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MOSBACH, 16. SEPTEMBER 1944

Karl Dorn sitzt auf der Wiese unter einer großen Linde, in den Händen hält er ein Stück Papier und einen Stift. Er möchte seiner Frau schreiben, sich mitteilen, seinen Frust von der Seele schreiben, schafft es aber nicht. Jeden Tag hört er »wir sollen, wir müssen« oder »die Arbeit adelt den Menschen«, aber langsam vergeht ihm der Glaube an solche Sprüche, denn wie soll er an die Zukunft denken, wenn er nicht weiß, was am Abend, was morgen geschehen wird. In drei Monaten hat er seinen 28. Geburtstag. Seit vier Jahren ist er verheiratet und Vater und traut sich nicht, an die eigene und die Zukunft seiner kleinen Familie zu denken, Pläne zu schmieden, sich auf das Leben zu freuen, das sie alle erwartet.

In den ölverschmierten Gesichtern seiner Arbeitskameraden sieht er auch sein eigenes Gesicht. Erloschene Augen, hängende Mundwinkel, frühzeitig gealterte Greise, die laut ihrem Geburtsdatum voller Elan sein müssten.

Im Radio sprechen sie immer noch von der großen Zukunft und dabei wissen alle, dass die Deutsche Armee bei Stalingrad eine große Niederlage erlitten hat und die Front sich in Richtung Westen bewegt. Karl liegt es auf der Zunge, kann es aber weder aussprechen noch seiner Hilde schreiben: »Ich habe Angst. Und ich misstraue der großen Zukunft, von der hier alle reden. Mir wäre eine kleine Zukunft mit dir und unserer kleinen Trudi viel lieber.« Stattdessen greift er zum Stift und schreibt nieder, was zwar auf seiner Seele brennt, aber nichts vom Staatsgeheimnis verrät.