Vorsichtig näherten sie sich dem Haus ihrer Großmutter. Man wusste nie, was einen dort erwartete. Ihre Oma hatte manchmal niedliche Ideen – und manchmal merkwürdige.
Manchmal auch niedlich-merkwürdige.
Einmal hatte sie lauter Raketen angezündet. Sie waren von Sylvester übrig geblieben und Oma hatte gerade Lust gehabt, ein Feuerwerk zu sehen. Die Briefträgerin war schreiend geflohen und hatte sich eine Woche lang geweigert, Oma ihre Briefe zu bringen.
Myriam sah sich nach Onkel Bertil um.
Onkel Bertil zündete keine Feuerwerke an – er war ziemlich harmlos. Außer, wenn er schlechte Laune hatte. Dann biss er manchmal oder kratzte wie jeder grummelige Kater.
Stille. Ruhe. Kein Licht im Haus.
Kein Onkel Bertil weit und breit. Stattdessen hing in der Fichte im Nachbargarten ein Eichhörnchen und beobachtete sie. Myriam blieb stehen.
»Guckt mal, das sieht aus, als wollte es reden.«
»Super. Dann frag es doch, wo es Weihnachten hingezaubert hat«, sagte Joseph.
Myriam warf ihm einen ihrer Lieblingsblicke zu. »Vielleicht wissen die Tiere es ja wirklich.«
»Bloß, dass sie es nicht sagen können. Schade eigentlich«, gab Joseph zurück.
»Was macht es denn jetzt?«, rief Myriam.
Das Eichhörnchen kletterte – den Kopf zuerst – den Fichtenstamm herab, hangelte sich über den alten Jägerzaun und kam dann auf sie zu.
Joseph zog Yule ein paar Schritte zurück, aber Myri kauerte sich nieder und streckte dem kleinen Tier ihre rechte Hand entgegen.
»Pass bloß auf!«, flüsterte Joseph. »Vielleicht hat es Tollwut oder so was.«
Myriam bewegte sich nicht. »Es gibt hier keine Tollwut«, murmelte sie.
Das Eichhörnchen hatte Myriam erreicht und sie hielt die Luft an und versuchte, nicht das winzigste bisschen zu wackeln. Was es wohl vorhatte?
Das Tier richtete sich auf und sah sie aus seinen dunklen Augen an. Und dann legte es ihr die linke Pfote auf die Hand, hart und rau.
Nur eine Sekunde dauerte es, dann drehte es sich um und floh und war schon im Fichtendickicht des Nachbargartens verschwunden.
»Was war das denn jetzt?«, fragte Joseph.
Myriam zuckte die Achseln.
»Als wollte es uns irgendetwas sagen«, flüsterte sie. »Wenn ich es doch bloß verstehen könnte.«
»Du solltest dir gleich die Hände waschen«, sagte Joseph.
Myriam zog ihre Oberlippe über die Unterlippe und antwortete nicht. Joseph hatte so eine Angst vor Tieren – manchmal sogar vor ihren eigenen Katzen!
»Vielleicht ist Oma gar nicht da«, flüsterte Yule jetzt, als sich im Haus immer noch nichts rührte.
»Glaub ich nicht«, flüsterte Joseph zurück.
Natürlich war sie da. Als die Kinder um die Hausecke bogen, sahen sie ihre Großmutter im Garten vor ihren beiden geliebten Apfelbäumen. Sie wandte ihnen den Rücken zu. Und zwischen den schrundigen Ästen spannte sich ein riesiges Spinnennetz. Kein normales, von Spinnen gewebtes. Oma hatte all ihre Wolle, in sämtlichen Farben der Welt, in diesem Netz versponnen.
»Ich wollte endlich einmal wissen, wie sich so eine Spinne fühlt«, sagte ihre Oma, ohne sich umzudrehen.
»Und?«, fragte Myriam. »Hast du es herausgefunden?«
Aber da flog Yules Rucksack schon einem Büschel Löwenzahn auf die gelben Köpfe und Yule hing ihrer Großmutter um den Hals und rief: »Soll ich dir mein Froschnachthemd zeigen?«
»Aber ja«, sagte die kleine, alte Dame entzückt. »Wenn ich dir dann mein Krokodilnachthemd zeigen darf?«
Sie setzte Yule sanft ab. »Was haltet ihr von grüner Suppe?«
Und so saßen sie wenig später am Küchentisch und löffelten grüne Suppe. Dieses Mal fragte keiner von ihnen nach, welche Pflanzen sich in die Suppe verirrt hatten. Yule wurde jedes Mal wütend, wenn sie hörte, dass ihre Oma Gänseblümchen verarbeitet hatte.
»Wie schön, dass ihr da seid!« Oma sah sie alle über den Rand ihrer Brille an. »Gibt es einen besonderen Grund dafür?«
»Wir lieben dich«, sagte Myriam und biss in ein Stück selbst gebackenes Brot.
»Das freut mich aber«, sagte ihre Oma und lächelte.
Und da fühlte Joseph es auch – wie sehr er seine Oma lieb hatte, seine schusselige Oma mit dem grauen Wuschelkopf, der dem von Myri so ähnlich war.
Onkel Bertil kam durch das Fenster gesprungen und landete mit einem fetten Plumps auf dem Dielenboden.
Er beobachtete sie mit seinen nebelgrauen Augen und dann … sprang er Joseph auf seine schmalen Jungenknie.
»Uff«, machte Joseph und beobachtete den Kater zur Sicherheit eine Weile, bevor er vorsichtig begann, ihn zu streicheln.
Da platzte Yule heraus: »Wir suchen Weihnachten«, wobei sie den Tisch unter einen Sprühregen aus Brotkrümeln setzte.
Ihre Oma sah sie an, und ihr Blick war genauso leer, wie der ihrer Mutter gewesen war. »Was sucht ihr?«
Joseph biss sich auf die Lippe. Er hätte es wissen müssen. Warum sollte Oma anders sein als alle anderen?
Na ja. Sie war eben anders, sie war immer anders gewesen.
»Weihnachten«, murmelte er. »Das mit den Geschenken und dem Tannenbaum und so.«
Seine Großmutter beobachtete ihn nachdenklich. »Habe ich das im Garten?«
»Neben deinem Garten, um genau zu sein«, sagte Myriam. Und dann beugte sie sich tief über ihren Suppenteller und Joseph sah, dass ihre Augen rot wurden.
»Der eiskalte Berg – da ist Weihnachten drauf«, erklärte Yule. »Und ich habe das rausgefunden.«
»Das ist vielleicht ein blödes Ding«, fing ihre Oma an zu schimpfen. »Bestimmt ein Erdpickel. ’ne Allergie, die die Erde gegen die Menschen bekommen hat.«
»Kann man da rauf?«, fragte Joseph.
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Das ist streng verboten«, sagte sie energisch. »Vorläufiges Forschungs- und Observationsgebiet. Da wimmelt es vor Wissenschaftlern. Mit Wachhunden.«
Joseph zuckte zusammen. Hunde waren nicht seine Lieblingstiere. Er hatte eher … panische Angst vor ihnen.
Aber Yule schrie: »Oma, wir müssen da drauf! Da ist doch Weihnachten!«
»Ach – heißt der Berg so?«, fragte ihre Oma verwundert. »Haben sie ihn jetzt schon getauft? Nach nur zwei Tagen?«
»Steht er seit genau zwei Tagen da?«, hakte Myriam nach.
Oma nickte.
Myriam blinzelte Joseph zu.
»Wir müssen auf jeden Fall dorthin.«
Ihre Oma sah sie verblüfft an. »Das geht nicht. Und außerdem ist es gefährlich.«
»Ich mag Hunde«, stellte Myriam fest. »Und Wissenschaftler.«
Ihre Oma beugte sich vor. »Auf dem Berg herrscht eine tödliche Kälte, heißt es«, flüsterte sie. »Die Wissenschaftler klettern nur mit spezieller Spezialkleidung darauf.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Anstatt einfach ein paar anständige Wollpullover zu nehmen«, murmelte sie.
»Hast du noch die Pullover von Opa?«, fragte Myriam schnell.
Opa war vor einer Reihe von Jahren einfach verschwunden. Selbst Myriam erinnerte sich kaum noch an ihn.
»Jede Menge«, erklärte ihre Oma jetzt. »Und alle selbst gestrickt.«
»Hast du uns nie gezeigt«, sagte Myriam vorwurfsvoll.
Joseph sah sie an, zog die Augenbrauen hoch und hob die Schultern. Warum fragte sie denn plötzlich nach Opas Wollpullovern?
»Die liegen alle noch in meinem Schrank«, sagte ihre Oma.
Ihre Augen glänzten. Sie bückte sich, holte ein Taschentuch aus ihrem Hausschuh und schnäuzte sich hinein. »Muss auch eine Allergie sein«, murmelte sie.
Jetzt zwinkerte Myriam Joseph zu.
Joseph rollte die Augen. Und Yule schaute von einem zum anderen.
Ihre Oma aber gähnte so laut, dass der Kater zusammenzuckte.
»Seid ihr noch gar nicht müde, Kinder?«
Natürlich waren sie nicht müde, nur eine Oma konnte so früh schon müde sein. Trotzdem fing Myriam ebenfalls an zu gähnen. »Doch, total.«
Und dieses Mal begriff Joseph. »Hast du eine Zahnbürste für mich, Oma? Ich hab meine vergessen.«
Als ihre Großmutter ächzend aufstand und sich auf den Weg machte, um eine zu suchen, zwinkerte Joseph Myriam zu.
Myriam kraulte Onkel Bertil den Kopf. »Ich bin sicher, du weißt was über Weihnachten«, murmelte sie.
Der Kater lehnte seinen dicken Kopf gegen Myriams Hand und schnurrte wie ein alter Dieselmotor.
»Du meinst, wir ziehen die Pullover einfach an und gehen dann alleine dahin?«, flüsterte Joseph.
»Klar.«
»Cool. Und Yule?«, wisperte Joseph.
Yule schien ihn nicht zu hören. Sie spielte mit Omas alten Schachfiguren und die waren gerade in einen Streit verwickelt.
»Viel zu gefährlich. Yule ist noch zu klein.«
Joseph sah verstohlen zu seiner kleinen Schwester hinüber und nickte.