IV

»Endlich ist die Statue fertig.« Monsieur Landowski schlug erleichtert mit der flachen Hand auf seine Werkbank. »Aber jetzt will dieser verrückte Brasilianer ein maßstabsgerechtes Modell vom Kopf und von den Händen seines Christus. Der Kopf wird fast vier Meter hoch und gerade so in mein Atelier passen, und die Finger werden bis beinahe zu den Dachsparren reichen. Wir werden hier alle im buchstäblichen Sinne unseres Herrn Hand auf uns spüren«, scherzte er. »Und sobald ich das geschafft habe, will da Silva Costa mein Werk in Scheiben schneiden wie einen Rinderbraten und die nach Rio de Janeiro verschiffen. So habe ich noch nie gearbeitet.« Er seufzte. »Wahrscheinlich muss ich mich einfach auf diesen Irrsinn einlassen.«

»Vielleicht bleibt Ihnen keine andere Wahl«, pflichtete Laurent ihm bei.

»Immerhin hilft es, die Rechnungen zu bezahlen, Brouilly. Obwohl ich keine neuen Aufträge annehmen kann, solange sich der Kopf und die Hände unseres Herrn in meinem Atelier befinden. Für etwas anderes ist kein Platz. Frisch ans Werk. Bringen Sie mir die Abdrücke von den Händen der beiden Damen, die Sie vor einigen Monaten gemacht haben. Ich brauche eine Arbeitsgrundlage.«

Laurent verschwand im Lager, um die Abdrücke zu holen. Weil ich die Anspannung der Männer spürte, verließ ich das Atelier, setzte mich auf die Steinbank und schaute in den herrlich klaren Nachthimmel hinauf. Plötzlich bekam ich eine Gänsehaut, und zum ersten Mal war ich froh um meinen Wollpullover. In der Nacht würde es Frost geben, Schnee wohl eher nicht, dachte ich, und ich kannte mich aus. Ich suchte den Himmel ab. Jetzt im November waren diejenigen, die mich hierhergeleitet hatten, gut am nördlichen Sternenhimmel zu sehen. Einige Male hatte ich sie schon schwach blinkend hinter Wolken entdeckt, doch heute Nacht …

Als sich Schritte näherten, zuckte ich wie immer unwillkürlich zusammen. Kurz darauf gesellte sich Laurent zu mir.

»Du magst die Sterne?«, fragte er.

Ich nickte lächelnd.

»Da ist der Gürtel des Orion.« Laurent deutete hinauf. »Und gleich in der Nähe sind die Sieben Schwestern mit ihren Eltern Atlas und Plejone, die über sie wachen.«

Ich beobachtete erstaunt, wie er mit den Fingern die Linien zwischen den Sternen nachzeichnete.

»Mein Vater interessierte sich für Astronomie und hatte ein Teleskop in einem der Speicherräume ganz oben in unserem Château«, erklärte Laurent. »In klaren Nächten hat er es manchmal aufs Dach getragen und mir etwas über die Himmelskörper erzählt. Einmal habe ich eine Sternschnuppe entdeckt. Das war pure Magie.« Er musterte mich. »Hast du Eltern?«

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.

»Tja, ich muss wieder zurück.« Er tätschelte meinen Kopf. »Gute Nacht.«

Nach der Episode mit der Geige hätte ich gerade das zweite Mal fast etwas gesagt. Von allen Sternen hatte er ausgerechnet diese erwähnt … Sie waren bekannt, das wusste ich, aber ich hatte sie von klein auf für mein ganz persönliches Geheimnis gehalten, und es war mir nicht so recht, wenn irgendjemand sonst sie besonders fand.

Lass dich von den Sieben Schwestern leiten, mein Sohn. Die Plejaden wachen immer über dich und beschützen dich, wenn ich es nicht kann …

Ich wusste alles über sie. Als ich ein kleiner Junge war, hatte mein Vater mir uralte Geschichten über sie erzählt. Sie kamen nicht nur in der griechischen Mythologie, sondern auch in zahlreichen Sagen auf der ganzen Welt vor, und in meiner Fantasie waren sie damals real: sieben Frauen, die über mich wachten. Während andere Kinder an Engel glaubten, die ihre daunenweichen Schwingen schützend um sie legten, waren Maia, Alkyone, Asterope, Celaeno, Taygeta, Elektra und Merope für mich wie Mütter. Ich konnte mich glücklich schätzen, gleich sieben zu haben. Wenn in einer Nacht einer dieser Sterne nicht so hell strahlte, taten es dafür die anderen. Sie besaßen unterschiedliche Eigenschaften und Stärken. Wenn man sie zusammennähme, hätte man vielleicht die perfekte Frau, so etwas wie die Heilige Mutter Gottes. Auch später hielt ich immer an der Vorstellung fest, dass die Schwestern real waren und mir zu Hilfe eilen würden, wenn ich sie brauchte. Ich schaute ein letztes Mal hinauf zum Himmel und stand von der Bank auf, um in meine Dachkammer zu gehen und dort zum Fenster hinauszublicken. Ja! Auch von hier aus waren sie zu erkennen.

In jener Nacht meinte ich, einen besonders gesegneten Schlaf zu haben, weil ich wusste, dass meine Beschützerinnen über mich wachten.

***

Mittlerweile hatte sich im Haus herumgesprochen, dass ich Geige spielte.

»Sie wollen dich spielen hören«, teilte Evelyn mir mit. »Am Sonntag.«

Ich verzog den Mund, eher aus Angst als aus Verärgerung. Es war die eine Sache, für die Haushälterin Evelyn zu spielen, eine ganz andere, mein Können vor den Landowskis, speziell Marcel, dem begabten Pianisten, zu beweisen.

»Keine Sorge, du kannst mit der hier üben.« Evelyn gab mir die Geige. »Komm tagsüber hierher, wenn alle beschäftigt sind. Nicht, dass du üben müsstest, aber vielleicht fühlst du dich dann sicherer. Kennst du viele Stücke auswendig?«

Ich nickte.

»Dann wähl mindestens zwei oder drei aus«, riet sie mir.

Also zog ich mich in den folgenden Tagen in Evelyns Häuschen zurück, während sie nebenan arbeitete, vergewisserte mich, dass sämtliche Fenster verschlossen waren und mich niemand im Haupthaus hören konnte, und übte. Evelyn hatte recht gehabt: Meine Finger waren nach den Widernissen meiner langen Reise nicht mehr so geschmeidig und beweglich wie früher. Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich für drei Stücke. Das erste, weil es Eindruck machen würde, ohne große Anforderungen zu stellen. Das zweite, weil es technisch anspruchsvoll war, für den Fall, dass jemand in der Familie sich gut genug mit dem Geigenspiel auskannte, um meine Fähigkeiten beurteilen zu können. Und das letzte, weil es mein absolutes Lieblingsstück war.

Die »Aufführung« sollte am Sonntag vor dem Mittagessen stattfinden. Sogar die Bediensteten durften zuhören. Bestimmt wollten die Landowskis nur freundlich sein und für eine besondere Stimmung sorgen, aber ich kam mir vor, als sollte ich geprüft werden, und das gefiel mir nicht. Egal, wie ihre Gründe tatsächlich aussahen – am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als ihnen meine Fähigkeiten zu präsentieren. Ich hatte große Angst davor, weil ich bis dahin immer bloß vor meinen Eltern gespielt hatte und mir nur die Meinung von Papa wichtig gewesen war. Dieser Auftritt hingegen würde vor einem berühmten Bildhauer und seiner gebildeten Familie stattfinden.

In der Nacht zuvor wälzte ich mich im Bett herum, wäre am liebsten zu Evelyn hinübergelaufen und hätte dort so lange geübt, bis die Geige Teil meiner Hände wurde, wie Papa es mir als Ideal geschildert hatte.

Am Sonntagmorgen spielte ich, bis mir fast die Finger abfielen. Dann sagte Evelyn, ich solle nach oben gehen und mich umziehen. Zuvor machte sie in der Küche hastig eine »Katzenwäsche« mit mir, kämmte mir die Haare nass zurück und wischte mir das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab.

»Fertig.« Sie zog mich lächelnd zu sich heran. »Vergiss nicht, wie stolz ich auf dich bin.« Als sie mich losließ, sah ich Tränen in ihren Augen.

Man holte mich in den Salon, wo die Familie sich, alle mit einem Weinglas in der Hand, um einen großen Kamin versammelt hatte.

»Kein Grund, nervös zu sein, Junge. Spiel, sobald du bereit bist«, forderte Monsieur Landowski mich auf.

Ich klemmte die Geige unters Kinn, schloss die Augen und bat all jene, von denen Papa behauptete, dass sie mich beschützten, mir beizustehen. Dann hob ich den Bogen und begann zu spielen.

Nach dem ersten Stück folgte entsetzliche Stille. Mich verließ jegliches Selbstvertrauen. Was wussten Papa, die Haushälterin oder ihr Ingenieurssohn schon? Ich spürte, wie meine Wangen sich röteten, und wäre am liebsten weinend weggelaufen. Eine Weile schien ich nichts zu hören. Erst als ich mich ein wenig gefangen hatte, vernahm ich das Klatschen. Sogar Marcel wirkte begeistert und beeindruckt.

»Bravo, junger Mann! Bravo«, lobte Monsieur Landowski mich. »Wenn du uns nur sagen würdest, wo du das gelernt hast. Verrätst du es uns?«, fügte er fast schon verzweifelt hinzu.

»Du bist wirklich sehr, sehr gut für dein Alter«, meinte Marcel, dem es gelang, sein Kompliment in Herablassung zu verpacken.

»Ausgezeichnet.« Madame Landowski tätschelte freundlich lächelnd meine Schulter. »Aber jetzt«, fügte sie hinzu, als vom Flur her eine Glocke ertönte, »müssen wir zum Essen hinüber.«

Bei den Horsd’œuvres wurde über mein Können geschwärmt, und beim Hauptgang stellten sie mir Fragen, die ich mit einem Nicken oder Kopfschütteln beantworten sollte. Obwohl ich mich unwohl fühlte, weil sie mein früheres Leben wie ein Spiel betrachteten, wusste ich, dass sie mir wohlgesonnen waren. Wenn ich auf irgendeine ihrer Fragen nichts sagen wollte, musste ich nicht reagieren.

»Du solltest Unterricht bekommen, junger Mann«, verkündete Landowski. »Ich habe einen Freund am conservatoire . Rachmaninow kennt bestimmt einen guten Lehrer.«

»Papa, fürs conservatoire ist er viel zu jung«, mischte sich Marcel ein.

»Mag sein, aber er ist nicht irgendein Schüler. Er besitzt eine außergewöhnliche Gabe. Und das Alter darf dieser Gabe nicht im Weg stehen. Ich werde sehen, was sich tun lässt«, meinte Monsieur Landowski augenzwinkernd.

Marcel machte ein mürrisches Gesicht.

Kurz nach dem Dessert fasste ich einen Entschluss: Ich würde mich Monsieur Landowski gegenüber erkenntlich zeigen. Also schrieb ich etwas auf einen Zettel. Als alle sich erhoben, reichte ich ihm den Zettel mit zitternden Fingern. Ich beobachtete ihn, während er las, was darauf stand.

»Soso«, meinte er schmunzelnd. »Nach deiner Vorstellung vorhin erscheint es fast wie ein Fingerzeig des Schicksals. Hat dieser Name etwas mit deiner Gabe zu tun?«

Ich nickte.

»Gut, dann sage ich den anderen Bescheid. Danke, dass du uns vertraust. Mir ist klar, wie schwer dir das fällt.«

Ich verließ den Raum und rannte hinauf in meine Dachkammer. Dort schaute ich mich im Spiegel an, machte den Mund auf und sprach die Worte laut aus:

»Mein Name ist Bo.«

***

Offenbar war ein Geigenlehrer für mich gefunden worden, denn nach Weihnachten sollte ich nach Paris fahren und ihm vorspielen. Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr freute: darüber, für einen richtigen Musiker spielen zu können, oder darüber, dass ich mit Evelyn in die Stadt fahren durfte.

»Paris«, formte ich mit den Lippen, als ich im Bett lag. Evelyn hatte den Hausmädchen aufgetragen, mir eine dickere Wolldecke zu geben, und mich darunterzukuscheln war nun einer der Höhepunkte des Tages für mich. Ich hatte wieder dieses merkwürdige Gefühl, das ich von früher kannte, als mein Herz noch nicht voller Angst gewesen war. Es kam mir vor, als würde eine kleine Blase von meinem Bauch in meine Brust aufsteigen, sodass sich meine Lippen unwillkürlich zu einem Lächeln verzogen. Das Wort für dieses Gefühl lautete, glaube ich, Aufregung . Fast wagte ich nicht, so zu empfinden, weil das unweigerlich dazu führte, dass ich glücklich war, und vor zu viel Glück musste ich mich in Acht nehmen, denn es konnte ja immer etwas Schreckliches geschehen. Wenn die Landowskis mich doch nicht mehr bei sich haben wollten, wäre es schwerer für mich, wieder allein, bitterarm und hungrig zu sein. Die Geige hatte mich gerettet, mich »faszinierend« gemacht, wie Monsieur Landowski am folgenden Tag Laurent gegenüber im Atelier bemerkte.

Wenn ich also bei ihnen bleiben sollte, musste ich weiter so faszinierend sein wie nur irgend möglich und obendrein nützlich, und das war ziemlich anstrengend. Außerdem wurden eifrig Pläne für das Weihnachtsfest geschmiedet, und alle flüsterten hinter vorgehaltener Hand über Geschenke. Das bereitete mir Kopfzerbrechen, weil ich kein Geld besaß, mit dem ich irgendetwas für jemanden hätte kaufen können. Ich hatte furchtbare Angst, dass mir die netten Landowskis etwas schenkten. Bei einem meiner abendlichen Besuche befragte ich Evelyn dazu.

Sie las von meinem Zettel ab: »›Wie komme ich an Geld für Geschenke? ‹ Ich könnte dir etwas leihen, aber mir ist klar, dass du es nicht nehmen würdest und die Landowskis sich dann möglicherweise fragen, woher du das Geld hast … Wenn du verstehst, was ich meine.«

Wenn sie mich verdächtigten, gestohlen zu haben, würde das meiner Sache sehr schaden.

Evelyn bat mich, den Kakao warm zu machen, während sie über das Problem nachdachte. Als ich die Tasse vor sie hinstellte, war klar, dass sie einen Plan hatte.

»Du versuchst im Atelier doch die ganze Zeit, aus kleineren Steinen etwas zu formen, oder?«

Ich nickte und schrieb auf meinen Zettel: Aber ich kann das nicht besonders gut.

»Wer könnte sich schon mit einem Genie wie Monsieur Landowski messen? Immerhin hast du geübt. Vielleicht solltest du es mit einem weicheren Material wie Holz probieren und sehen, ob du für jedes Familienmitglied etwas schnitzen kannst. Das würde Monsieur Landowski gefallen. Dann hätte er das Gefühl, dass du dir in den Monaten des Zuschauens eine nützliche Fähigkeit erworben hast.«

Ich nickte begeistert. Obwohl Evelyn behauptete, nicht besonders gebildet zu sein, hatte sie oft die besten Ideen.

Also holte ich mir etwas Holz von dem Haufen in der Scheune und setzte mich jeden Morgen, bevor alle aufstanden, an den Arbeitstisch und übte. Evelyns Rat, Holz statt Stein zu nehmen, erwies sich als richtig. Es war, als würde man lernen, erst einmal eine Tin Whistle zu spielen, nicht gleich eine richtige Flöte. Und ich hatte ja auch früher, in meinem alten Zuhause, anderen beim Schnitzen zugesehen.

In meinem alten Zuhause … So nannte ich es inzwischen.

In den drei Wochen vor Weihnachten gelang es mir, für jedes Familienmitglied etwas zu fertigen, von dem ich hoffte, dass es ihm gefiel. Für das Geschenk von Monsieur Landowski, ein hölzernes Ebenbild seiner geliebten Cristo -Statue, brauchte ich am längsten. Darauf verwendete ich genauso viel Zeit wie auf alle anderen Figuren zusammen.

Die vergangenen Wochen waren schwierig für ihn gewesen, denn der für den Cristo Verantwortliche hatte ihm mitgeteilt, dass sich das, was ich »den Mantel des Herrn« nannte (die Betonhülle, die ihn und sein Innenleben stützen würde), nur verschiffen ließe, wenn man es in einzelne Stücke zerteilte. So bestünde während der langen Passage von Frankreich nach Rio geringere Gefahr einer Beschädigung. Monsieur Landowski machte sich große Sorgen. Er meinte, seinen kostbaren Christus begleiten zu müssen, damit ihm nichts passierte. Aber die Reise hin und zurück dauerte einfach zu lange, und er glaubte, die Zeit dafür nicht zu haben, solange Sun Yat-sen und seine Augen noch nicht zu seiner Zufriedenheit fertiggestellt waren.

Ich wusste die perfekte Lösung für alle Beteiligten: Laurent sollte den Cristo begleiten. Monsieur Landowski könnte hierbleiben und Laurent vielleicht die geliebte Frau in Rio treffen … Dann wäre er wieder fröhlicher und würde sich nachts nicht mehr auf den Straßen von Montparnasse herumtreiben (die ich unbedingt sehen wollte, auch wenn Monsieur Landowski sich oft darüber beklagte, dass es dort von Möchtegernkünstlern, Bettlern und Dieben nur so wimmle). Gerade als ich den Vorschlag machen wollte, kam Laurent selbst darauf. Anfangs war Monsieur Landowski skeptisch, weil Laurent in letzter Zeit alles andere als zuverlässig gewesen war. Doch nachdem dieser wiederholt versprochen hatte, wenn nötig, bei den Teilen des Cristo im Frachtraum zu schlafen und keinen Tropfen Alkohol anzurühren, solange er sich in seiner Obhut befände, waren sich alle einig, dass das die beste Lösung wäre. Die Vorfreude in Laurents Augen zu sehen war wunderbar. Ich konnte nur hoffen, ebenfalls irgendwann einmal das zu erleben, was man »Liebe« nannte und Laurent von innen heraus erstrahlen ließ, wenn seine Gedanken zu meinem schönen Engel Bel wanderten.

Freude und Schmerz , dachte ich, als ich meinen kleinen Cristo mit dem nicht völlig symmetrischen Gesicht in das braune Papier wickelte, das Evelyn mir für die Geschenke gegeben hatte. »Du magst nicht perfekt sein, aber immerhin bist du ganz«, sagte ich lächelnd zu ihm.

Die verpackten Figuren verstaute ich in meiner Kommode. Danach ging ich die Treppe hinunter und schlich auf Zehenspitzen in den Salon, um die Tanne zu betrachten, die am heutigen Heiligabend dort aufgestellt worden war. Ich hatte zugeschaut, wie die Mitglieder der Familie Kiefernzapfen mit Bändern an die Äste hängten, und anschließend hatten wir alle ein Paar Schuhe unter den Baum gestellt, die Père Noël mit Geschenken füllen sollte. Das sei eine alte französische Tradition, hatte Monsieur Landowski mir erklärt, an der auch die Erwachsenen ihre Freude hätten. Am Ende hatten sie Kerzen an die Zweige gesteckt und sie, als es dunkel wurde, angezündet. Etwas Schöneres hatte ich nie gesehen.

»Na, schaust du ihn dir auch an, Junge?«

Die Stimme des Menschen, an den ich gerade gedacht hatte, ließ mich zusammenzucken. Als ich mich umwandte, erblickte ich Monsieur Landowski, der mich noch nicht mit meinem neuen Namen anredete.

»Wenn ich am Heiligabend den Weihnachtsbaum betrachte, kommt mir immer Tschaikowskys Musik in den Sinn. Kennst du den Nussknacker

Ich nickte. Allerdings nicht gut, gab ich mit einer Geste zu verstehen. Papa hatte Tschaikowsky nicht sonderlich gemocht und stets geklagt, er habe seine Musik komponiert, um den Zuhörern zu gefallen. Meinem Vater war sie technisch nicht anspruchsvoll genug gewesen.

»Wahrscheinlich weißt du nicht, dass Tschaikowsky während seines Aufenthalts in Paris ein Instrument hatte, das Celesta heißt und ihn zu seinem ›Tanz der Zuckerfee‹ inspirierte. Hinterher ist er mit frischer Energie nach Russland zurückgekehrt.«

Das wusste ich tatsächlich nicht.

»Kannst du die Ouvertüre spielen?«

Ich zuckte unsicher mit den Achseln. Früher einmal hatte ich sie natürlich gekonnt, aber nun würde ich Übung brauchen.

»Möglicherweise hilft dir das hier, dich zu erinnern. Ich wollte gerade zu dir nach oben gehen, um es dir zu geben, weil ich mir dachte, vielleicht ist es dir peinlich, wenn ich es dir vor versammelter Familie überreiche«, fügte er hinzu.

Im trüben Licht des Baumes sah ich, wie er einen Geigenkasten hinter dem Rücken hervorholte.

»Die haben meine Eltern mir besorgt, als ich ein Kind war. Leider besitze ich keine große Begabung dafür. Trotzdem habe ich sie behalten, wie man das mit Geschenken von den Eltern eben macht. Des sentimentalen Wertes wegen, du weißt schon …«

Ja, das wusste ich allerdings. Kurz war ich hin und her gerissen zwischen der Trauer über alles, was ich bei meiner Flucht hatte zurücklassen müssen, und der Freude über Monsieur Landowskis Gabe.

»In deinen fähigen Händen ist sie besser aufgehoben als oben auf meinem Schrank, wo sie nur Staub ansetzt.«

Unwillkürlich machte ich den Mund auf, so überwältigt war ich von seiner Großzügigkeit und den Möglichkeiten, die sich mir mit einer eigenen Geige eröffneten. Fast hätte ich etwas gesagt. Am Ende betrachtete ich nur das Instrument und küsste es, bevor ich Monsieur Landowski unbeholfen umarmte. Nach einigen Sekunden schob er mich an den Schultern von sich weg.

»Vielleicht wirst du mir eines Tages doch noch genug vertrauen, um den Dank auszusprechen, der dir auf der Zunge liegt. Aber fürs Erste wünsche ich dir fröhliche Weihnachten.«

Ich schaute ihm nach, wie er den Raum verließ.

Da die Hausmädchen unten in der Küche Alkohol tranken, der wie Petroleum roch, und Lieder sangen, die sich für mich nicht allzu sehr nach Weihnachten anhörten, konnte ich oben in meinem Zimmer den Geigenkasten aufs Bett legen und aufklappen. Dabei klopfte mein Herz wie wild. In dem Kasten befand sich ein Instrument, das für einen kleinen Menschen wie seinen ursprünglichen Besitzer oder mich gemacht war. Es wäre bedeutend leichter zu handhaben als die große Violine, die Evelyn mir freundlicherweise geliehen hatte. Als ich es ehrfurchtsvoll herausholte, sah ich die Kratzer auf dem schimmernden Walnussholz und den Staub auf den Saiten.

Ich setzte mich, hielt die Geige vor den Mund und blies, sodass der Staub aufwirbelte. Dann zog ich ein Tuch aus der Tasche und wischte die Saiten ab, nahm den Bogen in die Hand und klemmte die Violine unters Kinn. Ich hob den Bogen, schloss die Augen und begann zu spielen.

Mein Herz tanzte, als ich den weichen Klang dieses herrlichen Instruments hörte. Natürlich musste es nach all den Jahren gestimmt werden, aber das war nicht kompliziert. Inspiriert durch Monsieur Landowskis Geschichte über den Nussknacker spielte ich die ersten Takte der Ouvertüre. Plötzlich begann ich laut lachend im Zimmer herumzutanzen und ein fröhliches Volkslied zu fiedeln, das ich oft zu Hause gespielt hatte, wenn die Dinge sich schwieriger gestalteten als sonst. Schwer atmend und ein wenig schwindelig musste ich mich kurze Zeit später aufs Bett setzen und einen Schluck Wasser aus der Flasche auf dem Nachtkästchen trinken.

Noch ein Jahr zuvor hatte ich nicht geglaubt, ein weiteres Weihnachtsfest zu erleben, doch nun war ich hier und glücklich, wie Klara, als sie erkennt, dass alles bloß ein Traum gewesen ist. Oder vielleicht ein neuer Anfang.

Ich strich ein letztes Mal mit großer Geste über … mein Instrument, bevor ich es in den Kasten zurücklegte und diesen unter der Decke am Fußende meines Betts verstaute, sodass ich ihn mit den Zehen berühren konnte.

Den Kopf auf dem Kissen, sagte ich lächelnd: »Ich bin Bo, und für mich wird es ein glückliches Ende geben.«