Wir bitten dich, erhöre uns.«
»Lass sie stärker als ihre Feinde werden und führe sie zum gerechten Sieg.«
»Wir bitten dich, erhöre uns.«
Rundherum umgab mich nur ein Geräusch, ein bedrohliches Geräusch, das mir Angst machte. Was ist, wenn die nächste Fürbitte für meinen Mann sein würde, für meine Schwager und Neffen, für Freunde und Nachbarn? Wen erwischt es als Nächsten? Wie viele Bitten muss sich ein einziger Gott noch anhören? Wie viel Leid kann ein Mensch in seinem Leben ertragen? Wie oft im Leben öffnet sich für einen die Hölle?
Endlich war die Messe aus, die Bestatter trugen den Sarg auf ihren Schultern aus der Kirche hinaus. In ihren angespannten Gesichtern war nichts zu lesen. Weder Schmerz noch Mitleid. Es war Anfang März, nach langen, trüben Tagen schien auf einmal die kalte Sonne vom Himmel herunter, als ob nichts geschehen wäre. Ich hasste sie für ihre Falschheit und Heuchelei.
Lina und ich gingen hinter dem Sarg zum offenen Grab und trugen in den Händen Strohblumen, die Elfi im Sommer noch selbst gepflückt und auf dem Dachboden zum Trocknen kopfüber aufgehängt hatte. »Pfiat di, große Schwester«, sagte ich leise, als ich ihr eine Handvoll Erde nachgeworfen hatte. »Wir sehen uns irgendwann wieder.« Als die Erde auf dem Sarg aufschlug, begann Lina herzzerreißend zu schluchzen. Bevor sie mir in die Arme fiel, warf sie einen Brief in die Grube, an dem sie einen ganzen Tag geschrieben hatte. Ich nahm die Kleine um die Schulter und führte sie weg vom Grab. Der Blick in das Erdloch, in dem ihre Mutter im Sarg lag, schien ihr das Herz zu zerreißen. Und ich war nicht imstande, sie vor diesem Schmerz zu bewahren.