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FISCHBACH, 24. DEZEMBER 1944

Als Hilde in der Früh aufwachte, galt ihr erster Gedanke ihrem Mann Karl. War er schon unterwegs oder musste er in Mosbach bleiben? Bombardieren die Amerikaner den Stollen und die Städte rundherum? Bombardieren sie die Züge, die die Menschen nach Hause bringen? Was ist mit dem Weihnachtsfrieden? Wann hört das Töten endlich auf?

»Mama, Mama!«, aus dem Zimmer meldete sich ihre fast vierjährige Tochter Trudi. Hilde lief zu ihr und hob sie aus ihrem Bett. »Guten Morgen, mein Engelchen.«

»Ist der Papa schon da?«, fragte das kleine, blondgelockte Mädchen und sah sich hektisch um. »Wo ist er?«

»Nein, der Papa ist noch nicht da. Er kommt später. Vielleicht.«

»Wann später?«

»Weißt du was? Wir holen uns aus dem Wald einen Christbaum und werden ihn schön schmücken. Und wenn der Papa kommt, dann wird auch das Christkind nicht mehr weit sein. Freust du dich schon auf das Christkind?«

»Ja! Wo ist es?«

Hilde ließ ihre Kleine behutsam aus den Armen, die gleich in die Küche lief, und ging ihr nach. Das Erste, was sie sah, war der aufgeblühte Weihnachtskaktus auf der Kommode neben dem Fenster. Der Kaktus hatte Elfi gehört und blühte schon zum zweiten Mal nach ihrem Tod pünktlich am Heiligen Abend. Unzählige rötliche Blüten, feurig und dominant, genauso wie ihre Schwester. Sie ist da, war Hilde überzeugt. Elfi möchte mit uns feiern. Und auch Lina. Sie beide sind bei uns.

Hilde half ihrer kleinen Tochter sich an den Tisch zu setzen, band ihr ein Lätzchen um und servierte ihr das Frühstück: Haferbrei und Tee, dazu ein Stück Brot. Trudi biss vom Brot ab, kniete sich auf die Sitzbank und stützte ihre Unterarme auf die Fensterbank. »Schau Mama, wie schön!«, rief sie und zeigte auf die Eisblumen an der kleingetäfelten Fensterscheibe. Mit der Fingerkuppe fuhr sie über das eiskalte Muster, das unter ihrer Wärme zu tauen begann, und so kleine Flecken in die Eiskristalle schmolz. Bald fand Trudi Gefallen an dem Spiel und hauchte die Fensterscheibe an, die sich an den erwärmten Stellen klärte und den Blick hinaus gewährte. Mit platt gedrückter Nase sah sie in den Hof, der unter einer dicken Schneedecke lag. »Mama, gehen wir heute rodeln?«, fragte sie.

»Ist genug Schnee draußen?«

»Oh ja, sehr viel. Der ganze Hof ist voll davon.«

Die morgendliche Düsternis ging in eine winterliche, anthrazitgraue Dunkelheit über. Hilde beugte sich zu ihrer Tochter und sah hinaus. Vor der Bäckerei sah sie den alten Fischer stehen und rauchen. Seit dem Verschwinden seines Sohnes war er nicht gut auf Hilde zu sprechen. Er konzentrierte seinen ganzen Schmerz auf Hilde, die seiner Meinung nach die meiste Schuld an der Misere trug. »Hättest du und deine Schwester die Göre zu einem anständigen Madl erzogen, wäre so etwas niemals passiert«, zischte er ihr immer wieder entgegen. »Hubert ist ein echter Kerl und Patriot dazu. Er wäre niemals von allein davongelaufen. Das Flitscherl hat ihn dazu überredet.«

Seit dem besagten Tag mied Hilde den alten Bäckermeister, der mit seiner Frau und einem Gesellen Tag für Tag Brot und Gebäck backte und in die umliegenden Dörfer auslieferte. Sein Sohn Paul war nicht nur zu jung dazu, um in der Bäckerei ernsthaft mitzuhelfen, sondern auch nicht gerade klug und geschickt genug, um ein solides Handwerk zu erlernen. Er lief nur herum, machte ständig Unsinn, ärgerte alle Lehrer und Nachbarn mit seinen dummen Aktionen. »Er ist kein Lausbub, sondern ein ausgewachsener Trottel«, schrie Hilde dem Fischer nach, wenn er seinen missratenen Sohn zu verteidigen versuchte.

Ansonsten kam es sehr selten zu Begegnungen zwischen den beiden. Bevor Hilde in den Hof ging, sah sie meistens aus dem Fenster, ob die Luft rein war, und erst dann schlich sie sich hinaus. Obwohl sie und Karl nach Elfis Tod die Alleinbesitzer des Hauses waren, spürte sie Fischers Übermacht und benahm sich in seiner Gegenwart wie ein scheuer Gast, der möglichst bald geht.

Sollten wir jemals einen Sohn bekommen, schwor sie sich, wird er mit 14 Jahren eine Lehre beginnen und die Bäckerei so bald wie möglich übernehmen. Hilde, der Tradition verpflichtet, konnte sich nichts anderes für einen männlichen Nachkommen vorstellen. Und auch wenn sie sich so sehr ein zweites Kind wünschte, wusste sie ganz genau, dass der Krieg keine gute Zeit für dieses Vorhaben war.

Die Wolken hingen sehr tief über dem Traisental. Es begann wieder dicht zu schneien. Hilde heizte den Ofen in der Stube ein und stellte darauf einen Topf mit Kartoffeln. Dann holte sie aus dem Schrank einen Karton mit Weihnachtsschmuck heraus und breitete Strohsterne, vergoldete Nussschalen und Wichteln aus Tannenzapfen auf dem Tisch aus. Trudi kam dazu. Zusammen sortierten sie den Baumbehang, der von Jahr zu Jahr an Glanz verlor, aber immer noch gut zu gebrauchen war. Hie und da nahmen sie neue Schnüre zum Aufhängen, klebten einem Wichtel den abgerissenen Bart an, erneuerten die Farbe der Nussschalen und bastelten aus altem Karton neue Figuren für die Krippe, die alljährlich unter dem Weihnachtsbaum stand und den Frieden in der Seele der Christen symbolisierte. Jedes Jahr das gleiche Ritual, das Hilde schon seit ihrer Kindheit liebte.

Das Feuer im Ofen knisterte und verbreitete wohlige Wärme in der Stube. Der Deckel auf dem Kartoffeltopf begann zu tanzen. »Trudilein, wenn es aufgehört hat zu schneien, gehen wir in den Wald. Suche schon deine Sachen zusammen.«

Trudi brachte aus dem eiskalten Vorzimmer ihre Schuhe, Mantel und Mütze und legte alles auf den Stuhl neben dem Ofen.

»Werden wir einen großen Baum holen?«, fragte sie.

»Nein, nur einen ganz kleinen. Einen, der wild aufgegangen ist.«

»Warum nur einen kleinen?«

»Weil uns der Onkel Fritz nur einen kleinen abzuschneiden erlaubt hat. Aber du wirst sehen, er wird wunderschön werden.«

Hilde hörte ein leises, quietschendes Geräusch und hielt kurz inne. Als kurz darauf Schritte von der Einfahrt zu hören waren, begann ihr Herz zu rasen. Sie lief zur Tür und öffnete sie. Draußen stand ein verschneiter Mann in einem schwarzen Mantel und mit Hut.

»Karl!«, schrie sie auf und warf sich ihm in die Arme.

»Papa!«, rief Trudi und lief zu den beiden.

»Meine Plaudertasche«, hauchte ihr Karl ins Ohr und küsste sie auf beide Wangen.

»Au, Papa, du kratzt«, wandte sich das Mädchen ab und kicherte.