image

FISCHBACH, 6. SEPTEMBER 2008, NACHMITTAG

Karl liegt im Bett und rührt sich nicht. Hilde sitzt an seiner Seite und hält seine Hand. Hinter dem Fenster sieht man gerade einen Rettungshubschrauber auf dem Krankenhausdach landen. »Es war zwar nur ein leichter Schlaganfall«, sagt der Arzt, der am Ende des Bettes steht, laut, um den Lärm vom draußen zu übertönen, »aber es ist trotzdem ernst.« Er runzelt die Stirn, dann fährt er fort: »Frau Dorn, ich glaube, Ihr Mann wäre besser auf einer Pflegestation versorgt.«

»Wieso? Er hat es doch zu Hause gut.«

»Gut, aber nicht gut genug. Ab jetzt braucht er professionelle Betreuung.«

Hilde presst ihre Lippen zusammen, dann sagt sie leise: »Wenn Sie meinen«, aber ihre Körperhaltung deutet Abwehr an.

»Was soll ich machen?«, wimmert sie auf dem Nachhauseweg. »Wir haben es uns versprochen, dass wir bis zum Schluss zusammenbleiben werden. Das würde mir mein Mann nie verzeihen, wenn ich ihn in ein Heim abschiebe und ich selbst im Haus bleibe.«

»Und wenn Sie zusammen in ein Heim ziehen?«, fragt Milli, als sie wieder zu Hause sind. »Da gibt es schöne Möglichkeiten, zum Beispiel Zweizimmerapartments, eingerichtet mit eigenen Möbeln.«

»Fangen Sie auch schon damit an?«

»So wäre vieles leichter für Sie.«

»Warten wir ab, bis Karl zu Hause ist. Ich muss mit ihm reden. Allein.«

Unsere Leben haben sich durch Karls Krankheit voneinander gelöst, denkt Hilde. Sie haben verschiedene Richtungen angenommen, man kann sie nicht zwingen, beieinander zu bleiben. Es ist höchste Zeit, sich damit abzufinden. Hilde spürt, wie der letzte Widerstand in ihr schwindet, wie sehr sie das Geheimnis gerade jetzt, nach so vielen Jahren, wieder belastet.

Energisch geht sie zu der Kiste mit den Briefen und nimmt den nächsten in die Hand. Bevor Karl aus dem Krankenhaus entlassen wird, möchte sie sie alle durchgelesen haben. Und danach wird sie handeln und Licht in das Dunkel der fernen Vergangenheit bringen.