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FISCHBACH, 7. SEPTEMBER 2008, NACHMITTAG

Schon wieder eine unruhige Nacht. Einerseits plagen Hilde Erinnerungen an die Vergangenheit, andererseits hat sie Angst davor, was die kommenden Tage noch bringen könnten. Sie setzt sich im Bett auf. Sie wundert sich, wie viele Türen in ihr früheres Leben aufgehen und sie die Etappen wie unterschiedlich eingerichtete Zimmer betreten kann. Da ist das Kinderzimmer, da die Jugend, da die Blütezeit der Bäckerei, da ihre junge Ehe, da der Krieg. In Gedanken durchschreitet sie die alten Räume, dann fällt ihr auf, dass sie den Weg zurück allein geht. Für ihren Karl scheinen alle Türen verschlossen zu sein. Die Waagschalen des Schicksals sind instabil. Es reicht sie nur kurz anzuschubsen und eine von ihnen neigt sich.

Manchmal, eigentlich viel zu oft in der letzten Zeit, plagen sie im Niemandsland zwischen Traum und Wachsein auch fremde Stimmen. Sie kennt sie nicht und trotzdem kommen sie ihr bekannt vor. Sie spürt die Bedrohung, die von ihnen ausgeht. Sie stoßen sie in die Abgründe ihrer Erinnerung, die sie nie mehr betreten wollte. Einmal musste es doch passieren, einmal würde die ganze Wahrheit ans Licht kommen, einmal würden alle erfahren, dass Lina unschuldig war.

Die Stimmen, die Gesellen ihrer Einsamkeit, Formen ihres früheren Ichs, kommen immer näher, versuchen sie zu überzeugen, dass das, was gerade passiert, seine Richtigkeit hat und im Grunde genommen längst fällig war. Willi ist nicht schuld daran, dass alles in Bewegung kam. Er ist nur der Auslöser und Beschleuniger. Er ist der Zünder der vor Jahren gelegten Lunte. Und Hilde weiß, wenn man sehen will, wo die Wahrheit liegt, muss man zum Anfang zurückgehen.