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FISCHBACH, 6. SEPTEMBER 1943

Anfang September war in der Bäckerei plötzlich mehr Arbeit als sonst. Hans Fischer bekam von der Gestapo einen neuen Großauftrag, laut dem er 100 kg Brot mehr liefern sollte als bisher. Für die kleine Bäckerei mit zwei Angestellten eine fast utopische Bestellung, denn in dem Laden gingen täglich nur 80 kg Brot über die Verkaufstheke, 300–400 Semmeln und Gebäck, dazu 200 Stück Mehlspeisen – Topfengolatschen, Nussschnecken und Mohnkronen. Fischer, dem seine eigene Haut viel wichtiger war als die nationalsozialistische Ideologie, verstand sofort, dass es keinen Sinn hatte, darüber zu diskutieren, ob er es schaffen konnte oder nicht, und entschied sofort, den Auftrag aus »politischen Gründen« anzunehmen. »Alle an die Maschinen und gemma!«, schrie er schon am Vortag, und damit auch alles schnell ging, fragte er Hilde und Lina, ob sie sich etwas dazuverdienen wollten. Er ließ sie alle Rohstoffe, die in der Vorratskammer in Säcken und Körben gelagert waren, in das Teigzimmer herantragen, die Knetflächen durch bereitgestellte Bretter vergrößern und alle unnötigen Gegenstände, die im Weg stehen könnten, aus der Backstube entfernen. Dann fügte er dem exakt abgewogenen Mehl Sauerteig, Wasser und Salz zu, rührte und knetete wie besessen.

Anders als Alfred Biehler, Hildes Vater, ließ der Chef auch ungelernte Kräfte an den Brotteig und erlaubte ihnen, die Masse zu wiegen, zu formen und die bemehlten Brotlaibe in den Simperln zum Rasten zu legen. Sie alle standen im Teigzimmer nebeneinander, kneteten, rollten und formten die elastische Masse, trugen die fertigen Laibe in die Backstube und schlichteten die Rohlinge in den Regalen, wo sie eine Stunde Zeit zum Aufgehen hatten.

Für den Bäckermeister begann die Schicht eine Stunde vor Mitternacht, die anderen konnten »ausschlafen« und traten ihren Dienst erst um ein Uhr an. Die Nacht war heiß und trocken, als der alte Fischer die Brote in den mit Heizöl befeuerten Ofen schupfte und sie rosig und duftend wieder herauszog. Seine gerötete Haut schwitzte in der Strahlungshitze des Ofens, sein durchnässtes Hemd klebte an seinem Rücken. Hubert kümmerte sich um das Gebäck, Sepp, der Gehilfe, trug die fertigen Stücke ins Geschäft und schlichtete sie in den Regalen zum Abkühlen. Als diese voll waren, belud er die Kisten, die jemand von der Gestapo spätestens um sechs Uhr abholen sollte. Hilde und Lina säuberten die Arbeitsflächen und die Geräte und befüllten den Auslieferungswagen, der im Hof stand.

Kurz vor fünf sagte der Bäcker »fertig« und befahl dem Gesellen, in den langsam abkühlenden Ofen die Semmeln zu schieben. Gleich darauf ging er in den Hof, um sich eine Zigarette zu drehen. Seit Kriegsanfang rauchte er wie viele andere Männer auch viel mehr als sonst, obwohl es weniger Tabak als in Friedenszeiten gab. Das war ein Phänomen, das ihn ein wenig verwundert hatte, aber er spürte, dass es ohne Nikotin gar nicht mehr ging. Das Nikotin entspannte ihn. Er stand vor dem Presshaus, zog die Tabakutensilien aus der Hosentasche und legte sie auf das äußere Fensterbrett. Bedächtig füllte er das hauchdünne Zigarettenpapier mit dem Tabak, rollte es ein, befeuchtete den Rand mit der Zunge und klebte ihn mit Speichel zu. Im Schein der Zündholzflamme zog er den Rauch der selbst gedrehten Zigarette in sich hinein und blies ihn mit einem leichten Seufzer wieder aus.

Hans Fischer war mit sich und seinen Helfern zufrieden. 180 kg Brot in nur einer Nacht zu backen, war seine persönliche Bestleistung, auf die er sehr stolz war. Gleich wird er in die kleine, an den Laden angrenzende Küche gehen und noch bevor er die Ware an die Kunden ausliefert frühstücken. »Zwei Scheiben Brot, natürlich von gestern oder vorgestern, nur Idioten, die Bauchweh riskieren, essen frisches Brot«, sagte er immer, dazu eine Schale Milchkaffee. An Sonntagen kochte ihm seine Frau ein Ei, manchmal gab es sogar Speck, aber nur manchmal. Viel zu selten in der letzten Zeit.

Die schütter gefüllte Zigarette brannte schnell ab. Noch ein, zwei Züge, dann war sie aus. Während er sie mit dem Schuh auf dem Boden löschte, erblickte er seinen Sohn, wie er am Nussbaum mit Lina stand und sie zu küssen versuchte. Er ist genauso ein Draufgänger wie ich früher, dachte der Alte. Der Junge soll sich die Hörner abstoßen, bevor er einmal eine Familie gründet. Lina wäre keine schlechte Partie. Hilde wird eines Tages wieder zu ihrem Mann nach Berlin fahren, hoffentlich für immer, und die Kleine das Haus und die Bäckerei erben. Und es würde nicht lange dauern, dann sind wir, die Fischers, die Herren im Haus.

Mit einem zufriedenen Lächeln ging er in die kleine Küche, wo seine Frau mit frisch aufgebrühtem Kaffee auf ihn wartete.