»So ein Mist!«, fauchte Myriam. Sie stürzte vorwärts. »Alles weg!«

Sie drehte sich zu Joseph um und Joseph sah, dass der Berg bei Myriam denselben Zauber bewirkt hatte wie bei ihm: Die Erinnerung war zurückgekehrt.

Da schossen ihm die Tränen in die Augen.

»Egal«, murmelte er. »Ich finde sie!«

Myriam sah ihn an. Sie griff wieder nach seiner Hand. »Okay, wir finden sie zusammen!«

Diesmal zog Myriam ihren Bruder. Aufwärts, immer aufwärts.

Und da …

»Hörst du das?«, flüsterte Joseph Myriam zu.

Myriam schlug sich an die Stirn. »Onkel Bertil«, rief sie. »Wir haben Onkel Bertil ganz vergessen!«

Und wirklich: Vor ihnen durch die dunklen Bäume drängte sich ein schwarzer Kater und je näher er kam, desto lauter wurde sein Miauen.

»Der will uns zu Yule bringen!«, rief Joseph und rannte los.

Bevor sie den Kater erreicht hatten, machte er schon wieder kehrt, um in großen Sätzen den Berg hinaufzuspringen.

»Mann, guckt der vorwurfsvoll!«, keuchte Myriam.

»Tut er doch immer«, keuchte Joseph zurück.

»Nee, das war noch vorwurfsvoller als sonst!«

Und dann legten sie noch einmal einen Zahn zu, knisternd vor Hoffnung.

»Da, sieh mal!«, hauchte Myriam.

Ein Stück weiter oben öffnete sich eine kleine Lichtung.

Es war heller dort, als strahle der Schnee selbst ein warmes, kerzenflammenartiges Licht aus.

Die Hunde … ja, das mussten die Hunde sein, dieser dunkle Klumpen dort auf der Lichtung. Aber warum rührten sie sich nicht? Was schützten sie dort vor ihren Augen?

Ihre Herzen hämmerten, mit letzter Kraft rannten Myriam und Joseph über die Lichtung.

Sie saß dort, inmitten der Hundeschar. Die Tiere drängten sich so dicht um die kleine, kauernde Gestalt, dass Joseph und Myriam zunächst nicht sehen konnten, was sie dort machte.

Aber dann …

Sie … sie streichelte den Schnee. Vorsichtige, immer gleiche Bewegungen. Und dabei summte sie etwas, das begriff Joseph noch, bevor er sie hochhob.

Sie war so leicht.

»Yule«, schluchzte Myriam, als sie Yule umarmte.

»Da seid ihr ja«, stellte Yule fest und schaute erst Joseph und dann Myriam an und lächelte.

Sie hielten sich fest, alle drei, so fest.

Sie dachten an ihren Vater und an ihre Mutter und an ihre Oma, und dann wieder an ihren Vater …

Und nach der Erinnerung kehrte die Sehnsucht nach Weihnachten zurück.

Aber da …

Da begann der Berg zu fließen.

Als ob ein Topf voller Nebel überkoche, so wirbelte der Schnee um ihre Füße. Die Luft glitzerte und schmeckte nach Raureif und Winter und der Schnee … der Schnee floss über das Land wie eine wilde Flut, malte die alten Weiden hinter dem Bach an, die Reet gedeckten Dächer und die Dachziegel, er glitt über die Felder und Weiden und puderte über die Eichen beim alten Fachwerkhof.

Der Winter breitete sich aus wie eine weiche Decke.

Und mit ihm kam Weihnachten.

War es ein Duft? Glitzerten die Sterne stärker als zuvor? War es die Erwartung, die in der Luft prickelte?

Sie wussten es nicht. Sie wussten nur, dass jetzt alles gut war.

Und plötzlich fiel Joseph ein, welches Lied Yule gesummt hatte, als er sie hochgehoben hatte. Natürlich: »Morgen kommt der Weihnachtsmann«!

Sie blickten zur Bergspitze hinauf in den dunklen Himmel und sahen, wie sie langsam dahinschmolz, je weiter Weihnachten sich über das Land ausbreitete. Sie sahen all die Nadelbäume auf geheimnisvolle Art und Weise verschwinden und wie selbstverständlich wussten sie, dass sie auf allen
Weihnachtsmärkten des Landes erscheinen würden und überall dort, wo man noch Weihnachtsbäume brauchte.

Sie sahen die Hunde fröhlich bellend zu Tal strudeln. Sie meinten, die Rentiere zu sehen. Und wehte da nicht der prächtige samtene Schlitten vorbei? War das nicht? … Schon vorbei.

Yule schmiegte ihr Gesicht an Josephs Schulter und barg ihre eiskalten Hände an seinem Hals. Und Myriam hob Onkel Bertil hoch und legte sich den Kater über die Schulter und sie gingen fort, durch den tanzenden, stürmischen Schnee.

»Wie bist du nur darauf gekommen?«, fragte Myiam die kleine Gestalt an Josephs Schulter. Und beide hörten sie Yule an Josephs Hals murmeln: »Ich weiß nicht. Onkel Bertil streckt sich doch auch aus, wenn ich ihn streichele.«

Sie hob den Kopf und sah Myriam in die Augen.

»Ich bin gar nicht zu klein für alles, oder, Myriam, oder, Joseph?«

Joseph antwortete nicht. Er drückte nur ihren Kopf zurück an seine Schulter.

Und dann … dann wussten sie nichts mehr.