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MOSBACH, BARACKE 17A, 18. FEBRUAR 1945

Karl war in Gedanken versunken. Es tut sich so viel in unserer raschlebigen Zeit, dachte er. Manchmal konnte man es kaum fassen. Gestern hatte er im Radio einen Bericht über den großen Fliegerangriff vom vorigen Samstag auf Berlin gehört. Es waren etwa 1200 Flugzeuge daran beteiligt, davon ungefähr 300 Jäger, die um die Mittagszeit auf die Stadt losgingen. Es wurden hauptsächlich Bomben bis 20 Zentner abgeworfen.

Der Dom ist zerstört, Unter den Linden fast verschwunden. Von der Reichskanzlei sind nur einige Mauern und der Balkon erhalten geblieben. Das berühmte Hotel Kaiserhof liegt in Trümmern. Die Bahnhöfe sind fast alle ausgebombt. Ein schauriges Bild. Viele Flüchtlinge, die in Schulen und Kinos untergebracht waren, konnten sich nicht retten. Man berichtet von hunderttausenden Toten.

Wenn man fast sechs Jahre in Berlin gewohnt hat, überlegte Karl, und so viele Angriffe mitgemacht hat, dann wusste man, was so ein verheerender Angriff bedeutete. Gas und Strom gab es nur mehr sporadisch, kein Brot, keine Kohle, gar nichts. Berlin durfte man jetzt nicht verlassen. Alle Ausfahrten wurden streng kontrolliert. Dass seine Frau und Tochter so weit weg waren, setzte ihm gehörig zu.

Es war schon ein Uhr, und er dachte an den Brief, den er morgen schreiben wollte. Aber womit? Langsam ging ihm die Tinte aus. Man konnte sie nur mehr in Tablettenform kaufen und mit Wasser anrühren. Wenn er aber keine Tinte im Geschäft bekam, tauschte er etwas dagegen ein. Denn das Schreiben, das musste sein.

Gestern erlebte er einen neuerlichen Fliegerangriff, den er nicht noch einmal erleben wollte. Im unterirdischen Werk hatten sie um vier Uhr Feierabend. Karl stempelte ein paar Minuten vor halb fünf. Als er gerade in den Zug einsteigen wollte, da hob ein Brausen an, das klang, als ob auf dem Nebengleis ein Zug anfahren und alle Menschen vor sich herschieben würde. Auf einmal gab es eine Explosion, Leute lagen auf dem Boden, andere trampelten über die Liegenden hinweg und liefen zu allen Seiten. Karl hätten sie auf dem Trittbrett fast zerquetscht. Dann hörte er Maschinengewehrfeuer und begriff, dass Alarm war. Die Arbeiter, die bereits im Zug saßen, verließen ihn und stürmten in den Tunnel. Er aber stieg in den Zug, der daraufhin in den Tunnel fuhr. Und das war seine Rettung.

Gestern hatte er zum ersten Mal in seinem Leben eine Massenpanik erlebt und vor dieser kopflosen Menge, die alles niederwalzte, was ihr in den Weg kam, mehr Angst gehabt als vor dem Angriff selbst. Später erfuhr er, dass es an dem Tag fünf Tote gab. Wäre er nur 20 Minuten früher zur Station gekommen, wäre es viel schlimmer geworden, weil sich die meisten Leute noch auf der Treppe befunden hatten. Die vier schweren Bomber hätten da ganz anders gewirkt.

Daraufhin beschloss er, nicht mehr mit dem Zug zu fahren, sondern zu Fuß zu gehen. Und das auch nicht in der Masse, sondern allein. Wie gern hätte er jetzt seiner Hilde geschrieben, dass der Mensch neben seinem Verstand auch Glück haben muss. Es ging aber nicht. In der Stube war es dunkel. Noch bevor er einschlief, wurde ihm bewusst, dass nichts so sehr die Grenzen der Wirklichkeit verschiebt, wie die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit.