Tiefe Dämmerung umfing sie. Doch so dicht die Tannen auch standen – es war, als bildeten sie eine Schneise, als bögen sie ihre Zweige zur Seite, um die Geschwister passieren zu lassen. Schweigend kletterten sie bergauf, und hin und wieder hielten sie kurz inne, um zu lauschen.
Yule stolperte voran.
Bestimmt versteckte Weihnachten sich einfach. Irgendwo hinter einem Baum. Und der Weihnachtsmann … vielleicht würde sie ja den Weihnachtsmann sehen …
Sie pflügte noch schneller durch den Schnee.
Der Schnee war wirklich tief, Yule zog ihre Hände tief in Opas Wolljacke zurück.
Ihre Zehen waren kalt. So kalt.
Also: Rentiere fraßen keine Menschen, jedenfalls normalerweise nicht. Aber wer wusste schon, wie diese besonderen Rentiere so drauf waren? Joseph zitterte etwas stärker und versuchte, so dicht wie möglich an Myriam zu bleiben. Die kannte sich mit Tieren aus, besonders mit richtig gefährlichen, zum Beispiel Löwen.
Er runzelte die Stirn: ob in der Weihnachtsgeschichte irgendwo Löwen vorkamen? Oder … Schlangen? Oder … Drachen?
Eigentlich hatten ihm die Hunde schon gereicht.
Der Wald war so still.
Wie die Sterne auf sie herabfunkelten!
Joseph seufzte, rieb sich die Augen und kletterte dann langsamer weiter.
Myriam blieb stehen und sah sich um.
»Oh, da«, flüsterte sie. »Seht doch nur mal, da!«
Es war in der Dämmerung nur schwach zu sehen und im ersten Moment sah es aus, als hätte jemand zwischen den Blautannen einen Apfelbaum verborgen, dessen Äpfel im Dunkeln rot schimmerten. Doch dann … eine Kerze flammte dort auf den Ästen des Baumes auf, und sofort wurde der Wald um sie herum noch dunkler.
Es war, als würde die Kerze sie an den Pulloverärmeln zupfen, sodass sie sich alle auf sie zu bewegen mussten.
Dort leuchtete eine zweite Kerze … und noch eine. Und ihre Flammen spiegelten sich in den Kugeln wider, die sie für Äpfel gehalten hatten. Sie funkelten und drehten sich langsam in der warmen Luft, die von den vielen knisternden Kerzen aufstieg, und irgendwo tief in ihnen erwachte ein seltsames Gefühl und bahnte sich den Weg in ihre Köpfe.
Yule lächelte.
»Weihnachten. Hab ich doch gesagt!«
Sie standen vor dem Baum, hielten sich an den Händen und lauschten.
Die Musik war zurückgekehrt, deutlicher als zuvor. »Das kenne ich«, flüsterte Myriam. »Das ist ein ururaltes Weihnachtslied. ›Sei uns willkommen, Herre Christ‹.« Und sie begann, leise zu singen.
Die Kerzen knisterten.
Beinahe unmerklich wandelte sich die Melodie. Langsame, getragene, leise ansteigende Töne, die von irgendwoher aus der Dunkelheit zu ihnen drangen. Vielleicht klangen sie auch in ihnen selbst, das konnten sie beim besten Willen nicht entscheiden.
Myriam starrte vor sich hin. »Es kommt ein Schiff geladen.«
»Seht mal!«, stieß Joseph aus.
Nicht weit von ihnen entfernt trat ein Rentier aus dem Wald. Nein, zwei Rentiere … nein, drei, vier waren es. Sie liefen in Paaren und blieben vor ihnen stehen. Und dann sahen sie zu den Geschwistern hinüber mit ihren großen, schönen Augen.
»Sie ziehen einen Schlitten, was für einen prächtigen!«, flüsterte Myriam. Oh ja, der Schlitten war wie für einen König gemacht. Er schimmerte golden und war gefüllt mit roten, weichen Kissen.
»Der Schlitten vom Weihnachtsmann!«, quietschte die kleine Yule auf.
Im selben Moment war er fort, wie weggewischt, und der Schnee lag unberührt vor ihnen. Keine Schlittenspur zeichnete sich in ihm ab und auch keine Rentierspur.
Myriam blickte sich verwirrt um. »Wohin ist er denn verschwunden? Oh, schaut mal – da sind Misteln! Dabei wachsen die doch gar nicht auf Tannenbäumen!«
»Was sind denn Misteln, Myri?«, fragte Yule.
»Warte«, murmelte ihre Schwester und sie stapfte ein Stück durch die Winternacht, bis sie nur noch ein Schatten war.
Als sie in den Kreis des Kerzenlichtes zurückkehrte, steckte sie Joseph und Yule je einen kleinen Zweig mit einer weißen Beere in die Pullovermaschen.
»Die schützen vor den bösen Wintergeistern.«
Joseph fuhr zusammen und sah auf seine Misteln herab, aber Yule sagte: »Hier gibt es keine bösen Geister, hier ist Weihnachten!« Und sie stampfte mit dem Fuß auf, als sei das ein Befehl.
Myriam lächelte Yule zu und sah ihren Bruder verächtlich an. »Mann, Joseph, du bist echt ein Schisser. Vor allem hast du Angst – erst vor den Hunden, dann vor den Rentieren und jetzt sogar vor …«, sie markierte mit ihren Fingern Anführungszeichen, »bösen, bösen Wintergeistern.«
Joseph überkam es zitternd heiß. Er nahm den armen, unschuldigen Mistelzweig und schleuderte ihn in den Schnee, dass es staubte.
»Ich weiß genau, dass es keine bösen Wintergeister gibt!«
»Hmmm«, gab Myriam spöttisch zurück. »Da bin ich mir aber nicht so sicher.«
Joseph kochte. Es war so gemein, dass sie ihn immer mit seiner Angst aufzog. Es war so gemein … und bevor er es richtig begriff, stürzte er sich mit erhobenen Fäusten auf seine Schwester.
»Myri!«, hörten sie Yule plötzlich rufen. »Myri, mir ist so kalt!«
Ein Wind hatte sich erhoben, wirbelte den Schnee auf und ließ ihn unter den Bäumen kreiseln. Ein Ächzen ging durch den Wald. Die Kinder fuhren auseinander und zitterten.
»Die Kerzen!«, rief Yule entsetzt. »Die Kugeln!«
Der Wind hatte die Kerzen ausgeblasen und sie verblichen, wurden durchsichtig und entschwanden wie davongepustet. Und nun verblassten die roten Kugeln. Weihnachten verschwand erneut, davongeweht von dem grausam-eisigen Wind.
»Yule! Deine Nase!« Myriam starrte auf die Nasenspitze ihrer kleinen Schwester. »Die ist so weiß wie der Schnee!«
»Wir müssen hier weg!«, brach es aus Joseph heraus.
Yule presste mit großen Augen die Ärmel ihrer Opajacke auf ihre Nase.
»Los, komm!«, rief Myriam. »Runter hier!« Sie schubste Yule beinahe in den Schnee. »Joseph, deine Finger!«, rief sie entsetzt.
Joseph starrte auf seine Fingerspitzen.
»Rennt!«, schrie Myriam.
Und das taten sie. Sie rannten bergab und wirbelten Lawinen aus Schneestaub auf.
Waren sie wirklich so lange den Berg hinaufgeklettert? War der Weg wirklich so unendlich weit?
»Weiter jetzt!«, keuchte Myriam. »Raus aus der Kälte, so schnell wie möglich!«
Nie würden sie das, was nun folgte, vergessen. Oh nein, nicht einmal, wenn sie so alt werden würden wie Weihnachten selbst.
Sie würden nicht die Wurzeln der Morgenröte vergessen, die sich über den Himmel ausbreiteten, und nicht den fahlen Geruch des anbrechenden Tags.
Vor allem aber würden sie sich immer an den Mann erinnern, der vor seinem Zelt stand, gähnte, sich streckte und, als sie zwischen den Ästen hervorbrachen, genau zu ihnen hinübersah. Besonders an die Augen des Wissenschaftlers. Nein, die würden sie auch nicht vergessen.
»Los, kletter auf meinen Rücken!«, keuchte Joseph zitternd und Yule tat es, ohne zu fragen. Dann rannten sie weiter.
Yule drückte ihre eiskalten Finger an Josephs Hals und Joseph spürte, wie sie langsam auftauten. Die Luft wurde milder.
Sie rannten. Sie bekamen Seitenstiche – und rannten trotzdem weiter und Myriam musste wieder und wieder auf Joseph warten.
Die Räder! Dort lagen die Räder!
Joseph zerrte sein Rad hoch und setzte Yule auf den Gepäckträger. Der Ständer hatte sich mal wieder verklemmt, so ein Mist!
Endlich!
Durch den Wald fädelten sich schreckliche Geräusche: Rufe, knackende Äste, eine Trillerpfeife.
Myriam war schon ein Stückchen vorausgefahren. Sie wandte sich um: »Jetzt kommt!«
Keuchend traten sie ihre Fahrräder durch den frühen Morgen, voller Angst und doch sooo müde.
Die Geräusche der Verfolger aber blieben zurück, bis das Einzige, was sie hörten, der Morgengesang der Vögel war.
Ihre Oma wachte nicht auf, als sie ins Haus schlichen, auch wenn das ein wahres Wunder war. Und als sie am nächsten Morgen wach wurden, hatten sie alle noch ihre Kleider an. Und: jede Menge Pullover unter den Betten versteckt.