Merry
Der Wagen, der uns vom Flughafen zum Port de Nice brachte, war genauso feudal ausgestattet wie der Jet. Obwohl ich diese Reise nur widerwillig angetreten hatte, musste ich zugeben, dass ich den damit verbundenen Luxus genoss. Ich öffnete sämtliche Fenster und erfreute mich am frischen Duft der Kiefern. Die Sonne war kaum aufgegangen, aber ich spürte bereits, dass es später heiß werden würde.
Da es noch früh am Tag war, konnte die Limousine direkt bis zum Pier fahren. Im Hafen war jeder verfügbare Platz mit prachtvollen Booten besetzt. Zwischen den riesigen Jachten, die mit großem Geschick in die schmalen Lücken manövriert worden sein mussten, lagen jeweils nur wenige Zentimeter. Beim Gedanken daran, wie viel die Reparatur eines zerkratzten Schiffsrumpfs kosten würde, überlief mich ein Schauder. Sämtliche Boote schienen ihr eigenes Bordpersonal zu haben, das polierte, fegte, den Tisch fürs Frühstück deckte … Ich empfand das Ganze als furchtbar klaustrophobisch. Vielleicht lag das daran, dass ich an die weite, offene Landschaft der Weingüter im Gibbston Valley und die sanften grünen Felder von West Cork gewöhnt war.
»Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich mir ein riesiges Stück Land irgendwo im Nichts kaufen, Georg, und mich nicht hier einquetschen lassen wie eine Sardine. Wie soll man so seine Ruhe haben?«
»Ich neige dazu, Ihnen beizupflichten. Soweit ich weiß, verbringen die meisten Leute den gesamten Sommer im Hafen und fahren nur selten hinaus aufs Meer. Für die Mehrzahl der Eigentümer sind diese Jachten lediglich ein Statussymbol.«
»Ist die Titan das denn nicht auch?«
»Nein. Da muss ich deutlich widersprechen. Für Atlas war die Titan eine Zuflucht.«
»Eine Zuflucht?«, wiederholte ich.
»Ja. Wenn er … dem Stress des Lebens … entfliehen wollte, konnte er mit seinen Töchtern an Bord dieser Jacht gehen und an jeden beliebigen Ort der Welt reisen, das wusste er.«
Mir war Georgs kurzes Stocken aufgefallen. Die Limousine blieb am Ende des Piers stehen.
»Welche der Jachten ist es nun? Mir ist jede recht. Ich bin da nicht wählerisch.« Der Fahrer hielt mir die Tür auf und hob wenig später mein Gepäck aus dem Kofferraum. Zum Glück hatte ich sowieso eine Weltreise vorgehabt, weswegen ich gut ausgestattet war. Sogleich nahm ein anderer Mann im marineblauen Poloshirt dem Fahrer das Gepäck ab. »Ist es das? Das Schiff ganz am Ende?« Ich deutete auf die letzte Jacht am Pier.
»Nein, Merry«, antwortete Georg. Der Bursche, der meinen Koffer trug, marschierte schnurstracks an dem Schiff vorbei, das ich für die Titan gehalten hatte, und weiter zu einem hölzernen Anlegesteg, der ins Wasser hinausragte. »Die Titan liegt in der Bucht vor Anker. Wir fahren mit einem Boot hinüber.« Georg deutete auf eine Jacht, verglichen mit der die anderen im Hafen wie Spielzeugboote aussahen.
»Gütiger Himmel!« Sie war prächtig, das musste ich schon sagen. Ich zählte nicht weniger als vier Ebenen, und der gigantische Mast mit einer Unzahl von Satellitenschüsseln unterschied sie deutlich von allen anderen Schiffen rundherum. »Jack und Mary-Kate haben mir gesagt, dass sie riesig ist, aber … das da … wow! Vielleicht sollte ich meine Bemerkung von wegen eingequetschten Sardinen zurücknehmen.«
Georg schmunzelte.
»Guten Morgen, Sir«, begrüßte ihn der junge Mann, der meinen Koffer auf dem Steg abgestellt hatte und zu uns zurückgekehrt war. »Ist das das einzige Gepäckstück?«
»Ja, danke«, antwortete Georg.
»Sehr wohl. Der Kapitän ist persönlich mit dem Boot hergekommen.« Der Bursche sah mich an. »Wenn Sie mir zum Ende der Anlegestelle folgen würden, Madame.«
Ich tat ihm den Gefallen. Auf dem Boot erwartete uns ein attraktiver, gebräunter Mann mit grau melierten Haaren, der eine Brille mit Schildpattgestell trug.
»Für diese frühe Uhrzeit sind Sie sehr gut gekleidet«, bemerkte ich.
»Normalerweise hätte ich Victor allein geschickt, um Sie abzuholen, aber Sie sind ein ganz besonderer Gast. Es ist mir ein Vergnügen, Sie an Bord zu bringen. Mein Name ist Hans Gaia.« Er streckte mir die Hand hin und schüttelte sie, bevor er mir aufs Boot half. »Ich bin der Kapitän der Titan .«
»Vielen Dank, Hans. Tut mir leid, wenn Ihr ganz besonderer Gast Sie enttäuschen sollte. Ich habe die letzten achtundvierzig Stunden kein Auge zugetan.«
»Mrs McDougal, Sie enttäuschen mich keineswegs. Vielmehr fühle ich mich geehrt, Sie willkommen zu heißen. Ich habe Ihren Vater viele Jahre lang gekannt; er war immer gut zu mir. Er würde sich sehr freuen, Sie endlich auf seinem schwimmenden Zuhause begrüßen zu können.«
»Ähm … danke noch mal, dass Sie meinetwegen so früh aufgestanden sind.«
»Guten Morgen, Herr Hoffman. Willkommen zurück.« Er nickte Georg zu.
»Danke, Hans.«
»Dann lassen Sie uns jetzt zur Jacht hinüberfahren. Victor, wir können los.« Der Helfer löste die Leinen von dem Betonpfeiler und sprang an Bord. »Wir sind gleich da, Mrs McDougal.«
»Ist sonst schon jemand wach?«
»Soweit ich weiß, nicht. Victor, ist dir jemand begegnet?«
»Nein, Käpt’n.«
Bereits die Begrüßung durch Kapitän Hans empfand ich als sehr emotional, und er war ja nur der Mann, der das Schiff lenkte. Eins stand fest: Wer auch immer dieser Atlas gewesen war – sein Personal war ihm treu ergeben. Ob ich in der Lage wäre, gleich eine Wiedervereinigung der »Familie« zu ertragen, wusste ich nicht. Im Moment wünschte ich mir eigentlich nur ein Bett, in dem ich ein paar Stunden lang schlafen konnte.
»Sobald wir an Bord sind, sorge ich dafür, dass das Tagebuch sechsmal kopiert wird«, versprach Georg, als wir die kurze Strecke über das ruhige Wasser zurücklegten.
»Danke, Georg. Das hat keine Eile. Ehrlich gesagt möchte ich erst mal nur mein müdes Haupt niederlegen.«
Sobald Victor den Koffer ausgeladen und Kapitän Hans mir an Bord geholfen hatte, wurde ich die Stufen zum Achterdeck hochgeführt und dann in den großen Salon, wo Georg mir den Zimmerplan zeigte, der an einer riesigen Pinnwand aus Kork hing.
»Schauen wir mal … Deck zwei, Suite eins. Wunderbar. Die ist gleich neben denen Ihrer Kinder.«
»Himmel, Georg, das sind ganz schön viele Namen … Haben alle Schwestern ihre Partner dabei?«
»Ja. Wie Sie sich vorstellen können, ist diese Fahrt emotional sehr bedeutsam für sie, weshalb sie beschlossen haben, ihre jeweilige bessere Hälfte mitzunehmen.«
»Haben denn sämtliche Schwestern eine bessere Hälfte ?« Ich hob eine Augenbraue. Die Glucke in mir dachte sofort an Jack. Ich wusste ja, dass seine Hauptmotivation für den Aufenthalt auf dieser Jacht eine gewisse junge Frau mit rotgoldenen Locken war.
»Alle bis auf Ally, das ist die zweite Schwester. Aber sie hat ihren kleinen Sohn Bär dabei.«
Müde, wie ich war, konnte ich meine Überraschung nicht verhehlen.
»Alles in Ordnung, Merry?«
»Ja, ja, danke. Sind viele Kinder an Bord?«
»Noch zwei. Valentina, die Tochter von Maias Partner Floriano, und Rory, der Sohn von Maus – das ist Stars Freund. Der kleine Rory ist taub, kann allerdings sehr gut von den Lippen ablesen.«
»Dann ist ja ganz schön was los auf dem Schiff. Schätze, Sie müssen ein bisschen Geduld mit mir haben. So schnell werde ich mir die Namen nicht merken können.«
»Keine Sorge. Soll ich Ihnen Ihre Kabine zeigen?«
»Ja, danke, gern. Ich …« Plötzlich wurde mir leicht schwindelig. Da kam mir zu Bewusstsein, dass ich nicht nur unter Schlafmangel litt, sondern seit dem Irish Coffee am Nachmittag des Vortages in Belfast nichts mehr zu mir genommen hatte. »Kann ich zuerst ein bisschen frische Luft schnappen, Georg? Mir dreht sich alles.«
»Natürlich, haken Sie sich bei mir unter.«
Georg führte mich hinaus aufs Sonnendeck zu einer aus tiefen Kissen bestehenden Sitzlandschaft im hinteren Bereich.
»Ich hole Ihnen eine Flasche Wasser. Tut mir leid, aber um diese Uhrzeit sind vom Personal noch nicht so viele auf den Beinen. Kommen Sie kurz allein zurecht?«
»Klar.«
Georg eilte davon.
Ich versuchte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren und meinen pochenden Herzschlag zu beruhigen. Wie befürchtet, war ich tatsächlich überwältigt. Mitten auf dem Meer mit diesen Fremden, ihren Partnern und wer sonst noch dazu gehörte zusammen zu sein, ganz zu schweigen von den Enthüllungen, die von mir gefordert wurden, war Stress pur. Als ich die Augen zumachen wollte, hörte ich ein Geräusch – Schritte auf dem Deck. Ich erwartete, Georg mit einer Flasche Mineralwasser auf mich zuhasten zu sehen, doch stattdessen stand ein groß gewachsener, durchtrainierter Mann, den ich nicht kannte, vor mir. Seine Muskeln wölbten sich unter der enganliegenden Laufmontur. Der grauen Strähnen in seinen Kraushaaren wegen schätzte ich ihn auf Ende dreißig.
»Hi«, begrüßte er mich mit amerikanischem Akzent.
»Hallo.«
»Alles klar? Sie sind ein bisschen, äh … blass um die Nase.«
»Ja, danke. Georg wollte mir eine Flasche Wasser holen.«
»Georg … das ist der Anwalt, stimmt’s?«
»Ja. Wussten Sie das nicht?«
»Sorry, darf ich mich vorstellen? Ich bin Miles und begleite Elektra.«
»Das Model, richtig?«
»Genau. Und Sie müssen Mary sein.«
»Ja. Aber die meisten Leute nennen mich Merry.«
»Hier, nehmen Sie einen Schluck davon.« Miles hielt mir eine Flasche mit leuchtend blauem Inhalt hin, der sehr künstlich wirkte. »Das ist ein Isodrink. Weil man den an Bord wahrscheinlich nicht kriegen würde, habe ich ausreichend Vorrat aus den Staaten mitgebracht.«
Ich trank einen Schluck von der kühlen süßen Flüssigkeit, die nicht so furchtbar schmeckte, wie sie aussah.
»Danke.«
»Gern geschehen. Ich stehe immer früh auf und mache Sport. Eigentlich wollte ich im Fitnessraum aufs Laufband, doch dieses Schiff ist so verdammt groß, und weil sonst noch niemand unterwegs ist, dachte ich mir, es ist eine Schande, den Sonnenaufgang zu verpassen. Ein paar Runden ums Deck, dann bin ich fit für den Tag.«
»Cheers.« Ich nahm einen weiteren Schluck von dem blauen Getränk. »Tut mir leid, nun trinke ich Ihnen Ihren wertvollen Vorrat weg.«
»Ach was. Sie scheinen ganz schön anstrengende vierundzwanzig Stunden hinter sich zu haben.«
»Das können Sie laut sagen, Miles.«
»Ich weiß, wie sehr Elektra sich darauf freut, Sie kennenzulernen. Und die anderen auch.« Er grinste mich aufmunternd an.
»Darf ich ehrlich zu Ihnen sein, Miles? Genau das bereitet mir Kopfzerbrechen.«
»Das kann ich verstehen. Natürlich lässt sich unser beider Situation nicht vergleichen, aber für mich ist das alles hier auch sehr ungewohnt. Ich kenne Elektra noch nicht so lange und war erstaunt, dass sie mich gebeten hat, sie zu begleiten. Offen gestanden war ich tagelang ziemlich nervös.«
»Was machen Sie? Sind Sie Schauspieler? Oder Fotograf oder so etwas?«
»Nein, längst nichts so Aufregendes. Ich bin Anwalt.«
Ich tadelte mich selbst dafür, vorschnell Schlüsse gezogen zu haben, weil er mit einem Supermodel zusammen war. Miles wirkte in seiner höflichen, sachlichen Art beruhigend auf mich.
»Wie haben Sie und Elektra sich denn kennengelernt?«
Miles blickte aufs Meer hinaus. »Nun, wir hatten … ähnliche Interessen. Wir sind uns auf einer Ranch in Arizona begegnet. Übrigens war es gestern Abend sehr vergnüglich mit Ihren beiden Kindern. Jack und Mary-Kate haben beim Essen alle unterhalten. Gott sei Dank waren sie dabei. Sie haben dafür gesorgt, dass das Gespräch nie eingeschlafen ist. Es hätte durchaus schwierig werden können. Bei so vielen Fremden und so einer emotionalen Situation für die Schwestern …«
»Das sieht den beiden gleich. Wenn Menschen aus Down Under eins können, ist es reden.«
»Allerdings! CeCes Freundin – ich glaube, sie heißt Chrissie – kommt aus Australien. Und die ist genauso wie Ihre beiden.«
»Sie sind also aus Amerika, und Chrissie stammt aus Australien … Sollte ich noch über irgendwelche Leute Bescheid wissen, die aus exotischen Weltgegenden kommen?«
»Das hängt von Ihrer Definition von ›exotisch‹ ab. Maias Partner Floriano und seine Tochter Valentina sind aus Brasilien. Doch auch die anderen Schwestern haben erstaunliche Geschichten zu erzählen. Ihr Vater – Ihr Vater – hat Hinweise auf ihre Herkunft für sie hinterlegt und die Koordinaten ihrer Geburtsorte auf einer Skulptur im Garten der Familie eingravieren lassen. Sie nennen das Ding eine Armillarsphäre. Mit ihrer Hilfe hat sich herausgestellt, dass er Kinder aus aller Welt adoptiert hat …«
»Er scheint ein aufregendes Leben geführt zu haben.«
»Sie auch, wie es sich anhört. Jack und Mary-Kate haben uns von Ihren letzten Wochen erzählt. Keine Ahnung, wie Sie die bewältigt haben. Dass die Schwestern Ihnen rund um den Globus gefolgt sind, muss Sie zu Tode erschreckt haben. Sie scheinen ein sehr starker Mensch zu sein, sonst wären Sie jetzt nicht auf dieser Jacht. Ihre Kinder sind da ganz meiner Meinung. Sie haben gestern Abend wahre Loblieder auf Sie gesungen.«
Bei Miles’ aufrichtigen Worten traten mir Tränen in die Augen.
»Danke, Miles. Sehr nett, dass Sie das sagen.«
»Und Merry … Ich kenne die Schwestern noch nicht lange, aber sie sind gute Leute, das spüre ich. In meinem Job muss man andere Menschen einschätzen können. Und dass Ihnen auf diesem Schiff nichts Schlimmes passieren wird, kann ich Ihnen versprechen. Alle sind wahnsinnig gespannt auf Sie.«
»Hoffentlich enttäusche ich ihre Erwartungen nicht.« Wieder dieses Gefühl der Überwältigung.
»Die Schwestern kennen Sie schon ihr ganzes Leben lang. Oder besser gesagt, sie wissen von Ihrer Existenz. Bestimmt hat Ihr Dad oft von Ihnen gesprochen. Er hat immer geklagt, er hätte Sie verloren und nicht wiederfinden können. Nun sind alle ganz aufgeregt, weil es ihnen gelungen ist, Sie hierherzulocken und ihm so seinen lebenslangen Wunsch zu erfüllen.«
»Miles, Sie sind Anwalt, und als solcher wissen Sie Bescheid, wie heikel die Stimmung innerhalb von Familien besonders nach dem Tod eines geliebten Menschen sein kann.«
»Ja, allerdings.«
»Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass ich um etliches älter bin als die anderen Schwestern.«
»Das … wäre mir nicht aufgefallen, doch die anderen haben es erwähnt.«
»Sie machen Ihrem Anwaltsberuf alle Ehre, Miles. Das war sehr taktvoll. Egal, ich vermute, Sie sind in der Lage, ein Geheimnis zu bewahren?«
Miles nickte schmunzelnd. »O ja. Ich werde etliche mit ins Grab nehmen.«
»Zum Glück wird das nicht nötig sein, aber ich würde gern Ihre Meinung zu einem Thema hören.«
»Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.«
Ich holte den Brief von Atlas aus meiner Handtasche. »Würden Sie den bitte lesen, Miles?«
»Wollen Sie das wirklich?«
»Ich brauche eine neutrale Meinung, die nicht von Georg stammt. Das ist eine Botschaft meines Vaters an mich. Sie scheint zu bestätigen, dass ich seine … Lesen Sie selbst.«
Miles tat mir den Gefallen, und während er las, beobachtete ich seine Miene. Schon bald wurden seine Augen feucht.
»Entschuldigung.« Er gab mir den Brief zurück. »Ganz schön starker Tobak.«
»Ja.«
»Darf ich fragen, worüber Sie sich so viele Gedanken machen? Darüber, dass Sie seine leibliche Tochter sind?«
»Ja! Und darüber, dass er mir seine Lebensgeschichte vor den anderen anvertraut hat.«
Miles ließ sich kurz Zeit, seine Erwiderung zu formulieren. »Verständlich. Ich kann nicht für alle sprechen, aber versuchen Sie doch mal, es aus ihrer Perspektive zu sehen: Sie liefern die Antwort auf eine fundamentale Frage. Ihr ganzes Leben haben die Schwestern gerätselt, warum ihr mysteriöser Vater es zu seiner Mission gemacht hat, Mädchen aus aller Welt zu adoptieren. Möglicherweise ist der Grund ja, dass er Frau und Tochter in jungen Jahren verloren hat.«
Ich lehnte mich in die Kissen zurück und dachte über seine Worte nach. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet.«
»Außerdem haben Jack und Mary-Kate den Weg für Sie bereitet. Alle mögen sie so gern, dass sie praktisch schon zum Inventar gehören.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Danke, Miles.«
»Keine Ursache. Falls Ihnen die Dinge in den nächsten Tagen über den Kopf zu wachsen drohen oder Sie eine neutrale Meinung brauchen, lassen Sie es mich einfach wissen.«
Wieder hörte ich Schritte, und kurz darauf tauchte Georg mit einer Flasche Wasser in der Hand aus dem Salon auf.
»Tut mir leid, Merry, ich musste hinunter in die Küche. Dort hat sich herausgestellt, dass es leichter ist, einen Jura-Abschluss der Universität Basel zu erlangen, als sich im Vorratsraum zurechtzufinden.«
»Kein Problem, Georg. Miles hat mich hiermit gerettet.« Ich hielt die Flasche hoch.
»Ich setze es Ihnen auf die Rechnung, Madame«, meinte Miles augenzwinkernd. »Nun lasse ich Sie erst mal in Ruhe, Merry. Ich muss noch ein paar Runden drehen, bevor Elektra aufsteht und es Kaffee gibt. Und vergessen Sie mein Angebot nicht. Ich bin für Sie da, wenn Sie mich brauchen. Deck drei, Suite vier, glaube ich.« Miles lachte und entfernte sich.
»Entschuldigen Sie, Merry. Ich wusste nicht, dass schon jemand auf ist.«
»Kein Grund, sich zu entschuldigen, Georg. Es hat mich gefreut, ihn kennenzulernen. Er wirkt beruhigend auf mich.«
»Er hat viel durchgemacht. Meiner Ansicht nach ist er der ideale Partner für Elektra. Aber egal. Geht es Ihnen ein wenig besser?«
»Danke, Georg. Jedenfalls gut genug, um mich in meine Kabine zurückzuziehen.«
»Haken Sie sich bei mir unter. Ich begleite Sie. Victor hat Ihr Gepäck bereits hingebracht.«
Auf dem Weg durch den gewaltigen Schiffsbauch hielt ich mich an Georg fest. Keine Ahnung, ob es an meiner Müdigkeit lag oder daran, dass sämtliche Flure mit den gleichen dunklen Holzpaneelen verkleidet waren – so hochglanzpoliert, dass man sich darin spiegelte –, jedenfalls kam ich mir vor, als würde ich durch ein Werk von M. C. Escher wandeln. Wir begegneten zahlreichen Angehörigen des Personals, die damit beschäftigt waren, die Jacht startklar zu machen. Manche trugen Polohemden, andere kurzärmelige weiße Hemden mit Schulterstücken. Georg murmelte etwas von »Deckcrew« und »Innencrew«. Eines war bei sämtlichen Uniformen gleich: Auf allen stand gestickt der Name Titan , und gleich darunter, ebenfalls gestickt, in Gold, befand sich die Abbildung einer Armillarsphäre. Mehrere Treppen und Flure später blieb Georg vor einer Tür auf dem zweiten Deck stehen.
»Ihre Kabine«, flüsterte er. »Mary-Kate und Jack sind hier, gleich rechts von Ihnen, untergebracht.« Er öffnete die Tür.
»Wunderbar, Georg. Muss ich noch irgendetwas tun, bevor ich aufs Bett plumpse und mich für ein paar Stunden ins Reich der Träume verabschiede?«
»Nein, Merry. Ruhen Sie sich aus, solange Sie wollen. Wenn wir auslaufen, könnten die Motoren allerdings ein bisschen laut werden«, meinte er entschuldigend.
»Keine Sorge, Georg. Ich bin so müde, dass mich erst mal nichts weckt. Wahrscheinlich könnten Sie selber eine Mütze voll Schlaf gebrauchen. Wenn Sie aber vorher noch jemanden bitten würden, meinen Kindern mitzuteilen, dass ihre Mutter an Bord ist, wäre ich Ihnen dankbar.«
»Kein Problem. Darum kümmere ich mich. Gute Nacht, Merry. Ich wünsche Ihnen eine erholsame Pause.«
»Eher guten Morgen«, seufzte ich müde, betrat den Raum und schloss leise die Tür hinter mir. Es wunderte mich nicht, dass die Kabine einem Zimmer in einem Luxushotel ähnelte. Möglicherweise war sie sogar schöner als die Suite im Londoner Claridge’s, in der ich kürzlich übernachtet hatte. Mein Koffer stand neben dem Bett, doch ich fühlte mich zu erschöpft, ihn aufzumachen und mein Nachthemd herauszuholen. Ich schlüpfte aus den Schuhen, schob die Handtücher (die zu hübschen kleinen Elefanten geformt waren) auf den Boden und ließ mich auf die Matratze fallen, wo ich mich unter das Bettzeug kuschelte, die Augen schloss und sofort einschlief.