Lieber Papa,
die Unglücke im Haus hören nicht auf. Du kannst es mir glauben – ich kann nicht mehr. Wirklich nicht. Lina ist weg. Von heute auf morgen. Vor drei Tagen habe ich ihr Bett in der Früh unbenutzt gefunden. Und was noch merkwürdiger ist, auch der Hubert Fischer ist nicht mehr da. Alle sagen, die zwei seien durchgebrannt, aber mein Verstand weigert sich, diese Information anzunehmen, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass sie ihn so sehr liebte, dass sie mit ihm das Weite suchen würde. Wie er zu ihr stand, das wissen wir. Sie gefiel ihm. Das ja. Aber sie war doch noch ein Kind!
Der alte Fischer ist fast verrückt geworden, als er es mitbekommen hat. Er schrie mich an, warf mir an den Kopf, dass Lina seinen wunderbaren, perfekten Sohn verführt und von der Militärpflicht abgehalten habe. Du musst wissen, der Hubert hatte schon den Einberufungsbefehl und sollte, weil er gerade 18 geworden war, in zwei Wochen einrücken, aber jetzt fehlte von ihm jede Spur. Alle im Dorf sagten, er sei ein Deserteur, ein Feigling, und das stieß dem Alten ganz schön auf. Sein Sohn sei kein Feigling, er wolle sich dem Dienst stellen und dem Vaterland dienen, brüllte er überall herum, aber es nutzte ihm gar nichts. Die Polizei war da, sogar die Gestapo, sie haben jeden Millimeter von unserem Anwesen durchsucht, sogar die zugemauerte Tür im Keller haben sie aufgebrochen, aber von den beiden fehlte jede Spur. Ich hörte, wie sie sagten, die Meldung gehe an alle Grenzstellen, wenn sie ihn erwischen, werden sie ihn vors Militärgericht bringen.
Ich mache mir solche Sorgen um mein Mädchen, der junge Fischer ist mir herzlich egal, aber wenn sie sich in ihn so sehr verliebt hat, dass sie mit ihm davonrennt, nur damit er nicht einrücken muss, bin ich nicht nur überrascht, sondern auch schockiert. Und wenn einer den anderen überredet hat, dann war das sicher der Hubert, der Lina den Blödsinn eingeredet und sie dadurch ins Unglück gestürzt hat.
Jeden Abend bete ich für sie, sie soll die Liebe und Sicherheit, die sie sich wünscht, finden, und wenn ich nicht mehr zu ihrem Leben gehören soll, ist es mir auch recht, wenn sie nur glücklich und zufrieden ist.
Deine Dich immer liebende Hilde
P. S. 1: Trudi ist gesund und putzmunter und fragt ständig nach Dir. Und sie schickt Dir viele Bussis genauso wie ich.
P. S. 2: Erinnerst Du Dich, wir haben uns immer gefragt, was hinter der zugemauerten Tür im Keller sein könnte? Und weißt Du, was dort war? Nichts. Nur Steine und Schotter.