Nach einer sehr fröhlichen Woche im Haushalt der Landowskis, besonders nach dem Fest am Silvesterabend, zu dem Monsieur Landowski viele Künstlerfreunde eingeladen hatte, zählte ich die Tage bis zu meinem Vorspiel bei dem Geigenlehrer. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, mir seinen Namen zu nennen, und letztlich war er mir auch egal, denn wer am conservatoire von Rachmaninow unterrichtete, konnte eigentlich nur beeindruckend sein.
Ich übte so viel, dass sich die Hausmädchen beklagten, sie müssten sich wegen der »Katzenmusik« auf diesem »Ding« die Ohren mit dem Kissen zuhalten, und außerdem sei es »nach Mitternacht«!
Nach einem Blick auf die Uhr entschuldigte ich mich bei ihnen, denn sie hatten recht. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Als der große Tag endlich da war, gab mir Evelyn eine graue Jacke von Marcel, die ich über mein Hemd und den Wollpullover anziehen sollte.
»Wir müssen uns auf den Weg machen. Der Bus hat seinen eigenen Fahrplan, und der ist nicht immer der gleiche wie der an der Haltestelle.«
Während wir die Straße entlang in den Ort gingen, redete sie weiter. Ich war in Gedanken nicht bei ihr, selbst dann nicht, als sie frustriert auf und ab zu laufen begann und sich bei den anderen Wartenden über die Unzuverlässigkeit der Busse beklagte. Lächerlich, bemerkte sie. In Boulogne-Billancourt würden zwar Autos und Flugzeuge hergestellt, aber der Bus komme nicht pünktlich. Ich war mit dem Kopf woanders, sah die Noten vor meinem geistigen Auge, versuchte mich an das zu erinnern, was Papa mir beigebracht hatte, dass man »die Musik leben« und »ihre Seele spüren« müsse. Sogar während der Fahrt nach Paris, worüber mir Papa so viel erzählt hatte, hielt ich die Augen geschlossen, weil später noch Gelegenheit sein würde, die Stadt in ihrer ganzen Schönheit zu bewundern. Im Moment waren mir nur die Geige wichtig, die in ihrem Kasten auf meinem Schoß lag, und die Noten, die ich darauf spielen würde.
»Komm schon, junger Mann«, drängte Evelyn, die mich, weil ich die Violine an meine Brust presste, nicht an der Hand halten konnte. Ich bemerkte die zahlreichen Passanten, die Bäume und … ja! Ein Bauwerk, das ich sofort erkannte. Den Eiffelturm. Nach einer Weile blieb Evelyn stehen.
»Da wären wir: Rue de Madrid 14. Lass uns reingehen.«
Mein Blick wanderte das mächtige Sandsteingebäude empor, das fast die gesamte Länge der Straße einnahm. Ich zählte drei Stockwerke mit hohen Fenstern, darüber niedrigere Speicheretagen. Eine Messingplakette wies das Bauwerk als das berühmte Conservatoire de Paris aus.
Bevor wir es betraten, zog Evelyn ihren Lippenstift nach und schob die Haare, die sich gelöst hatten, unter ihren Festtagshut. Im Innern des Konservatoriums befand sich ein prachtvoller Warteraum mit Porträts von alten Komponisten. In der Mitte des hochglanzpolierten Holzfußbodens stand ein runder Empfangstisch, an dem eine Frau saß. Durch die Fenster strömte Licht von der Straße und einem großen Park herein.
Ich war sehr froh, als die streng dreinblickende Dame am Empfang uns endlich mitteilte, wir sollten Raum vier im zweiten Stock aufsuchen. Dabei deutete sie auf so etwas wie einen Käfig, in dem gut und gerne ein Bär Platz gehabt hätte. Ich eilte in Richtung der Treppe, doch Evelyn zog mich zu dem Käfig und drückte auf einen Knopf daneben.
»Wenn du denkst, ich laufe zwei Stockwerke zu Fuß hoch, obwohl es einen Aufzug gibt, hast du dich geschnitten.«
Gerade als ich sie fragen wollte, was ein »Aufzug« sei, fuhr in dem Käfig ein Kasten nach unten. Da erschloss sich mir der Sinn des Wortes. Interessant, dachte ich, ging aber lieber kein Risiko ein. Ich deutete auf die Treppe und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Oben neben einem weiteren Käfig angekommen, der aussah wie der im Erdgeschoss, konnte ich Evelyn nirgends entdecken. Ich fürchtete bereits das Schlimmste, als plötzlich ein Surren erklang und der Kasten von unten auftauchte. Kurz darauf öffnete sich die Tür, Evelyn zog die Vorderseite des Käfigs weg und stieg wohlbehalten aus.
»So etwas hast du also noch nie gesehen, stimmt’s?«, stellte sie fest.
Ich schüttelte staunend den Kopf.
»Vielleicht magst du ja nachher mit mir darin hinunterfahren. Dann kannst du dich jetzt schon auf etwas freuen, egal, wie die Sache ausgeht. Aber zuerst müssen wir Zimmer vier finden.« Wir betraten einen Flur, hinter dessen verschlossenen Türen unterschiedliche Instrumente zu hören waren. Als wir Raum Nummer vier erreichten, klopfte Evelyn energisch an der Tür. Keine Reaktion. Kurz darauf klopfte sie ein zweites Mal.
»Niemand da.« Sie zuckte mit den Achseln, drehte vorsichtig den Knauf an der Tür und drückte diese so weit auf, dass genug Platz war, um den Kopf einschließlich Hut durch den Spalt hindurchzustrecken und hineinzuschauen.
»Tatsächlich niemand da. Dann werden wir wohl warten müssen.«
Mir ist klar, dass Menschen übertreiben, wenn sie von einem Augenblick behaupten, er sei der schönste, der schlimmste oder der längste ihres Lebens gewesen, doch die Zeit, die wir vor Zimmer vier auf die Person warteten, die mir irgendwann sagen würde, ob ich gut genug sei, um von ihr unterrichtet zu werden, kam mir tatsächlich sehr lang vor. Schlimmer noch: Da ich von meinem Platz aus den Aufzug sehen konnte, stellte ich mir jedes Mal, wenn er surrend nach oben fuhr, vor, dass der Mensch darin über mein Schicksal entscheiden würde. Aber alle verschwanden entweder in die andere Richtung oder gingen an uns vorbei.
»Also wirklich«, stöhnte Evelyn, die ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, weil ihr das Stehen wehtat, »wer dieser Lehrer auch sein mag – er ist schrecklich unhöflich.«
Als sie schließlich murmelte, offenbar liege ein Irrtum vor, wir würden das Gebäude verlassen, öffnete sich eine Tür ein Stück weiter den Flur hinunter. Ein schmaler junger Mann mit sehr blasser Haut und dunklen Haaren trat heraus, eilte auf uns zu – er machte einen leicht angetrunkenen Eindruck auf mich – und blieb vor uns stehen.
»Entschuldigen Sie bitte. Nach meinem letzten Schüler wollte ich mich ein wenig ausruhen. Leider bin ich eingeschlafen.« Er streckte Evelyn die Hand hin. Sie ergriff sie zögernd.
»Madame, petit monsieur , bitte verzeihen Sie mir«, wiederholte er. »Ich arbeite jeden Tag sehr lange und kann nachts oft nicht schlafen. Madame, nun, da Sie Ihre kostbare Fracht zu mir gebracht haben, würde ich vorschlagen, dass Sie mit dem Aufzug nach unten fahren und im Eingangsbereich warten, wo es einen bequemen Stuhl gibt. Sagen Sie Violetta, Ivan bittet sie, Ihnen eine Kanne Tee oder Kaffee zu kochen, je nachdem, was Ihnen lieber ist.«
Obwohl sie erleichtert wirkte, war ihr nicht wohl dabei, mich in der Obhut eines Mannes zu lassen, den sie ganz offensichtlich merkwürdig fand. Aber am Ende siegten ihre Füße.
»Sobald du fertig bist, kommst du gleich hinunter, hast du verstanden, Bo?«
Ich nickte.
»Sie wissen, dass er stumm ist?«, fragte sie Monsieur Ivan.
»Ja, doch die Musik wird für dich sprechen, nicht wahr?«, sagte er zu mir, öffnete die Tür und schob mich in Raum Nummer vier.
Während ich später am Abend in mein Tagebuch schrieb – und gleich anschließend in meine geheimen Aufzeichnungen, zu denen dieser Text gehört –, erinnerte ich mich nur vage an die Zeit, die ich mit Monsieur Ivan verbracht hatte. Zuerst bat er mich, ihm meine »Vorzeigestücke« zu präsentieren. Danach gab er mir Noten, um zu überprüfen, wie gut ich vom Blatt spielen konnte, und anschließend machte er mir auf der Geige Tonleitern und Arpeggien vor, bei denen ich ihm folgen sollte. All das ging ziemlich schnell. Am Ende forderte er mich auf, mich auf einen Stuhl an einem kleinen Holztisch zu setzen.
Als er einen Stuhl für sich herausrückte, warf er fluchend einen Blick auf seinen Finger und sagte etwas auf Russisch.
»Ich habe mir einen Splitter eingezogen, den muss ich heute Abend zu Hause herausholen. Die kleinsten Dinge können die schlimmsten Schmerzen verursachen, nicht wahr?«
Meine Antwort war letztlich unwichtig. Trotzdem nickte ich. Ich wollte diesem Mann gefallen, mehr als jedem anderen Menschen, seit Papa mich verlassen hatte.
»Wie können wir miteinander kommunizieren, wenn du nicht sprichst?«
Auf diese Frage war ich vorbereitet. Ich holte Zettel und Stift aus der Tasche.
»Du heißt also Bo?«
Ja , schrieb ich.
»Wie alt bist du?«
Zehn.
»Wo sind deine Eltern?«
Meine Mutter ist tot, und wo mein Vater ist, weiß ich nicht.
»Woher stammst du?«
Ich weiß es nicht.
»Das glaube ich dir nicht, petit monsieur , und ich habe da auch schon einen Verdacht, aber du kennst mich ja kaum, und wir émigrés verraten nicht gern etwas über uns, stimmt’s?«
Stimmt , schrieb ich, gerührt darüber, dass er mich verstand und nicht seltsam fand wie alle anderen.
»Wer hat dir das Geigespielen beigebracht?«
Papa.
»Wie lange ist deine letzte Unterrichtsstunde her?«
Ich versuchte mich zu erinnern, war mir jedoch nicht sicher. Also schrieb ich:
Drei oder vier Jahre.
»Mir ist noch nie ein so junger Mensch mit so erstaunlichen Fähigkeiten begegnet. Du besitzt eine natürliche Musikalität, die deine technischen Schwächen kaschiert. Mich hat beeindruckt, dass du nicht nervös geworden bist, obwohl diese Chance, am conservatoire unterrichtet zu werden, dir vermutlich alles bedeutet, oder?«
Ja .
»Hmmm …«
Er strich sich mehrmals übers Kinn, während er abwog, ob es sich lohne, mir Stunden zu geben.
»Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, kommen viele Eltern mit ihren Genies zu mir, die die besten Geigen und Vorortlehrer haben und zu endlosem Üben gezwungen werden. Selbst wenn sie technisch deutlich besser sind als du, kann ich in ihrem Spiel oft ihre Seele nicht spüren. Mit anderen Worten: Sie sind nichts weiter als Äffchen, sozusagen eine Verlängerung des elterlichen Egos. Bei dir ist das eindeutig nicht so, einerseits weil du Waise bist, und andererseits weil der Mann, der dich bei sich aufgenommen hat, seine Freunde nicht mit einem fremden Kind beeindrucken muss. Er ist selbst beeindruckend genug. Also … Dein Spiel ist fehlerhaft und – ich will nichts Schlechtes über deinen Papa sagen, aber er war kein Berufsmusiker, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Dabei hatte ich das Gefühl, Papa zu verraten.
»Schau nicht so traurig drein, petit monsieur . Ich sehe, dass er dich mit Liebe unterrichtet hat. In dir hat er eine Begabung gefunden, die bedeutend größer ist als seine eigene. Welche Schule besuchst du momentan?«
Keine. Weil ich nicht sprechen kann.
»Obwohl es mich nichts angeht: Das ist nicht gut. Ich weiß, du kannst reden. Das merke ich, wenn wir uns unterhalten. Du musst dich jedes Mal beherrschen, um nichts zu sagen. Aber du befindest dich in Gesellschaft guter, freundlicher Menschen, und egal, welche schrecklichen Dinge von früher dich jetzt am Sprechen hindern: Ich hoffe für dich, dass du es eines Tages wieder tun wirst. Das sage ich dir als jemand, der, seit er Russland verlassen hat, ebenfalls viel erdulden musste. So viel Leid, so viele Kriege in so wenigen Jahren … Du und ich, wir sind beide ein Resultat davon. Ich möchte dir einen Rat geben, junger Freund: Lass nicht die schlechten Menschen gewinnen, ja? Sie haben dir so viel geraubt – deine Vergangenheit, deine Familie. Lass dir von ihnen nicht auch noch die Jugend nehmen.«
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir Tränen in die Augen traten. Ich nickte, holte ein Tuch hervor und wischte sie ab.
»Oje, jetzt habe ich dich zum Weinen gebracht. Das tut mir leid. Manchmal rede ich zu offen. Aber ich habe eine gute Nachricht für dich. Weil du nicht in die Schule musst, kann ich leichter einen Platz in meinem Tagesplan für dich finden. Lass mich nachsehen …«
Er nahm einen schmalen Kalender aus der Jackentasche und blätterte die Seiten für den Januar um.
»Wir fangen mit zwei Stunden pro Woche an. Ich habe ein gutes Gefühl bei dir. Und jetzt begleite ich dich hinunter zu deinem Kindermädchen. Sie scheint eine nette Frau zu sein.« Er verließ den Raum und ging zum Aufzug.
Ich folgte ihm.
Dann fiel mir etwas ein, und ich notierte hastig eine Frage.
Wie viel kostet eine Stunde?
»Darüber rede ich mit Monsieur Landowski. Wir émigrés müssen zusammenhalten, nicht wahr?«
Er klopfte mir so fest auf den Rücken, dass ich fast in den Aufzug gefallen wäre. Sobald wir drinnen waren, zog er die Tür zu, drückte auf einen Knopf, und schon fuhren wir nach unten. Ob sich Vögel beim Fliegen so fühlen?, überlegte ich. Ich bezweifelte es. Doch es machte Spaß, und ich freute mich schon darauf, es bald zweimal die Woche zu machen. Vorausgesetzt Monsieur Landowski und Monsieur Ivan konnten sich über den Preis einigen.
»Madame, Ihr Junge war ein Triumph! Ich nehme ihn gern unter meine Fittiche, jeweils dienstags um elf und freitags um zwei Uhr. Sagen Sie bitte Monsieur Landowski, ich rufe ihn an, um die Einzelheiten zu besprechen. Ich wünsche eine gute Heimfahrt.« Er zwinkerte uns lächelnd zu und entfernte sich.