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FISCHBACH, 7. SEPTEMBER 2008, SPÄTER NACHMITTAG

»Das war Karls letzter Brief«, sagt Hilde, legt das Schreiben zusammen und steckt es ins Kuvert zurück. »Danach kam nur das lange Warten. Aus den Radionachrichten wusste ich, dass die Amerikaner Baden-Württemberg erobert hatten. Mehr nicht.« Die alte Frau reibt ihre Hände aneinander, dann faltet sie sie und hält sie vor ihr Gesicht. »Das Warten und Nichtwissen, wie die Übernahme vor sich ging, ob alle tot waren, ob auch Karl unter den Toten oder Vermissten war, war am schlimmsten.«

Markus und Milli sitzen Hilde am Tisch unter dem Nussbaum gegenüber und starren in ihre Laptops. »Die unterirdische Produktion endete in Mosbach am 23. März 1945«, sagt Milli. »Danach wurden alle Arbeiter entlassen.

»Und hier steht etwas von dem Todesmarsch der Mosbacher KZ-Häftlinge. Am 28. März ging es los. 4000 gehfähige Häftlinge von den Außenanlagen Heppenheim, Bensheim und Neckarelz marschierten zum Bahnhof Waldenburg. Etwa 600 von ihnen haben die Strapazen nicht überlebt und starben an Erschöpfung und Dehydrierung. Von dort ging es mit dem Zug gruppenweise nach Dachau. Manche der Häftlinge mussten die gesamte Strecke nach Dachau zu Fuß bewältigen«, ergänzt Markus.

»Das ist ja schrecklich«, stöhnt Milli und wischt weiter über das Display. »Das sind mehr als 250 Kilometer.«

»Karl hat später von der von den Amerikanern gesprengten Brücke gesprochen. Über die Brücke hat der Zug Häftlinge, aber auch die Arbeiter jeden Tag aus der Stadt zum Stollen gebracht. Sie haben sie in die Luft gejagt, um die Verbindung zwischen der Stadt und der Flugmotorenfabrik zu unterbrechen, die sie am 2. April stürmten. Aber da waren alle längst weg.« Hilde atmet schwer und überlegt, ob sie weitererzählen oder sich lieber zurückziehen soll. Langsam richtet sie sich auf und holt tief Luft. Sie sieht in die Augen der jungen Menschen, die bei ihr sitzen, und sieht sich selbst. Auch sie war einmal jung und wissbegierig. Genauso wie sie.

»Karl ist zuerst ins Flüchtlingslager nach Schwäbisch Gmünd gekommen, danach in ein Strafarbeitslager nach München«, fährt sie fort. »Was er dort gemacht hat, weiß ich nicht. Diese Zeit hat er wie später vieles andere auch in seinem Gehirn ausgelöscht. Vielleicht, weil er mit der neuen Ordnung nicht zurechtkam. Während des ganzen Krieges gehörte er zu den aktiven Befürwortern des NS-Regimes, beteiligte sich an einer wichtigen Kriegsproduktion, glaubte an einen gerechten Krieg und auf einmal war er ein ›Flüchtling‹, einer, der Hilfe von anderen brauchte. Das hat er irgendwie nicht auf die Reihe bekommen.

Der Krieg ist für einen, der ihn durchgemacht hat, etwas Unauslöschliches, etwas, was als Teil seiner Identität für immer bleiben wird. Auch wenn er nie mehr darüber sprach, spürte ich, dass er erkannt hatte, dass er einer falschen Ideologie aufgesessen war. Und er war einer der wenigen, der sich nie ›Opfer‹ nannte, wie es die anderen gern getan haben. Er wusste am besten, dass er es nicht war.

Und auch als er im November 1945 nach Hause kam, war für ihn immer noch nicht Schluss mit dem Krieg. Seine Haut war von den vielen Zigaretten gelb und wirkte ledrig und gegerbt. Seine Lungen und Bronchien waren krank. Er hüstelte oft, krächzte, würgte und rang nach Luft. Und trotzdem legte er sich nicht ins Bett, ging ständig rastlos umher, als ob er etwas suchen würde.

Und weil er als Mitläufer, so wurden die Rückkehrer damals bezeichnet, auf der falschen Seite war, musste er am Bahnhof St. Pölten und an mehreren Stellen in der Stadt Strafarbeiten verrichten. Aber das alles störte ihn nicht. Er war froh, dass das sinnlose Töten endlich vorbei war, dass wir wieder als Familie zusammenleben konnten, dass unsere kleine Tochter ihren geliebten Papa bei sich hatte, und was für ein Glück, dass ich kurz nach seiner Heimkehr erneut schwanger wurde.

Alles hätte gut sein können, wenn ihn nur die dunkeln Schatten der Vergangenheit nicht verfolgt hätten. Am Tag spielte Karl den starken Mann, der im Krieg seine Verdienste hatte, einen anspruchsvollen Beruf ausübte, sich in den schwersten Situationen zurechtfand, der sich anpassen konnte und nie jammerte. Aber nachts, wenn er schlief, nahmen die bösen Geister Besitz von ihm, rüttelten an ihm, rissen ihn aus dem schweißgetränkten Schlaf. Nacht für Nacht schrie er, verteidigte sich vor dem Tribunal, das nur er sah und fürchtete.

›Ich bin ein Nazi, den alle verurteilen und bestrafen wollen‹, sagte er mir manchmal. ›Ich bin der Mann, der Flugzeugteile zusammenschraubte, Kolben einrichtete, sie ölte und in Gang setzte, der alles zu einem Ganzen führte. Ich bin der Mann, der Motoren für unzählige Silbervögel erstellte, die das Werk täglich verließen, um in Jagdbombern eingesetzt zu werden, der Mann, der für all das verantwortlich war. Flugzeuge, die nur einen Zweck hatten – Menschenleben auszulöschen. Ich war ein Teil einer Tötungsmaschinerie, Hilde‹, weinte er oft und legte dabei seinen Kopf in meinen Schoß. ›Ich bin ein Mörder und ich hasse es, ein Mörder zu sein. Ich bin ein Täter, der schuldig ist und trotzdem versucht den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aber glaube mir, meine Liebste, obwohl ich täglich in den Daimler-Hallen schuftete, meinen Rücken über dem kalten Eisen bückte, scharfes Motoröl roch, mir die geröteten Augen rieb, weil das Licht so schwach war, und ständig blinzelte, dachte ich an den Weizen, der gerade auf unseren Feldern reif geworden war, den roten Klatschmohn und die himmelblauen Kornblumen gleich hinter dem Haus. Ich sah, wie sich die Ähren im lauen Wind bewegten, sanfte Wellen schlugen, stellte mir vor, wie du das Korn mit den Erntehelfern schneidest und drischst. Alle waren da, nur ich, der Ehemann und Vater, nicht.‹

Von Anfang an begann Karl, als ob er die versäumte Zeit aufholen wollte, etwas im Haus zu reparieren – unsere Fahrräder, meine Nähmaschine, die Wasserpumpe im Hof. Obwohl er abgemagert und kränklich war, konnte er nicht entspannen. Mir kam es vor, als hätte er die nervöse Geschäftigkeit aus dem Werk nach Fischbach mitgenommen. Alles musste schnell und zügig gehen. Er bewegte sich im Haus wie ein Fremder, der sich nicht wohlfühlt und deshalb so schnell wie möglich arbeitete, damit er bald verschwinden konnte.

In seinen Briefen schrieb er nie über die KZ-Häftlinge, erst später erzählte er mir, wie er sie die steile Treppe in den Stollen steigen sah. Die Facharbeiter und die Häftlinge, das waren zwei Welten, die einander nie begegnen durften. Jeden Tag gingen zuerst die Häftlinge ins Werk und erst als sie in der Dunkelheit des Tunnels verschwunden waren und die Wärter die Absperrungen errichtet hatten, traten die Mechaniker an ihre Werkbänke. Jeden Tag das gleiche Bild und jeden Tag kein Funke des Mitgefühls. ›Mitgefühl ist nicht gut fürs Überleben‹, sagte mein Mann. ›Jeder ist sich selbst der Nächste.‹

Aber egal, was ihr jetzt denkt, mein Karl war kein gefühlloses Ungeheuer, dem alles egal war. Vielmehr war er einer, der, um zu überleben, sich nur auf seine Sache konzentrieren und alles andere ausblenden konnte. Und als endlich alles vorbei und er in seinem Heimatdorf in Sicherheit war, zogen die Schreckensbilder vor seinem inneren Auge vorbei, wie die SS-Soldaten, die ihn exekutieren wollten.

›Hilde, warum habe ich damals nichts dagegen unternommen?«, fragte er mich einmal. ›Wie konnte ich es nur so lange aushalten? Warum bin ich nicht schon viel früher zu euch nach Fischbach zurückgekommen? Meine Liebste, jetzt weiß ich, wie sehr du mich gebraucht hättest.‹

Ja, ich hätte meinen Mann in den Jahren seiner Abwesenheit sehr gebraucht. Vor allem als Elfi starb und Lina und Hubert verschwanden. Als die Polizei bei uns ein- und ausging, die Gestapo das Haus auf den Kopf stellte, die zugemauerte Tür im Keller aufbrach und dahinter nichts fand, als mein Herz vor Panik raste und sich nicht einmal in der Nacht beruhigte, als die Nachbarn tuschelten. Ja, ich hätte meinen Mann sehr gebraucht, wollte ihn aber nicht belasten, weil ich spürte, wie schwer er es in Hitler-Deutschland hatte, wie sehr er an dem Widerspruch zwischen gute Arbeit verrichten und Töten litt, wie sehr er sich anstrengte, das Böse nicht zu sehen. Zum damaligen Zeitpunkt konnte ich ihm nicht sagen, was in unserem Haus in Wirklichkeit passiert war, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte und am ganzen Körper zitterte. Irgendwann, schwor ich mir, würde ich ihm alles beichten, und war mir sicher, er würde mich verstehen. Aber ich habe in all den Jahren nie den Mut gefunden, meinen Mann zum Verbündeten zu machen.«

Hilde ist müde vom Erzählen und rutscht unruhig auf dem Sessel hin und her. Plötzlich steht sie auf, kreist mit ihren Schultern, dehnt ihren Nacken. Man sieht es ihr an, dass sie gern aufhören würde, sie überwindet sich aber und setzt sich wieder nieder.

»Am 8. Mai kapitulierte Deutschland«, sagt sie erschöpft, »aber für die kleinen Leute ging der Krieg weiter. Am 14. Mai fanden zum Beispiel fünf Buben aus Fischbach in der Au eine deutsche Panzerfaust. Sie ahnten, dass das Geschoß scharf sein könnte, und legten es vorsichtig auf den Boden. In dem Moment wurde der Zünder aktiviert, die Panzerfaust detonierte und riss die fünf Kinder zu Boden. Vier von ihnen waren auf der Stelle tot. Der fünfte Bub schleppte sich schwer verletzt zur Traisenbrücke, um Hilfe zu holen. Dort brach er bewusstlos zusammen. Heute steht auf der Stelle ein Denkmal. Vier Marmorblöcke mit vier Namen: Alfred, Anton, Otto, Franz.

Erst als unser Karli am Ende des Sommers 1946 zur Welt kam, versöhnte sich mein Mann mit seinem Schicksal. Ab dem Moment sprach er nie wieder über seine Arbeit in Ludwigsfelde und schon gar nicht über seinen unterirdischen Einsatz in Mosbach. Langsam glaube ich, dass auch seine Demenz ein Teil seines Plans war, alles zu verdrängen und zu vergessen.

Aber worüber er immer wieder gern sprach, war unsere gemeinsame Zeit in Berlin. Wir waren jung und verliebt und wir bekamen unser erstes Kind. Wenn ich heute daran zurückdenke, gehört Berlin, auch wenn es für mich eine fremde Stadt war und ich an schrecklichem Heimweh litt, zu unseren schönsten gemeinsamen Jahren. Wenn der Krieg nicht gekommen wäre und eine meiner Schwestern das Haus gekauft hätte, wären wir dortgeblieben. Ich hätte mich an die Stadt gewöhnt, hätte wahrscheinlich auch die Berliner Sprache angenommen, vielleicht wäre aus mir eine echte Berliner Schnauze geworden, ich hätte mir dort ganz sicher Freundinnen gefunden. Die Familie hätte uns ab und zu besucht, und wir wären auch mindestens einmal im Jahr nach Fischbach gereist. Wir wären halt die Berliner gewesen.

Genauso wie ich mein Geheimnis all die Jahre nicht preisgab, trug auch Karl seine Erlebnisse aus der Grube fest verschlossen in sich. Als unser Karli etwa in die vierte Klasse ging, fragte ihn die Lehrerin, ob sein Vater in die Schule kommen und über den Krieg erzählen möchte. Karl verneinte resolut. Er lasse sich nicht vorführen, sagte er, nicht ausfragen, er wolle nicht wie ein Papagei etwas vom Weltfrieden plappern. Das haben schon viele vor ihm getan, den Helden gespielt, eigene Verdienste betont, gelogen, dass sich die Balken nur so bogen.

Mein Mann verspürte keine Lust, in seiner Vergangenheit zu wühlen, seine Familie brauchte nicht stolz auf ihn zu sein, keiner brauchte ihm eine Medaille an die Brust zu heften. Er hat nur seine Pflicht getan, und er hat den Krieg nicht deswegen überlebt, weil er besonders schlau war, sondern ganz einfach, weil er Glück hatte. Und auch als er kurz nach seiner Rückkehr aus Mosbach an Tuberkulose erkrankte, die immer wieder seine angegriffenen Lungen überfiel und ihn schließlich zum Invaliden machte, blieb er bescheiden und beschwerte sich nicht. Das hatte er sich selbst eingebrockt, er hatte freiwillig bei der Operation Goldfisch mitgemacht, damit musste er jetzt fertigwerden.

Dass er aber trotz allem unsere Briefe aufgehoben hat, bedeutet nur eines – sein Plan war, sie der Nachwelt zu hinterlassen. Karl überließ nichts dem Zufall. Er wollte unbedingt, dass unsere Kinder und ihre Kinder sie lesen und als Mahnung verstehen.«

Milli und Markus hören Hilde mit angehaltenem Atem zu. Hin und wieder berühren sie einen der Briefe, schlichten sie, legen sie in Stapeln zurück in die Kiste auf dem Tisch. »Frau Dorn, Sie meinen, Ihr Mann hinterließ die Briefe als Vermächtnis? Ich meine nicht nur für die Familie, sondern für alle Menschen?«, fragt Markus. »Das würde aber bedeuten …«

In dem Moment läutet es am Tor. Hilde, Markus und Milli schauen einander an und wissen ganz genau, wer es ist. »Auch das noch. Opa«, entfährt es Milli. »Frau Dorn, ignorieren wir ihn oder darf ich ihn reinlassen?«

Hilde presst die Lippen aufeinander und nickt. »Warum eigentlich nicht? Er soll sich das ruhig anhören.« Milli steht auf und rennt zum Tor. Kurz darauf schreitet Willi Hammer über den Hof in Richtung Tisch unter dem Nussbaum: »Einen schönen Nachmittag, ich habe euch etwas mitgebracht.« Aus der Tasche zieht er eine Mappe mit fotokopierten Zeitungsausschnitten.

»Willi, hörst du nie damit auf?«, stöhnt Hilde.

»Warum sollte ich? Jetzt wird’s richtig interessant. Nachdem Milli und Markus deine Nichte gefunden haben, ließ es mir keine Ruhe und so durchforstete ich das Stadtarchiv. Ich habe dort einen Kumpel, der mir zur Hand ging, und ich habe herausgefunden …«

»Halt endlich den Mund, Willi!«

»Wieso? Willst du nicht wissen, was ich herausgefunden habe?«

»Opa, ist schon gut«, mischt sich Milli ein.

»Herr Hammer, wollen Sie, dass uns die Frau Dorn vor lauter Stress, den Sie hier verbreiten, wieder umkippt? Wollen Sie das wirklich?«

»Nein, natürlich nicht, aber …«

Markus’ Handy läutet. »Ja, ja … ja. Heute. In einer halben Stunde. Gut. Ich sage es Frau Dorn. Wir sind vorbereitet. Ich mache schon das Tor auf.« Markus steht auf. »Frau Dorn, das Spital hat angerufen. Sie bringen gleich Ihren Mann nach Hause.«

Zum Glück haben wir noch einen Zivildiener, der uns hilft, denkt Hilde, aber wie wird es in ein paar Wochen sein? Sie schaut Markus nach, wie er das große Tor öffnet, damit der Rettungswagen bis in den Hof fahren kann. Sie hört seine Sneakers auf dem Pflaster quietschen, sieht Schwalben, die sich auf ihre lange Reise vorbereiten, entdeckt die ersten gelben Blätter am Nussbaum. »Wollen wir Tee trinken?«, fragt sie. »In der Speis ist noch Apfelkuchen, den Vroni gestern gebacken hat.«

Milli trägt ein großes Tablett hinaus und stellt es auf den Tisch. »Der Tee ist gleich fertig«, verkündet sie. »Mag vielleicht jemand Kaffee?« Man könnte meinen, eine Jause unter Freunden findet gerade im Garten statt, aber Hilde weiß, dass dem nicht so ist. Nicht sein kann. In ein paar Minuten wird nichts mehr so sein, wie es einmal war, denn sie hatte sich entschieden.

Jetzt, genau jetzt, nachdem ihr Mann wieder bei ihr ist und freundlich in die Runde lächelt, sogar mit den jungen Menschen am Tisch scherzt, ist die Zeit reif. Sie legt das letzte Stück Kuchen auf Karls Teller, schenkt ihm noch etwas Tee ein, richtet die Serviette, die er um den Hals gebunden hat.

»Es geschah am 29. September 1943«, sagt sie. Vier Augenpaare schauen sie erwartungsvoll an, Karl beschäftigt sich mit dem Kuchen, den er auf dem Teller zerbröselt. »Es war ein Mittwoch oder Donnerstag, jedenfalls Mitte der Woche, daran erinnere ich mich genau. Vor allem das Datum kann ich nicht vergessen. Lina und ich pflügten den ganzen Tag den Traisen-Acker um und arbeiteten Mist in die Erde ein. Diesmal hatten wir den Maxl dabei, der Bauxl war schon alt und lahmte ein bisschen. Es war eine sehr schwere Arbeit.

Draußen war es frisch, aber wir bemühten uns schnell zu sein, so war uns nicht kalt. Meine Knie taten mir schon weh, meine spröden Hände brannten, im Rücken knackste es gefährlich, aber wir schafften es, den ganzen Acker umzupflügen. Erst gegen Abend kamen wir heim.

Ich holte Trudi von der Nachbarin ab und setzte Kartoffeln auf. Im Krug hatte ich noch etwas Buttermilch. Die Kleine, müde vom Tag, quengelte schon. Um sie zu beruhigen, reichte ihr Lina eine Schale Tee und spielte mit ihr auf dem Küchenboden. Es war so schön, den beiden zuzuschauen, wie sie unbeschwert lachen konnten. Das Lachen war der Motor, der mich in dieser Zeit am Laufen hielt.

Nach dem Essen legte ich Trudi nieder, die sofort einschlief. Lina und ich setzten uns in die Küche und wollten die Arbeit für den nächsten Tag besprechen, da sah sie mich verschmitzt an und sagte: ›Tantchen, wir haben heute so gut gearbeitet, ich glaube, wir haben uns eine Belohnung verdient.‹

›Ja, das glaube ich auch. Und womit wollen wir uns verwöhnen? Wir haben doch nicht viel.‹

›Denk nach, wir haben etwas.‹

›Was?‹

›Aber versprich mir, dass du nicht gleich schimpfst.‹

›Versprochen.‹

›Wir haben im Keller noch zwei Flaschen Most, die vom Verkauf übrig geblieben sind. Wollen wir eine aufmachen?‹

Lina stand auf. ›Ich hole eine‹, rief sie und ohne meine Antwort abzuwarten, lief sie hinaus. ›Die zweite können wir für Weihnachten aufheben‹, hörte ich sie noch vom Hof.

Draußen war es schon dunkel, nur die schmale Sichel des Mondes leuchtete am sternenlosen Himmel. Ich stand in der offenen Tür und sah Lina nach, wie sie in den Keller lief, dann sah ich beim Nussbaum eine Zigarette aufglühen und hörte ein leises Kichern. Wer konnte das sein, dachte ich. Die Bäcker waren schon längst weg, die nächste Schicht beginnt erst nach Mitternacht. Plötzlich kamen aus der Dunkelheit zwei Buben. ›Was macht ihr da?‹, rief ich ihnen nach und erkannte, dass es Paul Fischer mit einem seiner Freunde war. ›Ihr habt hier nichts verloren‹, schrie ich. ›Marsch nach Hause, sonst sage ich euren Eltern, dass ihr geraucht habt.‹

›Das waren wir nicht‹, verteidigte sich Paul.

›Rauchen und lügen … Freundchen, das ist zu viel.‹

Die Buben liefen davon, und ich machte die Haustür zu, damit keine Nachtfalter ins Haus flogen. Ich räumte das Geschirr auf und begann abzuwaschen. Als ich fertig war, stellte ich zwei Gläser auf den Tisch. Da überkam mich ein ungutes Gefühl. Wo war Lina? Warum brauchte sie so lange? In böser Vorahnung lief ich hinaus, und da kam sie mir schon völlig verstört entgegen. ›Hilde!‹, schrie sie. ›Es ist etwas Schreckliches passiert.‹ In dem Moment sah ich ihre blutigen Hände und dunkle Flecken auf ihrer Schürze und dachte an einen Unfall. Vielleicht war sie auf den Kellerstufen ausgerutscht und hatte sich verletzt.

Lina warf sich mir in die Arme und schluchzte wie ein kleines Kind. ›Linchen, wo hast du dir denn wehgetan?‹, fragte ich sie.

›Nicht ich …‹, schluchzte sie. ›Hubert.‹

›Was ist mit Hubert?‹

Lina nahm mich an der Hand und führte mich in den dunklen Keller. ›Warte, ich hole eine Kerze‹, sagte ich.

›Da unten ist eine Kerze und auch die Zünder‹, wimmerte Lina und tastete sich langsam vorwärts. Dann ließ sie meine Hand los. Ich hörte ihre Schritte und ihren Atem, mir kam es sogar vor, als ob ich ihr rasendes Herz gehört hätte. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.

›Wo bist du?‹, fragte ich.

›Hier‹, hörte ich sie. Ein Zündholz rieb an der Reibfläche, gleich danach erhellte eine kleine Flamme den Raum. Lina stellte die Kerze auf einem Mauervorsprung ab und deutete in die Ecke.

›Jesus, Maria und Josef‹, schrie ich. ›Was ist mit dem da los?‹ Auf dem Boden lag Hubert Fischer, sein Nacken war unnatürlich geknickt, der Kopf lag in einer Blutlache. ›Wer hat ihn so zugerichtet?‹, fragte ich entsetzt.

›Ich …‹, wimmerte Lina, ›ich glaube, er ist tot.‹ Vorsichtig bückte ich mich zu dem Verletzten und tätschelte seine Wangen. ›Hubert, wach auf‹, befahl ich. Ich hob seinen Kopf an und betrachtete die klaffende Wunde und wollte immer noch nicht verstehen, was Lina gerade gesagt hatte, und ich mit eigenen Augen sehen konnte. ›Hubert, was ist mit dir?‹ Die Bilder vom Februar, als Elfi sich in der Au verletzt hatte, wurden wach. ›Lina, wir holen einen Arzt. Sofort. Es wird alles gut. Komm, wir bringen ihn ins Haus.‹

›Er ist tot.‹

›Linchen, was redest du denn da?‹ Ich nahm sie in die Arme und drückte sie an mich. Sie zitterte. ›Wir sollten nichts unversucht lassen. Der Doktor wird ihm helfen. Ganz sicher wird er ihm helfen. Er lebt noch. Das spüre ich.‹ Ich ließ Lina los, hockte mich wieder zu Hubert, legte mein Ohr an seinen Mund und wartete auf einen Hauch. Danach begann ich auf seine Brust zu pressen und zu zählen, wie ich es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Nichts. Keine Reaktion.

›Er ist tot‹, Linas Flüstern klang endgültig. ›Ich wollte es nicht … wirklich nicht.‹

›Wie ist es dazu gekommen?‹, fragte ich. ›Warum liegt er überhaupt da?‹

›Ich … ich‹, Lina begann erneut laut zu schluchzen, dass ihr fast der Atem wegblieb.

›Beruhige dich und erzähl der Reihe nach, was passiert ist.‹

›Ich bin in den Keller und konnte da unten keine Zünder finden. Und dann … dann habe ich mich vorangetastet und sie gefunden und Licht gemacht und …‹, sie heulte wieder auf, ›… auf einmal war der Hubert hinter mir … und fasste mich an. Überall, zuerst in die Bluse, dann unter den Rock. Ich habe mich gewehrt und … das ist doch richtig, dass ich mich gewehrt habe …‹

›Natürlich war das richtig.‹

›Ich mag ihn nicht, den Hubert, aber er wollte mich. Er wollte mich so sehr, obwohl ich ihm nie Avancen gemacht habe. Du weißt doch, dass ich mir nie etwas aus ihm gemacht habe.‹

›Und dann? Was war dann?‹

›Dann habe ich geschrien und ihn gekratzt, aber er hat nur gelacht und mich fest an sich gedrückt. Und dann hat er seine Hose aufgemacht und meine Hand an sein erigiertes Glied geführt.‹

›Das Schwein!‹

›Als er mir ins Gesicht geschlagen hat, habe ich ihn mit voller Kraft zurückgestoßen und er ist über irgendetwas gestolpert und gefallen. Da, auf den Stein.‹

Huberts Kopf lag neben dem Ziegelstein, der ihm zum Verhängnis geworden war. Sein Mund war halb offen, die Augen waren geschlossen. Die vom Blut verklebten Haare glänzten im Kerzenschein wie frischer Teer.

›Was machen wir jetzt?‹, fragte Lina verzweifelt.

›Er muss weg‹, war meine Antwort. ›Wenn sie ihn hier finden, nein, daran will ich gar nicht denken. Hubert sollte demnächst einrücken. Weißt du, was das heißt?‹

»Wie weg?‹, wollte Lina wissen, kreideweiß im Gesicht.

»Wir müssen ihn wegschaffen. Nur ich weiß noch nicht, wie. Wenn wir ihn von hier wegtragen, würde man das sofort bemerken. Und wohin auch?‹

›Nein. liebes Tantchen, du hast damit nichts zu tun. Du gehst jetzt ins Haus und legst dich schlafen. Du hast nichts gesehen, nichts gehört und ich werde mich stellen.‹

›Das kommt nicht infrage. Ich möchte nicht auch noch dich verlieren. Linchen, das stehen wir gemeinsam durch.‹ Ich lief hinaus in den Hof und überlegte, was wir machen könnten. In der Ferne bellte ein Hund, zwei Katzenaugen leuchteten aus dem Garten. Wenn wir die Leiche rechtzeitig wegschaffen wollten, mussten wir uns beeilen. Spätestens um zwei würde der alte Fischer in die Bäckerei kommen und er würde sofort sehen, was los war.

Lina hatte inzwischen ebenfalls den Keller verlassen und schmiegte sich an mich. ›Es tut mir so leid, dass ich dir solche Probleme bereite.‹

›Papperlapapp‹, zischte ich. ›Bring lieber Spaten, Krampen und Schaufel. Wir werden ihn begraben.‹

›Was? Du willst ihn begraben? Wo?‹

›Hier. Im Keller.‹

›Wo?‹, wiederholte sie noch einmal.

›Vielleicht …‹, ich sah mich um, ›… hinter der zugemauerten Tür im Keller. Das ginge am schnellsten.‹ Warum die Tür zugemauert worden war, wusste niemand. Allerdings wenn sie Hubert suchen würden, wäre die zugemauerte Tür zu offensichtlich. Nein, das konnten wir nicht riskieren. Aber wohin mit dem Kerl? Und auf einmal wusste ich, was zu tun war. Rechts in der Kellerecke hatten wir eine Grube für Kartoffeln, die wir vertiefen könnten. Darin wäre genug Platz für eine Leiche. Und wenn wir wieder Kartoffeln darauf schütteten, würde keine Veränderung zu sehen sein.

Ich erklärte Lina den Plan und begann sogleich mit bloßen Händen die Kartoffeln aus der Grube zu heben. Lina sah mir eine Weile zu, dann kniete sie sich nieder und half mir. Als alle Kartoffeln draußen waren, lockerte ich mit dem Krampen die darunterliegende Erde auf, stach mit dem Spaten große Erdschollen heraus und schaufelte sie weg. Lina und ich wechselten uns bei der schweren Arbeit ab.

Nach etwa zwei Stunden, als die Grube tief genug war, legten wir Hubert mit abgewinkelten Beinen hinein.

›Warte‹, hauchte Lina und lief hinaus. Nach einer Minute kam sie zurück und legte ihren Rosenkranz auf Huberts leblosen Körper. ›Gott soll seine Seele beschützen‹, flüsterte sie, bekreuzigte sich schnell und warf eine Schaufel Erde auf ihn. Es dauerte nicht lange, und Huberts Leiche verschwand unter der Erde, die wir wieder auf ihn schütteten. Von draußen holten wir ein paar Steine, legten sie auf die Erde und traten sie fest. In einem Kübel rührte ich ein Sand-, Kalk- und Zementgemisch an und schüttete es über die Steine. Ohne abzuwarten, dass die Masse trocknete, bedeckten wir sie noch einmal mit Steinen und einer weiteren Schichte Erde, auf die wir zusätzlich Holzbretter legten. Erst dann schaufelten wir die Kartoffeln in die Grube, die jetzt fast genauso aussah wie vorher.

Zum Schluss kehrten wir den Boden auf und beteten.

Noch in der gleichen Nacht lief Lina davon und kam nie wieder zurück.«

Hilde sieht in die Gesichter ihrer Zuhörer. Stille. In dem Moment beginnt die Kirchenglocke wie auf Bestellung zu läuten. Alle wenden ihren Blick den Berg hinauf zur Kirche und zum Kriegerdenkmal des Kameradschaftsbundes, das etwas unterhalb steht. Dahinter sieht man einen schmalen Waldstreifen am Westrand des idyllischen Dorfes.

Willi umklammert immer noch seine Mappe, als ob er etwas beweisen wollte. »Jenseits aller Logik ist das Streben nach der Wahrheit eines der dringendsten menschlichen Bedürfnisse«, murmelt er leise.

»Nicht immer«, jetzt schien auch Markus sich von seinem Schock zu erholen. »Die Wahrheit kann sehr wehtun. Manchmal ist es viel bequemer, sie nicht zu kennen.«

»Das heißt«, flüstert Milli ganz zaghaft, »der Hubert ist immer noch im Keller.«

Hilde nickt. »Ja, seit fast 65 Jahren. Der Plan mit der Kartoffelgrube war genauso primitiv wie genial. Nicht einmal die Gestapo kam auf den Gedanken, sie auszuheben. Sie stürzten sich erwartungsgemäß auf die zugemauerte Tür und waren fast enttäuscht, als sie dahinter keinen versteckten Deserteur fanden.«

»Der Keller ist sein Grab«, flüstert Milli.

»Wer ist im Keller?«, fragt auf einmal Karl. »Kenne ich ihn?«

»Ja, mein Liebster, du hast ihn gekannt.«