III

26. Oktober 1928 

Heute wurde vor dem Abendessen der Kamin im Speisezimmer angezündet. Ich finde es aufregend, einen solchen Kamin zu sehen, begreife aber nicht, warum alle sich über die Kälte beklagen. Sämtliche Familienmitglieder erfreuen sich bester Gesundheit und sind sehr beschäftigt. Monsieur Landowski macht sich Sorgen über den Transport seines kostbaren Cristo nach Rio de Janeiro. Und Sun Yat-sen muss er auch noch fertigstellen. Ich versuche, mich so viel wie möglich im Haus nützlich zu machen, und hoffe, nicht als Last empfunden zu werden. Besonders freue ich mich über meine neuen Wintersachen, die früher Marcel gehörten. Der Stoff, aus dem Hemd, Hose und Pullover sind, fühlt sich wunderbar fein und weich an auf der Haut. Madame Landowski hat freundlicherweise beschlossen, mir Bildung angedeihen zu lassen, auch wenn ich momentan nicht die Schule besuchen kann, weil ich stumm bin. Sie hat Mathematikaufgaben und einen Rechtschreibtest für mich erstellt. Ich strenge mich an, die richtigen Lösungen zu finden. Und ich bin froh und dankbar, mit so großzügigen Menschen in diesem schönen Haus wohnen zu dürfen.

Ich legte den Stift weg und klappte das Tagebuch in der Hoffnung zu, dass neugierige Leser an nichts von dem, was darin steht, Anstoß nehmen würden. Dann holte ich den kleinen Stapel Papier unter der Schublade hervor, den ich auf die gleiche Größe zugeschnitten hatte wie die Tagebuchseiten. Darauf notiere ich, was ich wirklich denke. Anfangs schrieb ich nur in das Tagebuch, um denen zu gefallen, die es mir geschenkt hatten, für den Fall, dass sie sich einmal erkundigten, ob ich es auch benutze. Aber irgendwann begann ich zu merken, wie belastend es für mich war, meine Gedanken und Gefühle nicht aussprechen zu dürfen. Sie nun schriftlich fixieren zu können empfand ich als erleichternd. Eines Tages, wenn ich nicht mehr bei den Landowskis wäre, würde ich diese Seiten an den passenden Stellen einschieben, sodass ein aufrichtigeres Bild von meinem Leben entstünde.

Ich glaube, es lag an Evelyn, dass es mir so schwerfiel, an den Abschied zu denken, denn ich hatte ihr Angebot, sie jederzeit besuchen zu dürfen, angenommen. Ihre mütterlichen Gefühle erschienen mir echt. Ich saß mit ihr in ihrem gemütlichen Zimmer und hörte zu, wie sie ihre leidvolle Geschichte erzählte. Ihr Mann und ihr älterer Sohn sind nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Seit ich bei den Landowskis bin, habe ich viel über diesen Krieg erfahren, den ich, da ich 1918 zur Welt kam, nicht persönlich erlebt habe. Unzählige Männer starben auf dem Schlachtfeld, weil man sie zwang, aus dem Schützengraben zu springen, oder schrien vor Schmerz, wenn Granaten ihnen Arme oder Beine wegrissen. Evelyns Schilderungen jagten mir einen Schauer über den Rücken.

»Am meisten bringt mich aus der Fassung, dass mein Anton und mein Jacques ganz allein und ohne Trost sterben mussten.«

Als ich sah, wie Evelyns Augen feucht wurden, streckte ich die Hand nach ihr aus. Am liebsten hätte ich tröstende Worte gesprochen wie: »Mein Beileid. Das muss furchtbar für Sie sein. Auch ich habe alle Menschen verloren, die ich liebte …«

Sie erklärte mir, das sei der Grund, warum sie so stolz auf den einen verbliebenen Sohn sei und ihn um jeden Preis schützen wolle. Falls man ihn ihr ebenfalls nähme, würde sie den Verstand verlieren. Fast hätte ich ihr gestanden, dass ich den meinen verloren hatte, er aber zu meiner Überraschung allmählich zurückkehrt.

Es wurde immer schwieriger, stumm zu bleiben, denn ich wusste: Sobald ich etwas sagte, würde ich zur Schule gehen können. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als weiter lernen zu dürfen. Doch man würde mir Fragen über meine Herkunft stellen, die ich nicht beantworten konnte. Oder ich müsste lügen, und diese guten Menschen, die mir Kleidung und Essen und ein Dach über dem Kopf gaben, hatten bei Gott etwas Besseres verdient.

***

»Hereinspaziert!«, begrüßte mich Evelyn, als ich die Tür öffnete. Sie hatte ein schlimmes Bein, das vermutlich stärker schmerzte, als sie zugab. Ich schien nicht der Einzige zu sein, der sich seiner Stellung im Haushalt der Landowskis unsicher war.

»Mach schon mal den Kakao, junger Mann. Es ist alles vorbereitet«, sagte sie.

Ich atmete den wunderbaren Duft der Schokolade ein. Bestimmt hatte ich früher schon einmal davon gekostet, aber jetzt war ich regelrecht süchtig danach. Der Kakao mit Evelyn gehörte inzwischen zu meinen Lieblingszeiten des Tages.

Ich stellte eine der beiden Tassen auf das Tischchen neben Evelyn und die andere auf den Sims über dem Kamin, in dem ein Feuerchen prasselte. Als ich mich setzte, fächelte ich mir Luft zu, weil mir von der Wärme fast schwindelig war.

»Du kommst aus einem sehr kalten Land, stimmt’s?«, meinte Evelyn, die mir in einem unachtsamen Moment Informationen entlocken wollte.

Ich nahm die Tasse mit dem Kakao in die Hand und nippte daran, um ihr zu beweisen, dass es mir trotz des warmen Wollpullovers nicht unangenehm war, etwas Heißes zu trinken.

»Eines Tages wirst du mir schon noch eine Antwort geben. Aber fürs Erste bist du mir ein Rätsel.«

Ich sah sie fragend an.

»Ich meine, niemand weiß, wer du wirklich bist«, erklärte sie. »Was dich interessant macht. Nach einer Weile könnte es allerdings langweilig werden.«

Autsch! Das hatte gesessen.

»Verzeih. Ich sage das nur, weil ich mir deinetwegen Sorgen mache. Monsieur und Madame Landowski könnten irgendwann die Geduld verlieren. Ich habe sie neulich, als ich im Salon Staub wischte, reden hören. Sie spielen mit dem Gedanken, dich zu einem Psychiater zu schicken. Weißt du, was das ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ein Psychiater stellt Fragen und bildet sich ein Urteil über deinen Geisteszustand und die Ursachen dafür. Wenn er dich für gestört hielte, müsstest du möglicherweise in eine Klinik.«

Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ich wusste, was sie meinte. Einer unserer Nachbarn zu Hause, den wir oft schreien und kreischen gehört und einmal sogar nackt die Hauptstraße unseres Ortes entlanglaufen gesehen hatten, war in ein sogenanntes »Sanatorium« gebracht worden. Solche Sanatorien scheinen grässliche Orte zu sein, voll mit Männern und Frauen, die schreien und kreischen oder einfach nur dasitzen und wie tot vor sich hin starren.

»Entschuldige, das hätte ich dir nicht sagen sollen«, meinte Evelyn. »Allen ist klar, dass du nicht verrückt bist. Eher verbirgst du deine Klugheit. Sie wollten dich zum Psychiater schicken, um herauszufinden, was du uns nicht mitteilen kannst, obwohl du dazu in der Lage wärst.«

Wie immer schüttelte ich heftig den Kopf. Meine Standarderwiderung lautete: Ich hatte Fieber und kann mich nicht daran erinnern, mit Bel geredet zu haben. Was nicht einmal ganz gelogen war.

»Sie versuchen dir zu helfen, mein Junge. Bitte schau mich nicht so entgeistert an.« Evelyn griff nach einem braunen Päckchen, das neben ihrem Sessel lag. »Für dich, für den Winter.«

Ich hatte schon lange kein Geschenk mehr aufgemacht. Es fühlte sich an wie Geburtstag. Am liebsten hätte ich das Öffnen genüsslich ausgekostet, aber Evelyn ermutigte mich, das Papier einfach aufzureißen. In dem Päckchen befanden sich ein bunt gestreifter Schal und eine Wollmütze.

»Probier die Sachen an, junger Mann. Schau, ob sie dir passen.«

Obwohl mir glühend heiß war, tat ich ihr den Gefallen. Der Schal passte natürlich, aber die Wollmütze war mir ein wenig zu groß, sodass sie mir über die Augen rutschte.

»Gib sie mir«, forderte Evelyn mich auf und krempelte kurz darauf den vorderen Rand der Mütze um. »So dürfte es hinhauen. Was meinst du?«

Dass ich vor Hitze vergehe, wenn ich die Sachen nur eine Sekunde länger anbehalte …

Ich nickte begeistert, stand auf, trat zu ihr und umarmte sie. Als ich mich von ihr löste, merkte ich, dass meine Augen tränennass waren.

»Du dummer Bengel, du weißt ja, wie gern ich stricke. Von der Sorte habe ich Hunderte für unsere Jungs an der Front gemacht.«

Ich kehrte zu meinem Sessel zurück. Das Wort »Danke« lag mir auf der Zunge, doch ich hielt es zurück. Als ich den Stuhl erreichte, nahm ich Mütze und Schal ab, legte sie sorgfältig zusammen und verstaute sie ehrfürchtig wieder in dem braunen Papier.

»Wird Zeit, dass wir zwei ins Bett kommen«, sagte Evelyn nach einem Blick zur Uhr auf dem Kaminsims. »Aber zuerst muss ich dir noch etwas Wunderbares erzählen.« Sie deutete auf einen Brief, der hinter der Uhr steckte. »Der ist von meinem Sohn Louis. Er will mich an meinem freien Tag besuchen. Wie findest du das?«

Ich nickte erfreut. Trotzdem merkte ich, dass ich ein wenig eifersüchtig auf diesen großartigen Louis war, den seine Mutter abgöttisch liebte. Vielleicht wäre ich sogar in der Lage, ihn zu hassen, dachte ich.

»Du sollst ihn kennenlernen. Er lädt mich zum Mittagessen im Ort ein. So gegen halb vier sind wir wieder da. Schau doch um vier hier vorbei, ja?«

Es war gar nicht leicht, nicht so mürrisch zu wirken, wie ich mich fühlte. Ich tippte auf das Päckchen, verabschiedete mich mit einem kurzen Winken und einem breiten Lächeln von ihr und verließ den Raum. Am Abend rollte ich mich beunruhigt in meinem Bett zusammen. In Gedanken war ich bei dem Konkurrenten um Evelyns Zuneigung und bei dem, was sie über den Psychiater gesagt hatte, zu dem die Landowskis mich vielleicht schicken würden.

In der Nacht schlief ich nicht gut.

***

Am Sonntagnachmittag wusch ich mir das Gesicht über der Wasserschale, die eines der Hausmädchen jeden Tag frisch füllte. Hier oben unter dem Dach hatten wir keine »Örtlichkeiten« (wieder etwas, worüber sich Elsa und Antoinette beklagten, da sie nachts nach unten gehen mussten, um ihr Geschäft zu erledigen). Ich bürstete mir die Haare und entschied mich gegen den Wollpullover, weil Evelyn für ihren Sohn bestimmt den Kamin angezündet hatte. Unten verließ ich das Haus durch die Küchentür. Auf halbem Weg zu Evelyn ließ mich ein Geräusch mitten in der Bewegung erstarren. Ich lauschte mit geschlossenen Augen, unwillkürlich trat ein Lächeln auf meine Lippen. Dieses Musikstück kannte ich. Es wurde nicht von einem Meister wie meinem Vater, aber immerhin von jemandem gespielt, der viele Jahre geübt hatte.

Sobald die Musik aufhörte, sammelte ich mich, ging zu Evelyns Tür und klopfte. Sie wurde von einem schmalen, groß gewachsenen jungen Mann geöffnet, der, wie ich wusste, neunzehn war.

»Hallo«, begrüßte er mich lächelnd. »Du musst der Junge sein, der nun hier wohnt.«

Als er mich hineinließ, wanderte mein Blick auf der Suche nach dem Instrument, das er gerade gespielt hatte, umher. Die Geige ruhte in dem Sessel, in dem sonst ich saß. Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren.

»Hallo«, sagte Evelyn. »Das ist mein Sohn Louis.«

Ich nickte, ohne den Blick von dem Instrument zu wenden, das aus einem Stück Holz in etwas verwandelt worden war, dem sich die herrlichsten Töne auf Gottes Erde entlocken ließen.

»Du hast meinen Sohn spielen hören?« Evelyn entging nicht, wie ich die Geige angaffte.

Ich nickte. Am liebsten hätte ich sie gepackt, unters Kinn geklemmt, den Bogen genommen und selbst zu spielen angefangen.

»Möchtest du sie in die Hand nehmen?«

Ich sah Louis an, der mir mit seinem freundlichen Lächeln wie eine männliche Version seiner Mutter vorkam, und nickte eifrig.

Er reichte mir das Instrument. Ich ergriff es so ehrfurchtsvoll, als wäre es das Goldene Vlies. Unwillkürlich schob ich es unters Kinn.

»Du spielst also«, stellte Louis fest.

Wieder nickte ich.

»Dann lass mal hören, was du kannst.« Er gab mir den Bogen.

Obwohl ich wusste, dass die Violine bereits gestimmt war, ließ ich ihn ein paarmal über die Saiten gleiten, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Sie war schwerer und solider als die, mit der Papa und ich gespielt hatten, und ich fragte mich, ob ich in der Lage wäre, mit ihr umzugehen. Es war ziemlich lange her, dass ich das letzte Mal eine Geige in der Hand gehalten hatte. Ich schloss die Augen und tat das, was Papa mir beigebracht hatte: die Saiten liebkosen. Und plötzlich erklang die »Allemande« aus Bachs Partita Nr. 2 für Violine . Als ich fast wie in Trance das Ende erreichte, hörte ich Applaus.

»Damit hatte ich nicht gerechnet.« Evelyn wedelte sich mit ihrem Fächer Luft zu.

»Kleiner Monsieur«, hob Louis an, »du bist erstaunlich für einen Jungen deines Alters. Sag, wo hast du zu spielen gelernt?«

Da ich die Geige nicht aus der Hand legen wollte, um einen Zettel aus der Hosentasche zu holen, zuckte ich bloß mit den Achseln und hoffte, dass er mich bitten würde, noch ein weiteres Stück zum Besten zu geben.

»Er spricht nicht, das habe ich dir doch erzählt, Louis.«

»Was ihm in puncto Stimmbändern fehlt, macht er mit der Geige wett.« Louis schenkte seiner Mutter ein Lächeln und wandte sich dann wieder mir zu. »Für einen so jungen Burschen bist du wirklich ganz außergewöhnlich. Komm, gib mir die Geige, setz dich und trink eine Tasse Tee.«

Als Louis die Hand ausstreckte, hätte ein Teil von mir das Instrument am liebsten an die Brust gepresst und wäre damit weggelaufen.

»Keine Sorge, junger Mann«, meinte Evelyn. »Jetzt, da ich weiß, wie gut du die Geige beherrschst, sollst du sie so oft wie möglich benutzen. Sie gehörte meinem Mann. Er hat fantastisch gespielt. Deswegen bewahre ich sie bei mir auf, unter meinem Bett. Du kannst sie für mich einpacken.« Sie deutete auf den Kasten, der auf dem Boden lag.

Als Louis Tee aufbrühte, verstaute ich vorsichtig die Violine. Der Name des Geigenbauers, den ich nicht kannte, stand auf der Innenseite des Kastendeckels. Da Evelyn mich nicht bat, den Kasten wegzuräumen, blieb er neben mir, während wir Tee tranken und ich Louis lauschte, wie er seiner Mutter von dem Kurs erzählte, den er besuchte.

»Vielleicht entwerfe ich eines Tages den neuen Wagen von Renault«, schwärmte er.

»Dann wäre ich nicht nur stolz auf dich, sondern könnte mich auch freuen, weil du nicht mehr so weit weg in Lyon wohnen würdest.«

»Es sind nur noch achtzehn Monate bis zu meinem Abschluss. Danach bewerbe ich mich bei sämtlichen Autoherstellern. Mal sehen, wer mich und meine Fähigkeiten gebrauchen kann.«

»Schon als kleiner Junge war Louis besessen von Autos«, erzählte Evelyn. »Damals waren noch nicht so viele auf den Straßen unterwegs, aber Louis zeichnete gern, wie er sich einen modernen Wagen vorstellte. Und weißt du was? Seine Entwürfe ähnelten sehr dem, was heutzutage produziert wird. Natürlich sind solche Dinge den Reichen vorbehalten …«

»Bald nicht mehr, maman . Eines Tages wird jede Familie einen Wagen besitzen. Auch ich werde einen haben.«

»Man kann ja träumen«, erwiderte Evelyn sanft. »Na, junger Mann, schaffst du den Kuchen noch, oder soll Louis ihn für morgen in die Dose tun?«

Da in meinem Magen Platz war für das letzte Stück, nahm ich es vom Teller.

»Sag, was magst du besonders gern?«, fragte Louis mich.

Ich holte meinen Zettel hervor und schrieb drei Wörter darauf:

Essen!

Geige.

Bücher.

In Klammern fügte ich Lesen hinzu und gab ihm das Stück Papier.

»Verstehe«, meinte Louis. »Den Beweis für die beiden ersten Punkte auf der Liste hast du mir heute präsentiert. Hast du denn irgendwann mal gesprochen?«

Da ich nicht aussehen wollte, als müsste ich überlegen, beschloss ich, bei der Wahrheit zu bleiben, und nickte.

»Was hat dich verstummen lassen?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Wir sollen dich das nicht fragen, stimmt’s?«, mischte sich Evelyn ein. »Wenn er dazu bereit ist, verrät er es uns schon.«

Ich nickte traurig. Selbst ohne Stimme entwickelte ich mich allmählich zu einem ausgezeichneten Schauspieler.

»Leg doch bitte Holz nach, Louis. Die Abende werden kühler.« Evelyn fröstelte. »Ich kann den Winter nicht leiden. Du, junger Mann?«

Ich schüttelte heftig den Kopf.

»Immerhin bringt das Weihnachtsfest Licht in unser Heim und unsere Herzen, und darauf kann man sich freuen. Magst du Weihnachten?«

Mit geschlossenen Augen erinnerte ich mich an einen Tag, an dem auch bei uns ein munteres Feuerchen im Kamin gebrannt hatte und wir nach der Kirche kleine Geschenke untereinander austauschten. Zum Abendessen hatte es Fleisch gegeben und einige besondere Leckereien. Nun erschien mir das wie ein Bild aus einem Buch, als hätte ich es nicht selbst erlebt.

»Ich hoffe, dass ich genug Geld für die Fahrt hierher weglegen und zu dir kommen kann, maman . Jedenfalls werde ich mich bemühen«, versprach Louis.

»Das weiß ich, chéri . Leider ist das für mich die geschäftigste Zeit des Jahres. Monsieur Landowski gibt gern Feste für seine Freunde, also verschieben wir deinen Besuch vielleicht lieber auf nach Weihnachten, wenn die Zugfahrt nicht mehr so viel kostet.«

»Warten wir’s ab. Aber jetzt muss ich gehen.«

»Natürlich«, meinte Evelyn traurig. »Ich packe dir für die Reise etwas zu essen ein.«

»M aman , bitte bleib, wo du bist.« Louis signalisierte ihr, dass sie nicht aus ihrem Sessel aufstehen solle. »Wir haben reichlich gegessen, und ich habe genug Kuchen im Bauch, um ohne zu verhungern nach Hause zu kommen. Maman hat’s gern, wenn es den Leuten schmeckt, das ist dir vielleicht schon aufgefallen«, fügte er an mich gewandt hinzu.

Ich stand auf, um beim Abschied von Mutter und Sohn nicht zu stören, umarmte Evelyn und schüttelte Louis die Hand.

»Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen. Danke dafür, dass du maman Gesellschaft leistest. Sie braucht jemanden, den sie umsorgen kann, nicht wahr?« Louis schmunzelte.

»Du kennst mich wirklich gut.« Evelyn lachte. »Auf Wiedersehen, junger Mann. Bis morgen.«

»Vielleicht hast du ja das nächste Mal, wenn ich zu Besuch komme, einen Namen, mit dem ich dich anreden kann«, rief mir Louis nach, als ich zur Tür ging.

Auf dem Weg zum Haus dachte ich über Louis’ Worte nach. Über diesen Punkt hatte ich schon viel nachgegrübelt. Meinen wahren Namen würde ich nie wieder jemandem verraten. Was bedeutete, dass ich mir irgendeinen aussuchen konnte. Sobald man allerdings einen Namen hatte, gehörte er einem, selbst wenn er der grässlichste der Welt war. Oft war es das Erste, was die Menschen von einem anderen erfuhren, und es gestaltete sich schwierig, sich wieder davon zu lösen. In den vergangenen Wochen waren mir die unterschiedlichsten durch den Kopf gegangen, denn es gefiel mir nicht, dass die Leute nicht wussten, wie sie mich ansprechen sollten. Ein Name würde ihnen helfen, besonders wenn er kurz und einprägsam war. Doch ein passender wollte mir einfach nicht einfallen.

Nachdem ich ein großes Stück Baguette abgeschnitten und mit Marmelade bestrichen hatte (am Sonntagabend kümmerte sich die Familie selbst um das Essen), ging ich hinauf in mein Zimmer und setzte mich aufs Bett, von wo aus ich durch das kleine Fenster beobachtete, wie die Nacht hereinbrach. Nach einer Weile holte ich mein Tagebuch hervor, um meinem letzten Eintrag ein paar Zeilen hinzuzufügen.

Gerade habe ich zum ersten Mal seit Langem wieder Geige gespielt. Es war herrlich, den Bogen in der Hand zu spüren und dem Instrument Töne zu entlocken …

Da fiel mir der perfekte Name ein.