Noch bevor Lina ging, haben Hilde und sie ausgemacht, dass Lina, wenn sie einmal schreibt, zur Tarnung einen anderen Namen verwenden soll. Egal welchen, die Tante würde ihre geliebte Nichte schon erkennen. Und als der erste Brief aus Prag kam und auf der Rückseite des Kuverts der Name Elisabeth Bauer stand, wusste Hilde sofort, dass auch die darunter stehende Adresse falsch war. Nur die Nachricht war echt.
Wie oft hat sie daran gedacht, dass Lina einmal von der Polizei gefunden und verhaftet werden könnte? Wie oft hat sie daran gedacht, dass sie selbst als Mittäterin entdeckt und zur Verantwortung gezogen werden könnte? Und sie hätte auch mit allem gerechnet, nur nicht mit Linas Tod. Und auch wenn sie sich ihr Alter ausgerechnet hätte, sie wäre heute etwas über 80, müsste sie doch am Leben sein. Was sind heutzutage 80 Jahre? Die Menschen leben 90, 95 Jahre und mehr. Sie selbst und ihr Karl sind der beste Beweis dafür.
Als der Krieg zu Ende ging und Lina sich nicht mehr meldete, vermutete Hilde, dass es ihr gut ging. Sie hat wahrscheinlich ihren Jozef, von dem sie in ihrem letzten Brief geschwärmt hatte, in aller Stille geheiratet, mit ihm ein paar Kinder bekommen und ist inzwischen sicher mehrfache Großmutter, vielleicht sogar Urgroßmutter. Nach Fischbach zu kommen, wäre für sie gefährlich gewesen, alle würden nach Hubert fragen, der Fall müsste neu aufgerollt werden und damit geriete auch Hilde in Erklärungsnotstand.
Hilde sitzt vor den beiden Briefen von Lina. Ihre geliebte Lina, ihre Nichte, der sie ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Schwester Mutter sein durfte. Zwei Briefe. Die kleine, nach rechts geneigte Schrift, dunkelblaue, fast schwarze Tinte, ein paar braune Altersflecken auf dem brüchigen Papier. Hilde führt die Briefe zum Gesicht, riecht daran, glaubt den Geruch Linas daran wahrzunehmen. Kurz überlegt sie, Karl die schlimme Nachricht von ihrem Tod zu überbringen, überlegt es sich aber. Wie soll sie ihm erklären, dass sie nicht nur von Linas Flucht nach Prag, sondern auch von der Tragödie wusste, die sich am Vortag ihrer Abreise im Haus abgespielt hatte?
Markus und Milli haben im Internet ein paar Artikel gefunden und für sie ausgedruckt. Unglaublich, was den beiden gelungen ist. Sie sind nicht nur fähig, sich in den Weiten des World Wide Web zurechtzufinden, sondern auch intelligent. Dafür bewundert sie sie. Was der Polizei und der Gestapo damals nicht gelungen war, entdeckten die zwei jungen Menschen relativ schnell. Sie zählten eins und eins zusammen, spielten mit den Namensmöglichkeiten, erkannten die Zusammenhänge und fügten alle Wissenssplitter zusammen, die sie zum Ziel führten. Es war nur logisch, dass Lina nach allem, was in Fischbach passiert war, ihren Namen geändert hatte. Aus Karolina, Lina, ist Šárka geworden, aus Biehler Zahradníková. Mit dem Nachnamen ihres unbekannten Vaters, den sie in der Umgebung von Prag zu finden versuchte, konnte sie in Tschechien leicht untertauchen. Wahrscheinlich erzählte sie, sie habe ihre Papiere verloren, oder tischte der Arbeitgeberfamilie eine andere Lüge auf. Egal. Es hatte funktioniert.
Hildes Hand zittert, als sie nach den Ausdrucken greift. Dass Lina tot sein sollte, weiß ihr Gehirn, ihre Seele hat es aber noch nicht begriffen. Als Milli vorhin sagte, Lina sei nicht mehr am Leben, dachte Hilde, selbst auf der Stelle tot umzufallen. Wahrscheinlich wäre es das Beste. Nach hinten fallen, Augen verdrehen, Atem einstellen, Licht aus. Der unendlichen Scham, die sie in dem Moment befiel, entkommen. Aber jetzt, wo sie wieder allein ist, werden ihre Gedanken klarer. Sie fühlt sich stärker und ist vor allem entschlossen, die Artikel zu lesen. Vielleicht ist es ein Irrtum, sicher sogar, warum sollte Lina jetzt auf einmal tot sein? Sie war doch nie krank. Und Karolina, Karola, auch Šárka, sind in Tschechien häufige Namen, und Zahradník, Zahradníková, das konnte doch alles nur ein Zufall sein.
Hilde blättert kurz die Artikel durch, sortiert die deutschen Originale und die Übersetzungen aus dem Tschechischen, entscheidet sich für einen Artikel aus der »Budweiser Zeitung«, der auf Deutsch erschienen war.
Budweiser Zeitung, 17. Mai 1944
Aus dem Gerichtssaal
Am Montag wurde bei Kreisgericht in Wodniany der Mord verhandelt, den Jozef Kaspar, 22 Jahre alt, Gießer, wohnhaft ebendort, im Ort ansässigen Sägewerk an der 18-jährigen Šárka Zahradníková, Dienstmädchen, wohnhaft in Prag, Holešovice, verübt hat.
Laut Gerichtsprotokoll ist Kaspar am Samstag, dem 20. März, zum Bahnhof gegangen, um seine Geliebte Šárka Zahradníková abzuholen. Unterwegs sagte Zahradníková, sie müsse noch kurz in die Stadt gehen, um etwas zu erledigen. Die beiden trennten sich, aber Zahradníková kam etwa nach einer Stunde in das Wodniany-Sägewerk, wo Kaspar sie schon erwartet hatte. Dort sagte sie ihm, dass sie von ihm schwanger sei und gern wissen würde, wie er dazu stehe und ob er sie nun heiraten werde. Kaspar tat sehr überrascht und behauptete, dass das Kind nicht von ihm sein könne. Daraufhin meinte Zahradníková, sie werde zu Kaspars Mutter gehen und ihr alles erzählen. Als er das gehört hatte, wurde Kaspar sehr wütend. »Bevor ich zulasse, dass du zu meiner Mutter gehst, bringe ich dich lieber um«, sagte er. So kam es zum Streit, bei dem Kaspar Zahradníková am Hals packte und fest zudrückte. Als sie nicht mehr atmete, ließ er sie zu Boden fallen. Dann zog er ihr die Kleider aus, die er verbrannte. Die Leiche warf er in die Grube unter der Säge, die für die abfallenden Sägespäne vorgesehen war. Er stieg hinunter in den Hohlraum, vergrub die Tote ganz unten, häufte die Holzspäne über sie und ebnete die Oberfläche mit seinen Tritten. Dann ging er nach Hause.
Er wusste aber nicht, dass Zahradníková vorhin aus der Stadt ihre Freundin B.S. abgeholt hatte, die sie bat, vor dem Sägewerk auf sie zu warten. Als die junge Frau nicht kam, ging die Freundin auch nach Hause, suchte aber am nächsten Tag Kaspar auf und fragte ihn, wo Šárka geblieben sei. Er meinte, sie war noch mit dem Abendzug nach Prag zurückgefahren, wo sie als Dienstmädchen bei der Familie H. gearbeitet hatte. Da sie aber auch dort nicht angekommen war, meldete sie die Familie als vermisst.
Drei Wochen nach der Tat entdeckte ein Sägewerkarbeiter im Hohlraum unter der Säge zuerst eine menschliche Hand, später die ganze, verweste Leiche einer jungen Frau. Nachdem der Leichnam identifiziert worden war, verhaftete die Gestapo Jozef Kaspar. Er leugnete zuerst die Tat, dann gab er den Mord an seiner Geliebten zu.
Kaspar wurde einstimmig schuldig gesprochen und zu zwölf Jahren Haft unbedingt verurteilt.
Šárka Zahradníková wurde am vergangenen Donnerstag, fast sechs Wochen nach ihrer Ermordung am Friedhof in Holešovice begraben.
Hilde sitzt wie versteinert da und kann nicht glauben, was sie gerade gelesen hat. Lina wurde ermordet und liegt schon seit Jahrzehnten unter der Erde in Prag-Holešovice, wo sie niemanden aus der Familie hat. Keinen, der sie an ihrem Geburtstag, an Weihnachten oder an Allerheiligen besucht, keinen, der ihr Blumen bringt, keinen, der für sie und ihre Seele eine Kerze anzündet. Wer weiß, ob es das Grab noch gibt. Sicher nicht, überlegt Hilde, wenn keiner das Grab pflegt und die Grabgebühr bezahlt.
Und wer verdammt ist dieser Jozef Kaspar? Ist das der Jozef, vom dem Lina damals geschrieben hat? Ihre große Liebe? Aber was ist das für ein Mann, der ein junges Mädchen schwängert und sich dann weigert, dafür die Konsequenzen zu tragen? Und dann hat er noch Angst vor seiner Mutter. Der Feigling!
Wie konnte das nur passieren? Wieso hat die Polizei nicht nach Linas Angehörigen gesucht? Und dann fällt Hilde Linas neue Existenz ein, zu der mit Sicherheit auch die Lüge der verlorenen Ausweispapiere gehörte, die sie in Wirklichkeit aus Angst wegen der Sache in Fischbach vernichtet hatte. Aber wieso hatte Hilde nicht gespürt, dass ihr Linchen in Gefahr war?
Das alles ist zu viel für die alte Frau. Sie nimmt eine Schlaftablette, legt sich angezogen ins Bett, zieht die Bettdecke über sich und hofft nie mehr aufzuwachen.