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FISCHBACH, 29. AUGUST 2008, ABEND

Das schicksalhafte Jahr 1943. Ich kann die Zahl nicht einmal mehr aussprechen, so sehr erinnert sie mich an den schlimmsten Bruch in meinem Leben, an den durchdringenden Schmerz, der immer noch tief in mir ruht. Er macht mich mürbe. Trotzdem spüre ich, dass mein eiserner Wille, das große Geheimnis niemals preiszugeben und es mit ins Grab zu nehmen, langsam Risse bekommt. Und es ist egal, ob es mit Willi zusammenhängt, oder ob ich einfach nur das Bedürfnis habe, am Ende eines langen Lebens aufzuräumen und mein Gewissen zu erleichtern. Fest steht, dass ich den schweren Rucksack, den ich mir damals umgehängt habe, nicht mehr mit mir herumtragen möchte.

Willi fragt mich bei seinen unerwünschten Besuchen dies und jenes, bohrt nach, forscht in meiner Vergangenheit, und das alles unter dem Mäntelchen einer geplanten Dorfchronik, aber ich weiß, was ihn am meisten interessiert. Das Verschwinden von Hubert und Lina geht ihm nicht aus dem Kopf. Er schnüffelt wie ein Süchtiger herum, als ob auch er, bevor er abtritt, eine große Tat vollbringen und ein Verbrechen aufdecken möchte.

Aber noch etwas anderes habe ich an Willi entdeckt – der Mann gibt es nicht zu, aber er ist einsam. Sehr einsam. Seine Frau, von der er seit Langem geschieden ist und die ihm trotzdem seit Jahren eine Stütze war, ist im vorigen Sommer gestorben, und das geht ihm näher, als er zugibt. Seine einzige Tochter, die in der Stadt lebt, will nichts von ihm wissen, und Milli zerfließt auch nicht gerade vor Dankbarkeit wegen des Hauses und lebt ihr eigenes Leben.

Sie und Markus sind ein sympathisches Paar. Aber auch sie scheinen sich mit dem »Fall« Lina und Hubert infiziert zu haben. Sie haben mich nach den Geburtsdaten der beiden Vermissten gefragt, ihren genauen Namen, möglichen Schreibweisen und vor allem nach der Beziehung, die die beiden zueinander hatten. »Was für eine Beziehung?«, frage ich und muss dabei an das Ekel Hubert denken, den ich auf den Tod nicht ausstehen konnte, aber ich spiele das Spiel mit und erzähle wie all die Jahre etwas von einer möglichen Liebe, die die zwei angeblich verband. Und ich hasse mich dafür. Jeden Tag bete ich zu Gott, er möge mich endlich von meiner Sünde erlösen. Aber er tut nichts und lässt mich lieber leiden.

Hilde sitzt im Wohnzimmer, vor ihr die Kiste mit den alten Briefen. Sie kramt kurz darin, dann holt sie von ganz unten zwei Briefe mit einem unbekannten Absender heraus. Auf beiden Briefmarken der Deutschen Reichspost ist eine Postkutsche abgebildet, darüber die Aufschrift »Tag der Briefmarke 1943«. Schon damals gefielen ihr diese Briefmarken viel besser als die, die ihr Karl auf seine Briefe geklebt hatte. Überzeugt vom Führer, wie er damals war, wählte er nur Motive mit dessen Antlitz oder die mit Hakenkreuz. Nur zwei, drei Mal ist es ihm gelungen, eine Marke zu kaufen, auf der die deutschen Flieger und Düsenjäger abgebildet waren. Auf diese seltenen Marken war er besonders stolz gewesen. Er war doch der Mechaniker, der diesen silbernen Vögeln das Leben eingehaucht hatte und sie in die Lüfte brachte.

Seit einigen Tagen liest sie schon Karls Briefe und die der Familie, ihre miteingeschlossen, seit Tagen weiß sie, dass sich die zwei geheimsten ganz unten, am Boden der Kiste befinden. Seit Tagen fand sie nicht den Mut, nach ihnen zu greifen. Jetzt hält sie sie in den Händen, jetzt weiß sie, dass die Zeit reif dafür geworden ist, sie zum Leben zu erwecken.