Der Kreis der Hunde zog sich zusammen.

»Hilfe, was machen wir jetzt?«, flüsterte Joseph.

»Öh, keine Ahnung?«, hörte er Myriam hinter sich.

Yule wimmerte leise. Wie ein panisches Tierchen drückte sie sich an Joseph.

Und Joseph legte seine Arme fest um seine kleine Schwester, auch wenn er sich selbst nicht mutiger fühlte.

Da trat jemand vor ihn. Myri!

Knurrte Myriam die Hunde wirklich an? Nein, sie sprach wohl mit ihnen.

Seltsam: Die Hunde wichen zurück und begannen, einer nach dem anderen, mit den Schwänzen zu wedeln.

Einer rieb sich die Vorderpfote über das Maul, ein anderer hechelte so, dass es aussah, als lächele er.

Myriam fasste Joseph am Arm. »Ich glaube, wir können jetzt weitergehen«, sagte sie leise.

»Cool. Was hast du ihnen bloß gesagt, Myri?«

Myriam zuckte die Schultern. »Ich habe nur irgendetwas auf sie eingemurmelt.«

Als die Kinder sich wieder auf den Weg machten, setzten sich die Hunde ebenfalls in Bewegung. Wie eine schweigende, lebende Welle liefen sie ihnen hinterher und jedes Mal wenn sich Joseph umsah, wedelten sie mit den Schwänzen.

Die Kälte knabberte an ihren Fingern, sie bohrte sich durch die Maschen der Pullover und biss in ihre Ohrläppchen. Die Geschwister wickelten sich die Wolle fester um den Leib und zogen ihre Hände in die Ärmel zurück. Weit über ihnen ragte der kalte Berg in die Höhe. Ein blasses Licht ging von ihm aus und auf den Tannen glitzerte es.

»Schnee«, hauchte Myriam.

»Wie schön«, flüsterte Yule.

Joseph stolperte über eine Wurzel. »Aua!«

»Pssssst!« Myriam sah ihn strafend an.

»Wieso? Die Hunde tun uns doch nichts mehr!«, beschwerte Joseph sich.

»Ja. Aber willst du, dass die Wissenschaftler uns abfangen?«, fauchte Myriam.

»Meinst du, die sitzen da auf den Ästen?«, fragte Joseph entsetzt.

Myriam verdrehte die Augen. »Guck doch mal!«

Das Gestrüpp am Wegrand war dünn und zwischen den Zweigen schimmerte es blass. Joseph konnte eine Lichtung erkennen, mit geisterhaften Dreiecken darauf.

»Ein Zeltlager«, flüsterte Myriam neben ihm.

»Gehen wir jetzt endlich rauf?«, fragte Yule und zeigte mit dem Finger nach vorn.

Dort begann ein Pfad, ein kleiner Trampelpfad, kaum zu sehen in der körnigen Dunkelheit. Der Wind hatte sich inzwischen beruhigt, der Mond war aufgegangen und auf dem Pfad funkelte und glitzerte der Schnee, als seien tausend winzige Sterne auf die Erde gefallen und lägen nun dort und schliefen.

Nein, Yule wartete nicht auf ihre Geschwister. Sie lief einfach los durch das letzte Stückchen Sommer, sodass Joseph und Myriam nichts übrig blieb, als hinter ihr herzurennen.

Nur die Hunde blieben am Saum des Waldes zurück.

Sie wedelten ein letztes Mal mit den Schwänzen, als wollten sie sich verabschieden. Oder sagen: »Viel Glück«, dachte Joseph.

In der Luft zitterte etwas. Wie ein hohes, geheimnisvolles Singen. Der Wald hatte Myriam und Yule schon verschluckt.

Da atmete Joseph tief ein – und dann verschwand auch er zwischen den Tannen.

Myriam, Joseph und Yule standen auf dem verschneiten Pfad und sahen sich um. Wie merkwürdig: Es war, als ob die Welt außerhalb des kalten Berges verschwunden sei. Als ob sie unter einer Glocke aus eiskaltem Glas stünden.

Es war so kalt, dass sie ihre Fingerspitzen kaum noch fühlten. Schwarz stachen die Nadelbäume in den Himmel, Blaufichten und normale Fichten und Blautannen und normale Tannen und Kiefern … und alle waren sie mit Schnee bedeckt.

Der Schnee – ach, Schnee – er war leicht wie Staub, jeder Schritt wirbelte einen Nebel aus feinsten Kristallen auf.

»Winter!«, rief Myriam und ließ sich in den Winter hineinfallen, sodass eine glitzernde Wolke aufstob. Kreischend stürzte Yule sich kopfüber hinterher und dann wurden sie alle drei schneesüchtig, bewarfen sich mit dem flimmernden Puder und kicherten und schrien bis hinauf zu den Sternen. Und die Sterne funkelten zurück.

»Weihnachten«, sagte eine kleine Stimme.

Joseph sah von seinen blauen Fingern auf, mit denen er gerade wieder einen Haufen Schnee zusammenraffte.

Da stand Yule mit großen, glänzenden Augen.

»Weihnachten«, flüsterte sie. »Hört ihr es nicht?«

Joseph und Myriam sahen sich an. Hörte ihre kleine Schwester wieder die Sterne singen?

Aber dann, dann vernahmen sie es auch! Wie winzige gläserne Glöckchen, wie ein endlos fernes Xylofon, als ob die Luft selbst singe.

Starr standen die Geschwister da.

»Irre«, flüsterte Myriam in die Stille hinein. »Bestimmt ist es irgendwo dort oben. Bestimmt müssen wir weiter hinaufsteigen.«

Niemand widersprach. Und so marschierten sie los. Es ging steil aufwärts, aber der Trampelpfad führte nicht gerade hinauf, sondern in Windungen und Schlingungen.

Von Zeit zu Zeit fielen ganze Haufen von Schnee von den Bäumen. Kein Geräusch drang aus der Außenwelt zu ihnen – kein Flugzeug, kein Autolärm. Auch die zauberhafte Musik ließ sich nicht wieder hören. Stille ringsumher, nur Keuchen und das Knirschen von Schnee.

Dieses Mal war es Yule. Eine Sekunde lang dachten Myriam und Joseph, es sei der Berg selbst, doch dann erkannten sie Yules leise, klare, etwas atemlose Stimme: »Oh, Tannenbaum, oh, Tannenbaum«, sang sie.

Keiner der anderen setzte ein und so sang Yule ihr Lied ganz alleine zu Ende.

Und nun begann es wieder: zarte glockenartige Musik, von der niemand sagen konnte, woher sie kam. Sie schien überall zwischen den Bäumen zu schweben.

»Schaut mal«, flüsterte Yule.

Wie herbeigezaubert stand es dort. Vor ihnen, auf einer kleinen Lichtung, vielleicht fünf Schritte weit entfernt. »Ein Reh«, flüsterte Joseph.

»Quatsch«, wisperte Myriam. »Das ist ein Rentier.«

»Ein Rentier wie das vom Weihnachtsmann?«, fragte Joseph.

Yules Augen wurden groß. »Glaubt ihr, jetzt kommt er gleich? Der Weihnachtsmann?«, hauchte sie.

Myriam zuckte mit den Schultern. »Erst mal ist das bloß ein Rentier«, sagte sie nüchtern.

»Nur so ein normales Rentier?«, fragte Joseph.

Myriam sah ihn an. Ja, ganz sicher war sie sich natürlich nicht. Sie begann zu zittern und das hatte nicht nur etwas mit der Kälte zu tun.

Aber niemand erschien. Stattdessen sah es so aus, als ob das Rentier ihnen zuzwinkere. Dann sprang es mit einem Satz zwischen die Fichten und war schon wieder verschwunden.

»Bestimmt will es, dass wir hinter ihm herlaufen«, sagte Yule fest überzeugt. Der Schnee türmte sich hoch unter den Bäumen. Dort nistete die Dunkelheit, kein Mondlicht verfing sich zwischen den dichten Ästen, kein kleiner, freundlicher Pfad führte durch sein Dickicht. So einer wie der, auf dem sie gerade standen.

Aber da stellte Joseph fest, dass er allein auf dem kleinen, freundlichen Pfad stand, denn die anderen hatten sich schon auf den Weg gemacht und wühlten sich bergauf durch den tiefen Schnee.

Also stapfte er hinter ihnen her.