Merry
Obwohl am Ende nur sechs Stunden Schlaf für mich heraussprangen, war der zumindest tief und erholsam. Im Gibbston Valley, wo unser Haus inmitten eines weitläufigen Weinguts lag, waren die Nächte absolut still. Der einzige Nachteil dieser himmlischen Ruhe bestand darin, dass ich in fremden Betten oft kaum schlafen konnte. In Hotels weckten mich schon die leisesten Schritte auf dem Flur. Doch an Bord der Titan sank ich ohne Weiteres in tiefen Schlummer. Erst als ich aufstand und ans Fenster der Kabine trat, merkte ich, dass wir bereits unterwegs waren. Nicht einmal die Schiffsmotoren hatten mich gestört. Ich löste den Verschluss des Bullauges und drückte es etwa zehn Zentimeter nach außen – weiter ging es nicht. Dann atmete ich die warme, salzige Mittelmeerluft ein, die belebend auf mich wirkte. Nach dem Tod von Jock hatte ich mir selbst ein Abenteuer versprochen, und das bekam ich nun tatsächlich. Zwar nicht die erträumte Weltreise, aber immerhin war ich auf der Suche nach meiner wahren Herkunft auf einer Superjacht gelandet. Was heute geschehen würde, ließ sich nicht vorhersagen, doch nach meiner kurzen Unterhaltung mit Miles und den paar Stunden Schlaf fühlte ich mich allmählich etwas zuversichtlicher.
Als ich mein Handy vom Nachtkästchen nahm, fand ich darauf zwei SMS, eine von Jack und eine von Mary-Kate. Bei beiden sollte ich mich melden, sobald ich wach sei. Ich schrieb ihnen, sie könnten gern in einer halben Stunde bei mir vorbeischauen.
Nachdem ich geduscht hatte, nahm ich ein sauberes Leinenkleid sowie einen Reisefön aus meinem Koffer. Als ich mich im Spiegel betrachtete, fiel mir die Kohlezeichnung ein, die Georg mir am Vorabend gezeigt hatte. Kein Zweifel – die Frau darauf hätte gut und gern ich sein können. Ich fragte mich, wie die Lebensgeschichte meiner leiblichen Mutter ausgesehen haben mochte und was sie dazu veranlasst hatte, mich vor der Tür von Father O’Brien abzulegen. Ich konnte mir keine Situation vorstellen, die mich dazu gebracht hätte, das mit Jack oder Mary-Kate zu machen. Schon bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut.
Einige Minuten, nachdem ich den Fön ausgeschaltet hatte, klopfte es an der Tür.
»Herein!«, rief ich. Die Tür öffnete sich, und kurz darauf tauchten Jacks wellige blonde Haare, seine strahlend blauen Augen und sein fröhliches Gesicht auf.
»Hallo, Mum! Willkommen an Bord der Titan !«, begrüßte er mich.
»Mum! Du bist tatsächlich gekommen. Wie schön, dich zu sehen.« Mary-Kate trat, mit Bikini und Kaftan bekleidet, hinter ihm ein.
Ich umarmte beide gleichzeitig und ziemlich lange. Obwohl wir uns auf der anderen Erdhalbkugel mitten auf dem Meer befanden, fühlte ich mich in diesem Moment wie zu Hause.
»Mary-Kate, ich freue mich auch, euch zu sehen. Ihr habt ja keine Ahnung, was alles passiert ist. Setzt euch.« Ich deutete auf die beiden Sessel, die links und rechts vom Beistelltischchen positioniert waren, und nahm selbst auf dem Fußende des Bettes Platz.
»Wieso hast du dir’s doch anders überlegt? Ally hat uns erzählt, dass Georg gestern Abend von der Jacht gehastet ist, um dich zu entführen. In einen Jutesack wird er dich wohl nicht gesteckt haben, aber wie hat er’s geschafft, dich hierherzulocken?«
»Eigentlich ist es eher Ambrose gelungen. Ihr wisst, dass ich ihm vertraue. Er kennt mich länger als irgendjemand sonst und hat mir geraten herzukommen. Und ich habe seinen Rat befolgt.«
»Du bist so etwas wie eine Berühmtheit hier an Bord. Eine größere als das Supermodel. Weißt du überhaupt Bescheid über Elektra, Mum? Sie ist gerade total in und hat gleich nach Obama diese Rede beim ›Konzert für Afrika‹ gehalten, und …«
»Ja, ich glaube, davon habe ich noch in Neuseeland gelesen.« Ich wandte mich meinem Sohn zu. »Und wie geht’s Ally, Jack?«
»Danke, gut.«
Ich sah ihn fragend an.
»Na ja, sie hat ein Baby.«
»Das hat mir Georg schon geflüstert«, erklärte ich. »Wie stehst du dazu? Schon komisch, dass sie nichts davon erwähnt hat, oder?«
»Der Kleine ist kein Problem. Ist ein richtiger Wonneproppen, heißt Bär.«
Mary-Kate knuffte Jack in den Arm. »Keine Sorge, Mum, sie ist Single. Du solltest die zwei miteinander erleben. Total süß!«
»Nun mach mal halblang, MK. Sie hat Bärs Vater erst letztes Jahr verloren. Schätze, sie hat mir nichts von dem Kind erzählt, weil sie mich nicht vor den Kopf stoßen wollte. Das bringt mich nicht um. Aber um mich geht’s hier nicht, Mum. Bist du bereit für die Familie?«
Ich holte tief Luft. »Es gibt da ein paar Dinge, die ich kürzlich erfahren habe und über die ich gern mit euch reden würde. Vor der großen Vorstellungsrunde.«
Mary-Kate, die spürte, wie bang mir war, setzte sich neben mich und nahm meine Hand. »Klar, Mum.«
Ich holte den Brief von Atlas und die Kohlezeichnung aus meiner Handtasche.
***
»Wow, Mum. Was für eine Wahnsinnsgeschichte. Und das nach den Aufregungen der letzten Wochen. Wie geht’s dir dabei?« Jack legte sanft den Arm um meine Schultern.
»Zuerst war mir ziemlich elend. Aber jetzt, nach ein paar Stunden Schlaf, fühle ich mich besser. Außerdem habe ich einen gewissen Miles kennengelernt …«
»Elektras Freund?«
»Genau den. Der hat mich beruhigt. Georg macht gerade für sämtliche Schwestern Kopien von dem Tagebuch, damit alle es gleichzeitig lesen können.«
»Dann bist du also wirklich die leibliche Tochter von diesem Pa Salt?«, fragte Mary-Kate.
»Scheint so. Atlas ist mein Vater. Und euer Großvater.«
Schweigen.
»Ach ja, stimmt! Allerdings seid nur ihr zwei richtig offiziell mit ihm verwandt.« Mary-Kate war adoptiert. Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre langen blonden Haare. »Irre!«
»Kein Wunder, dass Georg dich unbedingt dabeihaben wollte …«, meinte Jack nachdenklich.
»Ist das alles denn nachgewiesen?«, wollte Mary-Kate wissen.
»Du meinst, mit DNA-Tests und so? Schätze, das dürfte hier an Bord und unter den Umständen, die uns hergeführt haben, schwierig sein.«
»Ich finde, dazu besteht ohnehin kein Anlass. Diese Frau auf der Kohlezeichnung ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, Mum. Du hast keine Ahnung, was aus ihr geworden ist, oder?«, meinte Jack.
»Nein. Ich hoffe, das Tagebuch liefert Antworten darauf.«
»Und ich hoffe, dass es uns auch mehr über Argideen House in Cork verrät.«
Mary-Kate deutete hoch zur Decke. »Was ist mit denen da oben? Wie werden die das aufnehmen?«
»Keine Ahnung. Ich habe mich nicht darum gerissen herzukommen. Diese Frauen sind mir buchstäblich überallhin nachgereist.« Ich ließ den Blick über die Kabineneinrichtung, den reich geschmückten Lüster und das maßgefertigte Walnussholzkopfteil des Bettes wandern. »Und ich habe nicht vor, auf irgendetwas hiervon Anspruch zu erheben.«
»Wenn ich mich Ally als ihr geheimer Neffe vorstelle, dürfte das noch heikler sein als die Tatsache, dass sie mir ihren kleinen Sohn verschwiegen hat«, wandte Jack geknickt ein.
»Stell dich nicht so an, Jack. Ally wurde adoptiert. Sie ist die Tochter eines norwegischen Musikers. Ihr seid also nicht blutsverwandt«, erinnerte Mary-Kate ihn. »Und darum geht’s hier auch nicht. Alles in Ordnung, Mum? Können wir dir irgendwie helfen?«
»Ihr könntet ein Rettungsboot für mich klauen, für den Fall, dass die anderen sechs mich über Bord werfen wollen.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Mary-Kate legte mir beruhigend eine Hand auf den Rücken. »Die sind echt nett. Wie willst du’s anpacken? Gehst du einfach rauf und sagst es ihnen?«
»So werde ich’s wohl machen müssen«, antwortete ich seufzend. »Informationen für mich zu behalten wäre unfair. Für mich ist dieser Atlas ein Fremder. Ihnen hingegen bedeutet er alles.«
»Mum, ich muss dich bewundern. Nach den aufregenden letzten Wochen sind dir immer noch die anderen wichtiger als du selbst.«
»Danke, MK.« Wir nahmen uns alle an den Händen und blieben eine Weile so sitzen. »Wir können uns denken, wie nervös die da oben gerade sind. Wenn ich diesen sechs jungen Frauen mit eurer Hilfe im schwierigsten Augenblick ihres Lebens beistehen kann, tue ich das.« Ich drückte Jacks und Mary-Kates Hand. »Stehen die einfach bloß rum?«
»Nein, sie sitzen beim späten Frühstück. Wir haben ihnen gesagt, wir kommen rauf zu ihnen, sobald wir mit dir geredet hätten.«
»Tja, dann.« Ich holte tief Luft, schlug mir auf die Oberschenkel und stand auf. »Lasst uns gehen und Hallo sagen.«
Jack und Mary-Kate begleiteten mich. In Gesellschaft meiner beiden Kinder fühlte ich mich auf wunderbare Weise geschützt. Egal, was geschah: Sie wären an meiner Seite.
Über die zentrale Treppe der Jacht gelangten wir in große Lounges, Essbereiche und das Büro, von dem Georg mir im Flugzeug erzählt hatte. Ausgeruht wurde mir erst klar, was für eine schwimmende Festung dieses Schiff war.
Nachdem wir sage und schreibe drei Stockwerke hinter uns gebracht hatten, erreichten wir den obersten Teil der Titan , der aus einem kleinen Salon mit leicht getönter Fensterfront bestand. Einige der Scheiben waren zurückgeschoben, sodass die helle französische Sonne hereinscheinen konnte.
»Bist du bereit, Mum? Wir sind bei dir.« Jack lächelte aufmunternd.
Als ich Stimmengewirr hörte, begann mein Herz vor Aufregung schneller zu schlagen. So musste es sich angefühlt haben, bevor man im alten Rom den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde, dachte ich. Ich erkannte Georgs gemäßigten Tonfall, der mir den Mut gab, über die Schwelle zu treten. Mary-Kate ergriff wieder meine Hand und drückte sie, während wir zu dritt hineingingen.
Am Tisch wandten sich alle uns zu.
»Guten Morgen allerseits!«, begrüßte Jack die Anwesenden. »Ich wollte euch meine Mum Mary vorstellen. Vermutlich habt ihr schon von ihr gehört …«
Merkwürdiges Schweigen. Bestimmt dauerte es nur wenige Sekunden, aber mir erschienen sie wie eine Ewigkeit. Sie taxierten mich, als hätten sie Probleme zu begreifen, dass ich tatsächlich vor ihnen stand. Einige der Frauen tauschten lächelnd Blicke. Die anderen starrten mich einfach nur überwältigt mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund an. Das Ganze wirkte so, als wüsste keine so recht, was sie tun sollte. Also versuchte ich, die Spannung aufzulösen.
»Hallo. Alle nennen mich Merry, wie in ›Merry Christmas‹. Und sagt ruhig du zu mir.« In meiner Nervosität rutschte ich in den West-Cork-Tonfall.
Eine Frau mit dichten rotgoldenen Locken, die ein Baby auf dem Schoß wippte, erhob sich als Erste. Nicht schwer zu erraten, welche der Schwestern sie war. Mit ihrer hellen Haut, den großen Augen, den zarten Brauen und hohen Wangenknochen war sie eine richtige Schönheit. Ich konnte verstehen, warum Jack sie attraktiv fand.
»Merry. Hallo … Ich … wir alle … freuen uns sehr, dich bei uns an Bord zu haben.«
»Danke. Es war nett, dass ihr euch so viel Mühe gemacht habt, mich hierherzulocken.«
In dem Moment begann eine andere Frau mit tiefbraunen Augen und langen dunklen Haaren zu klatschen. Fast sofort fielen die anderen ein, und kurz darauf sprangen alle auf. Ob dieses begeisterten Empfangs konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen.
Georg, der am Kopfende des Tisches stand, nickte mir zu. Waren das Tränen in seinen Augen? Das konnte nicht sein …
Eine groß gewachsene, elegante Frau mit markanten Gesichtszügen, die ich auf Mitte sechzig schätzte, kam auf mich zu.
»Hallo, Merry. Ich bin Marina. Die Mädchen – du musst verzeihen, so nenne ich sie – kennen mich als ›Ma‹. Ich habe mich in ihrer Kindheit um sie gekümmert. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr wir uns freuen, dass du dich zu uns gesellt hast. Damit machst du ziemlich viele Menschen unglaublich glücklich, chérie .«
»Höre ich da einen französischen Akzent?«
»Ah, du hast ein feines Ohr! Ich komme aus Frankreich, aber wie du vielleicht weißt, lebe ich in der Schweiz.«
»Man hat mir schon viel über euer wundervolles Haus am Genfer See erzählt.«
»O ui, chérie! Komm uns doch so bald wie möglich besuchen.«
»Ma, nun vergraul sie nicht gleich wieder! Wenn du so weitermachst, springt sie von Bord und schwimmt ans Ufer«, sagte eine klassisch schöne Frau mit ebenholzschwarzer Haut und langer Haarkrause. »Hallo, ich bin Elektra. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen.« Sie blickte mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen an.
Das musste das Supermodel sein, dachte ich.
»Warst du nicht neulich erst in einer Parfümwerbung im Fernsehen?«
Elektra schmunzelte. »Möglich. Sorry, dass ich dir in der Glotze was aufschwatzen wollte, bevor wir Gelegenheit hatten, uns persönlich zu treffen.«
»In echt bist du genauso schön, das seh ich jetzt!«
»Danke für die Blumen. Das ist übrigens meine Schwester CeCe.« Elektra deutete auf eine stämmige Frau mit haselnussbraun gefleckten Mandelaugen und jungenhaft kurz geschnittenen Haaren.
»Hi, Merry. Supername.«
»Danke. Deiner auch! CeCe, stimmt’s?«
»Ja, kurz für Celaeno. Klingt nicht ganz so großspurig. Den hab ich Dad zu verdanken.«
Hinter CeCe stand die gertenschlanke blonde Frau, die mich an Mary-Kate erinnerte. Unter gänzlich anderen Umständen waren wir uns schon im Claridge’s begegnet.
»Hallo, Merry«, begrüßte sie mich verlegen. »Ich …«
»Gütiger Himmel!«, rief ich aus. »Wenn das nicht Lady Sabrina Vaughan ist! Schon komisch, dich hier anzutreffen. Wie geht’s dem Viscount?«
Das blasse Gesicht der Armen wurde tiefrot.
»Ich muss mich entschuldigen, Merry. Das war die dämliche Idee von meinem Freund Orlando. Er ist ein bisschen exzentrisch. In jeder Hinsicht.«
»Was für eine Untertreibung! Er ist extrem exzentrisch. Und ich habe das Pech, sein Bruder zu sein«, meldete sich ein englischer Gentleman vom Frühstückstisch aus zu Wort.
»Ich hätte nicht mitmachen dürfen.« Die blonde Frau streckte mir die Hand hin. »Können wir noch mal von vorn anfangen? Ich bin Star, kurz für …«
»Asterope.« Ich ergriff ihre Hand. »Ihr seid alle nach den Sieben Schwestern der Plejaden benannt. Toll!«
»Ja, genau! Sonst muss man das den Leuten immer erst lang und breit erklären«, meinte Star.
»Bei mir habt ihr Glück. Ich habe meine Abschlussarbeit über Orion und Merope geschrieben. Keine Sorge, Lady Sabrina: Alles ist verziehen. Ich freue mich, die echte Star kennenzulernen.«
Hinter Star entdeckte ich ein weiteres bekanntes Gesicht.
»Hallo noch mal, Merry«, begrüßte mich Tiggy. »Schön, dich wiederzusehen.« Sie trat auf mich zu und umarmte mich. Bei unserem Treffen in Dublin war es ihre Sanftmut gewesen, die mich davon überzeugt hatte, dass diese Leute mir und meiner Familie nichts Böses wollten.
»Hallo, Tiggy. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.«
Sie blickte mir tief in die Augen. »Wow. Ich kann’s kaum glauben, dass du wirklich hier bist. Das würde unserem Vater sehr viel bedeuten. Danke.«
Wenn irgendeine andere der Schwestern das gesagt hätte, wäre mir vermutlich ein bisschen unwohl gewesen, doch aus Tiggys Mund fand ich es beruhigend. Wie schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich das Gefühl, eine besondere Beziehung zu ihr zu haben. Wie sie mich anschaute … Es war fast, als teilten wir ein Geheimnis, von dem die anderen nichts wussten.
»Tja, dann wären wohl nur noch wir übrig. Ich bin Ally, und das ist meine ältere Schwester Maia. Wir haben ein paarmal miteinander telefoniert.«
»Hallo, Ally. Jack hat mir alles über dich erzählt.« Wie erwartet wurde sie verlegen. »Schön, auch dich persönlich zu treffen, Maia.«
»Wir sind sehr aufgeregt, Merry.« Maia kippte die Stimme. »Entschuldige, für uns ist das ein großer Moment.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ist sicher nicht leicht für euch. Super, dass ihr alle hier versammelt seid.« Meine Worte waren an sämtliche Anwesenden gerichtet, auch an die, die noch am Tisch saßen. »Ich hatte also ziemlich viele Geschwister, die ich lange Jahre nicht kannte.«
»Bestimmt hast du einen Bärenhunger, Merry. Lass uns was essen!«, rief eine Frau aus, deren Haut genauso nussbraun war wie die von CeCe. »Ich bin übrigens Chrissie. Freut mich, dich kennenzulernen!«
»Die Freude ist ganz meinerseits, besonders weil die besseren Hälften auch gleich dabei sind. Wie wär’s, wenn wir uns alle duzen … Chrissie, wie schön, hier noch jemandem von Down Under zu begegnen!«
Ich nahm zwischen Mary-Kate und Jack Platz. Auf dem Tisch standen Teller mit Gebäck, daneben Metallbehälter mit Würstchen, Speck, Eiern und frisch zubereiteten anderen Leckereien. Während des Frühstücks wurden mir ein Arzt, der ein riesiges Landgut in Schottland geerbt hatte, ein brasilianischer Autor sowie der englische Gentleman vorgestellt, der ein Haus renovierte. Obendrein erfuhr ich, dass Chrissie früher eine Weltklasseschwimmerin gewesen war und bei einem Unfall ein Bein verloren hatte.
»Merry, das ist Miles«, teilte Elektra mir irgendwann mit und deutete auf den Mann neben ihr.
»Wir hatten bereits das Vergnügen, als Georg mich heute Morgen an Bord gebracht hat.«
»Ach. Das hast du gar nicht erwähnt, Miles.« Elektra bedachte ihn mit einem strengen Blick.
»Du hast mich ja nicht danach gefragt.« Er konterte mit einem entwaffnenden Lächeln und einem Augenzwinkern. »Hast du gut geschlafen, Merry?«
»Wie ein Baby, danke.« Als ich meinen Teller geleert hatte, schwirrte mir der Kopf. »Seid mir bitte nicht böse, wenn ich das sage, aber ich komme mir inmitten dieser Versammlung höchst interessanter Personen vor wie in einem dieser alten Romane von Agatha Christie.«
»M ord auf der Titan«, meinte der Gentleman Maus schmunzelnd.
Star verdrehte die Augen. »Keine Angst, Merry, hier bist du nicht in Gefahr.«
»Mich wundert’s, dass Georg dich überhaupt dazu gebracht hat hierherzukommen«, bemerkte CeCe.
Ich sah Georg an, der am Kopfende des Tisches saß. Er wartete auf meine Erwiderung.
»Tja … Er hat mir erzählt, wie viel Mühe ihr euch gemacht habt, mich zu finden, und wie schwierig es war. Das hat mich überzeugt«, erklärte ich.
»Ja, das kann er – wenn er will. Nicht umsonst ist er Anwalt. Stimmt’s, Georg?«, neckte Elektra ihn.
»Wie Sie alle wissen, bin ich hier, um die Wünsche Ihres Vaters umzusetzen, auch wenn er selbst nicht bei uns ist. Sobald wir Merrys Identität bestätigt hatten, war mir klar, dass Ihr Vater nichts unversucht gelassen hätte, sie an Bord zu bringen«, erläuterte Georg kühl.
CeCe wandte sich erneut mir zu. »Er hat dich mit irgendwas Bestimmtem überzeugt, oder? Wir waren uns alle sicher, dass du nicht kommst …«
»CeCe«, fiel Ally ihr mahnend ins Wort.
»Kann man ja verstehen. Ich wär selber nicht sonderlich scharf drauf gewesen, wenn mich total fremde Leute, die behaupten, ich wär ihre verschwundene Schwester , rund um den Erdball verfolgt hätten!«
Ich wusste nicht, ob CeCe das absichtlich gemacht hatte, aber plötzlich wirkte die Stimmung angespannt.
»Was ist jetzt anders?«, fuhr sie fort. »Das würde mich interessieren.«
Ich schaute noch einmal zu Georg hinüber.
»Du musst CeCe entschuldigen, sie denkt nicht immer nach, bevor sie etwas sagt, nicht wahr, CeCe?« Star warf ihrer Schwester einen ernsten Blick zu.
»Sorry. War das unhöflich von mir? Wahrscheinlich schon. Entschuldige, Merry. Es ist nur …«
»Kein Problem. Du kannst mich fragen, was du willst«, versicherte ich ihr.
»Ich glaube, Georg verheimlicht uns was«, meinte CeCe.
Wie sich alle am Tisch Georg zuwandten, war fast ein wenig komisch.
»Rory! Komm mit, Kleiner. Wolltest du mir nicht oben die Brücke zeigen?«, meldete sich Maus taktvoll zu Wort. »Begleitest du uns, Valentina? Wenn wir sehr nett zu Kapitän Hans sind, lässt er uns vielleicht sogar kurz ans Steuer.« Zum Glück bemerkten die beiden Kinder die unsichere Atmosphäre nicht und sprangen hinter Maus her, der vermutlich heilfroh war, sich entfernen zu können.
»Bitte sprechen Sie weiter, CeCe. Was meinen Sie mit ›etwas verheimlichen‹?«, erwiderte Georg schließlich.
»Was denken Sie denn, Georg? Sie lassen ohne unser Wissen Koordinaten in Pas Armillarsphäre gravieren. Dann machen Sie sich einfach für ein paar Wochen vom Acker, sobald Sie uns alle dazu gebracht haben, auf der ganzen Welt nach der fehlenden Schwester zu suchen. Maia und Ally haben uns von Ihren mysteriösen Telefonaten erzählt. Und gestern konnten Sie gar nicht schnell genug von der Titan runterkommen, um nach Dublin zu fahren und die arme Merry hier an Bord zu zerren, obwohl sie klargemacht hat, dass sie das nicht möchte!«
Betroffenes Schweigen.
Mary-Kate legte mir beruhigend eine Hand aufs Knie, während wir auf Georgs Reaktion warteten.
»Danke für Ihre Aufrichtigkeit, CeCe. Sehen alle anderen das genauso? Dass ich Ihnen Informationen vorenthalte?«
»Ach, Georg. Sie enthalten uns ständig Informationen vor«, mischte sich Elektra ein. »Zum Beispiel über Pas Tod. Sie haben geschwiegen, bis seine geheime Beisetzung vorbei war. Dann sind da noch die Armillarsphäre, die Koordinaten und die Briefe von Pa. Sie haben immer schon mehr gewusst als wir, obwohl wir seine Töchter sind. Damit haben wir uns längst abgefunden.«
Marina – Ma – meldete sich als Nächste zu Wort. »C hérie , bitte. Sei nicht böse auf Georg. Ich kenne keinen anderen Menschen, der sich seinem Beruf so aus vollem Herzen widmet wie er und einer Person gegenüber so loyal ist. Glaubt mir, er liebt euch Schwestern genauso sehr wie ich.«
»Danke, Marina. Das ist schon in Ordnung. Ich kann den allgemeinen Unmut verstehen.« Georg seufzte.
»Georg, Sie sollten wirklich nicht das Gefühl haben, sich uns gegenüber rechtfertigen zu müssen«, meinte Ally. »Wir durchleben gerade eine ausgesprochen emotionsgeladene Zeit und sollten uns bemühen, Pa zu ehren, indem wir uns so verhalten, wie er es sich von uns gewünscht hätte. Besonders jetzt, da unsere verschwundene Schwester bei uns ist.« Sie nickte in meine Richtung, und ich antwortete mit einem verständnisvollen Lächeln. In Wahrheit jedoch fühlte ich mich ziemlich unwohl in meiner Haut.
»Tut mir leid, Ally. Ich wollte nicht frustriert klingen. Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass wir immer drei Schritte hinterherhinken. Schließlich war er unser Dad, oder?«, entgegnete CeCe.
»CeCe, vielleicht sollten wir das später besprechen«, erinnerte Ally sie.
»Ja, klar. ’tschuldigung. Ich wollte bloß sagen, wie super es ist, dich hier bei uns zu haben, Merry. Irgendwie bist du ja von Anfang an Teil unseres Lebens gewesen. Als Geschichte, als Märchen. Und jetzt bist du tatsächlich da.«
»Dabei habe ich die ganze Zeit über nicht mal geahnt, dass ich irgendjemandem fehle!«, versuchte ich verzweifelt, die gedrückte Stimmung aufzuhellen.
»Ich wollte nur wissen, wie es überhaupt zu deinem Verschwinden gekommen ist.« CeCe ließ nicht locker. »Das hab ich damit gemeint, dass Georg uns was verheimlicht. Ich glaube, er weiß ganz genau, wie du verschwunden bist. Vielleicht hat er dir das gestern Abend erklärt, Merry, und du bist deswegen mitgekommen. Mich nervt’s, dass er es uns nicht auch sagt.«
»CeCe! Bitte«, ermahnte Star ihre Schwester. »Es tut mir wirklich leid, Merry.«
»Kein Problem«, erwiderte ich ruhig. »Ich kann gut verstehen, warum du dich ärgerst, CeCe. Aber Georg hat mir nicht erklärt, wie ich zur ›verschwundenen Schwester‹ wurde. Die Antwort auf diese Frage kenne ich auch nicht.« Ich schaute hilfesuchend zu Georg hinüber.
»Meine Damen«, hob er an, »Ihr Vater war mein Mandant. Bitte glauben Sie mir, dass ich persönlich Ihnen niemals Informationen vorenthalten habe und das auch nicht tun würde.« Wieder seufzte er. »Allerdings musste ich bisweilen die strengen Instruktionen von Pa Salt befolgen, die ich vor seinem Tod von ihm erhalten habe. Sie sollten selbst entscheiden, ob Sie die Wahrheit über Ihre Herkunft erfahren wollen. Das war ihm wichtig. Ich wusste tatsächlich darüber Bescheid, durfte Ihnen jedoch nichts verraten. Wie Marina sagt: Ich mag Sie alle sehr.«
Ich blickte zu dem armen Charlie Kinnaird hinüber. Er sah aus, als würde er am liebsten im Erdboden versinken. Hier befand er sich nicht in Gesellschaft von Briten, die einen Sprung ins Meer einem Gespräch über echte Gefühle vorgezogen hätten. Floriano und Miles schienen seine Verlegenheit nicht zu teilen; sie wirkten eher interessiert, wie bei einem Theaterstück.
Georg fuhr fort. »Bitte glauben Sie mir: Die Geheimnisse, die Ihr Vater vor Ihnen hatte, dienten ausschließlich Ihrem Schutz.«
»Schutz? Wovor denn?«, fragte Star.
»Lass gut sein, Star«, schaltete sich Maia ein. »Ich denke, Georg möchte uns lediglich sagen, Pa wollte sicherstellen, dass nach seinem Tod für uns gesorgt wäre.«
»Ja«, pflichtete Georg ihr bei. »Aber auch schon zu seinen Lebzeiten. Es hat seine Gründe, warum Sie ihn als Vater so gut kannten, jedoch nur wenig über sein Leben außerhalb von Atlantis wussten.«
Mir fiel auf, dass Marina Georg einen nervösen Blick zuwarf.
»Was soll das heißen, Georg?«, erkundigte sich Maia.
Georg schüttelte den Kopf. Nun war die Büchse der Pandora geöffnet. »Dass niemand Pa Salt näher stand als Sie, seine sechs Töchter. Sie kannten seine Freundlichkeit, seine Wärme, seine leidenschaftliche Menschenliebe … und seine Lebenslust. Sie selbst zeugen davon.«
»Reden Sie weiter«, drängte CeCe ihn.
»Trotzdem war Ihre Kindheit ungewöhnlich. Die meisten von Ihnen fanden es merkwürdig, dass Pa Salt sechs Mädchen aus unterschiedlichen Weltgegenden adoptierte, das ist mir klar. Und Sie fragen sich vielleicht, warum er nie geheiratet hat, obwohl er eine ausgesprochen gute Partie gewesen wäre – ein anständiger Mensch, attraktiv und finanziell abgesichert. Das wurde Ihnen nie erklärt. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
»Georg, wir verstehen nicht, was das heißen soll. Bitte hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen«, forderte Ally ihn auf.
»Im Leben hat alles seinen Grund, meine Damen. Ihre ungewöhnliche Jugendzeit und mein Verhalten seit dem Tod Ihres Vaters stehen in einem logischen Zusammenhang.«
Die Anspannung verwandelte sich in Unsicherheit. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung sich Georgs Ausführungen entwickeln würden, vermutete jedoch, dass bald ich ins Spiel käme.
»Ihr Vater hat eine Zuflucht für seine Familie geschaffen, wo sich für Ihren Schutz und Ihr Wohlbefinden sorgen ließ. Deshalb hat er Atlantis erbauen lassen, einen idyllischen Ort, an dem Sie nicht mit der brutalen Realität des Lebens in Berührung kamen. Dort konnte er Sie aufziehen und Ihnen all die Liebe schenken, die sich ein Kind nur wünschen kann. Zu diesem Zweck hat er mich, Marina und Claudia angestellt. Die Welt von Pa Salt wurde für Sie, seine Kinder, geschaffen.«
»Nun rücken Sie endlich raus mit der Sprache«, sagte Maia.
»Entschuldigung. Sie möchten also Antworten auf Ihre Fragen. Vielleicht sollten wir mit dem Namen Ihres Vaters beginnen. Pa Salt. So haben Sie ihn genannt. Und so habe auch ich ihn angeredet, wie praktisch sämtliche Besucher von Atlantis. Das Gleiche galt für Ihre Lehrer und Freunde … Für alle, die mit ihm zu tun hatten, war er Pa Salt.«
»Ja. Er war einfach nur … Pa«, murmelte Tiggy.
»Genau«, pflichtete Georg ihr bei. »So wollte er es.«
»Wir haben ihn deswegen immer wieder gelöchert.« CeCe runzelte die Stirn. »Aber er hat bloß gelacht und gesagt: ›Ihr kennt meinen Namen! Pa Salt.‹«
»Wenn wir irgendein Formular ausfüllen mussten, sollten wir ›d’Aplièse‹ schreiben«, erinnerte sich Star.
»Ja, das stimmt. Bitte machen Sie sich keine … Vorwürfe, weil Sie das niemals hinterfragt haben.«
»O Gott«, stöhnte Elektra. »Er war der wichtigste Mensch in unserem Leben, und wir kannten nicht mal seinen Namen.«
»Wie gesagt, machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe, Elektra. Er wollte es so«, wiederholte Georg. »Es spricht für ihn und die Welt, die er geschaffen hat, dass Sie niemals den brennenden Wunsch hatten, hinter die Kulissen zu blicken.«
»Georg, Sie machen uns Angst. Wie lautete Pas Name?«
Georg schaute mich an und nickte. Offenbar war der Augenblick meines großen Auftritts gekommen. Ich holte tief Luft.
»Atlas«, murmelte ich. »Ich glaube, er hieß Atlas.« Alle wandten sich mir zu.
»Floriano, Charlie, Miles, Chrissie … würde es euch etwas ausmachen, uns eine Weile allein zu lassen?«, fragte Maia.
»Nein, natürlich nicht. Tiggy, sag Bescheid, wenn du mich brauchst.« Charlie sprang auf und war in Windeseile durch die Salontür.
»Alles in Ordnung, Mum?«, erkundigte sich Jack.
»Ja, danke, Schatz. Du und deine Schwester, ihr könnt euch zurückziehen. Ich schaffe das schon.«
»Sicher? Falls du uns suchst: Wir sind auf dem Achterdeck.«
Jack und Mary-Kate standen ebenfalls auf und entfernten sich. Nun waren nur noch Ma, Georg und die Schwestern da.
»Entschuldige, Merry. Was wolltest du gerade sagen?«, half Maia mir auf die Sprünge.
»Euer Vater: Sein Name war Atlas.«
Die Schwestern schauten mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Argwohn an. Nur nicht Tiggy. Sie lächelte und nickte mir aufmunternd zu.
»Sonderlich schwierig wäre es nicht gewesen, das Anagramm aufzulösen«, konstatierte Ally. »Pa Salt …« Sie kritzelte auf einer Serviette herum. »Darin sind sämtliche Buchstaben von ›Atlas‹ enthalten. Plus ein ›P‹.«
»Wofür steht das ›P‹? Wie wir gerade feststellen, wäre es eher ungewöhnlich für Pa, wenn er etwas dem Zufall überlassen hätte«, bemerkte Star.
»Ich glaube, die Frage kann ich beantworten …«, mischte sich Marina ein. »Das ›P‹ steht für die Plejaden.«
»Sie hat recht«, bestätigte Georg.
»Damit wäre also ein ziemlich großes Rätsel gelöst – das um unsere Namen«, meinte Maia. »Die Töchter von Atlas.«
»Ich erinnere mich, dass er angeblich Pa Salt genannt wurde, weil Maia immer gesagt hat, er würde nach dem Salz des Meeres riechen. Hat er sich das bloß ausgedacht?«, fragte Elektra.
»Offen gestanden weiß ich das nicht«, antwortete Maia. »Ich habe es einfach als wahr hingenommen.«
»Das haben wir alle.« Ally nickte. »Aber erzähl uns mehr, Merry. Wieso kennst du den Namen unseres Vaters?«
»Er hat mir einen Brief geschrieben.«
»Einen Brief?«
»Ja. Nachdem Georg mich gestern Abend in Dublin überredet hatte, ihn zu euch zu begleiten, hat er mir im Flieger ein Päckchen gegeben. Darin waren ein Brief und ein Tagebuch.«
»Der Brief war von Pa?«, hakte Star nach.
»Ja. Soweit ich weiß, habt ihr alle einen von ihm erhalten, oder?« Sie nickten. »Wie ihr euch vorstellen könnt, ist das ziemlich aufregend für mich, besonders nach deinen … leidenschaftlichen Worten vorhin, CeCe.«
Einige der Schwestern warfen CeCe einen vorwurfsvollen Blick zu, woraufhin sie den ihren schuldbewusst senkte.
Ich holte den Brief sowie die Kohlezeichnung von meiner Mutter aus meiner Handtasche und legte beides mit zitternden Fingern auf den Tisch.
»Merry, du brauchst nicht nervös zu sein. Wir wollen nur die Hintergründe erfahren«, versuchte Ally mich zu beruhigen.
»Zuerst möchte ich euch diese Zeichnung zeigen.« Ich hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten.
»Gütiger Himmel. Merry … wusste ich’s doch, dass ich dein Gesicht von irgendwoher kenne«, rief Star aus. »Erinnert ihr euch an die Zeichnung?«
»Entschuldigt meine Ausdrucksweise, aber: Heilige Scheiße! «, fluchte Elektra. »Das Ding hing in Pas Büro, solange ich denken kann.«
»Das bist du! Die Frau auf der Kohlezeichnung, das bist immer schon du gewesen!«, staunte CeCe.
»Nein, das bin nicht ich. Aber stimmt, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Georg hat mir gestern Abend erklärt, dass das ein Porträt meiner Mutter ist. Es hat mich tief bewegt«, gestand ich.
»Die Frau auf der Zeichnung, die so viele Jahre in Pas Büro hing, ist deine Mutter …«, wiederholte Maia und schaute ihre Schwestern eine nach der anderen an.
Allmählich schienen sie die Zusammenhänge zu begreifen.
»Irgendwann letztes Jahr ist das Porträt aus Pas Büro verschwunden. Das erklärt, warum.« Ally wandte sich Georg zu. »Sie haben es abgenommen und eine Kopie davon für die Suche nach Merry gemacht, nicht wahr?«
Georg nickte.
»Und das Original haben Sie noch irgendwo, oder?«, fragte CeCe.
Georg schwieg kurz. »Ich weiß, wo sich das Original befindet.«
Nun war ich wieder an der Reihe. »Ich bin nicht nur euretwegen hier, sondern auch meinetwegen, weil ich etwas über meine wahre Herkunft erfahren möchte, und der Ursprung dieses Rätsels liegt bei eurem Vater.« Ich schüttelte den Kopf. »Georg hat mir klargemacht, dass ihr genauso wenig Ahnung von Pa Salts Leben habt wie ich.«
»Das stellt sich gerade heraus, ja«, murmelte Elektra.
»Er war euer Vater und hat euch aufgezogen. Ihr habt ihn geliebt. Deshalb hoffe ich, dass wir gemeinsam etwas über ihn erfahren können.« Ich nahm den Brief aus dem Umschlag. »Soll ich vorlesen, was darin steht?«
Eifriges Nicken allerseits.
»›Meine geliebte Tochter …‹«
***
Ich legte den Brief weg und blickte in die Runde. Tiggy trat zu mir und umarmte mich fest.
»Ich dachte, ich würde ihn spüren«, gestand sie. »Doch das warst du.«
»Also ist nichts schiefgegangen bei deiner Adoption. Du bist seine leibliche Tochter …«, flüsterte Maia.
»Erstaunlich …«, fügte Ally nur hinzu.
»Er hatte die ganze Zeit über eine echte Tochter«, stellte CeCe fest.
»Nein, das ist nicht das richtige Wort, CeCe«, widersprach Georg, ganz Anwalt, mit Nachdruck. »Sie waren samt und sonders seine echten Töchter, und er hat Sie alle geliebt, als wären Sie sein eigen Fleisch und Blut. Ich hoffe aufrichtig, dass daran niemand zweifelt.«
»Natürlich nicht«, versicherte Star.
Schweigen, während die Schwestern zu verdauen versuchten, was sie soeben gehört hatten.
Elektra fand als Erste Worte. »Pa Salts leibliche Linie ist also nicht zu Ende. Irre.«
»Ich finde es schön«, meinte Tiggy. »Und deine Augen, Merry. Jetzt sehe ich es, das sind die von Pa.«
»Ja, tatsächlich, chérie , du hast recht«, pflichtete Marina ihr staunend bei.
»Vermutlich bist du zur ›verschwundenen Schwester‹ geworden, weil etwas mit deiner Mutter geschehen ist«, mutmaßte Star. »Er muss euch beide gleichzeitig verloren haben. Wie traurig.« Sie bedeckte den Mund mit der Hand.
»Aber er hat nie aufgegeben und sein Leben der Suche nach den beiden gewidmet«, erklärte Georg. »Deswegen war er so oft unterwegs.«
»Ich dachte, Pa war aus beruflichen Gründen ständig auf Achse«, meinte CeCe.
»Ihr Vater ist vor langer Zeit in den Ruhestand gegangen. Er hat sein Geld schon in jungen Jahren verdient. Im Lauf der Zeit ist ein veritables Vermögen daraus geworden.«
»Was genau hat er denn gearbeitet, Georg? Wenn wir das wissen wollten, hat er immer etwas von wegen Investitionen und Finanzen gemurmelt, bis es uns langweilig wurde und wir nicht weiter fragten«, erwiderte CeCe.
Georg nickte mir auffordernd zu.
»Atlas hat mir sein Tagebuch anvertraut«, erklärte ich, »und in seinem Brief bittet er mich, euch über dessen Inhalt aufzuklären, nachdem ich es gelesen habe. Aber ich bin der Ansicht, dass ich nicht das Recht habe, Pa Salts Geschichte vor den Töchtern zu erfahren, die er persönlich kannte.« Ich deutete auf Georg. »Weswegen ich um sechs Kopien gebeten habe. Wenn ihr wollt, können wir die Notizen gleichzeitig lesen.«
»Danke, Merry. Das ist sehr großzügig von dir«, sagte Ally nach kurzem Schweigen.
»Wenn er uns das alles nur selbst hätte erzählen können«, fügte Elektra traurig hinzu.
»Wie ich bereits erwähnt habe, ist nichts grundlos geschehen. Atlas war der intelligenteste Mensch, den ich kenne. Er hat Merrys Herkunft zu Ihrem Schutz geheim gehalten«, versicherte Georg uns.
»Georg, Sie reden ständig von ›Schutz‹ und ›Sicherheit‹. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie meinen. Während meiner gesamten Kindheit und Jugend habe ich mich nie auch nur im Mindesten bedroht gefühlt«, wandte Maia ein.
»Dann hat sein Plan funktioniert.«
»Was für ein Plan? Ich hätte jetzt wirklich gern ein paar Antworten!« Für mich unerwartet war Maia die erste der Schwestern, die ungehalten die Stimme erhob.
»Georg«, mischte ich mich hastig ein, »haben Sie schon die Kopien anfertigen lassen?«
»Ja, Merry. Sie liegen sicher verstaut unten.«
»Würden Sie so freundlich sein, sie uns zu bringen und auszuteilen? Ich denke, wir würden uns um einiges besser fühlen, wenn wir etwas in Händen hätten«, bat ich ihn.
Der Anwalt nickte. Als er an Marina vorbeiging, fiel mir auf, dass sie kurz seine Hand nahm und sie drückte. Offensichtlich hatten die beiden diesen Moment vorhergesehen.
»Diese Schiffsreise sollte eigentlich dazu dienen, Pas Andenken zu ehren. Stattdessen habe ich nun den Eindruck, dass wir ihn überhaupt nicht kannten«, sagte Elektra traurig.
»Die Welt , die er für uns geschaffen hat …«, murmelte CeCe. »Warum haben wir die nie hinterfragt? So dumm sind wir doch nun auch wieder nicht, oder?« Ihr brach die Stimme, sie begann zu schluchzen. Star stand auf und nahm ihre Schwester in die Arme. »Tut mir leid, Leute. Ich bin müde. Im letzten Jahr mussten wir so schnell erwachsen werden und lernen, ohne Pa klarzukommen. Wir haben die Welt bereist, unsere leiblichen Familien gefunden – das war ein bisschen viel Aufregung. Ich dachte, diese Fahrt würde uns Gelegenheit geben, uns von ihm zu verabschieden und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Und was passiert? Wieder was Neues! Ich bin ziemlich fertig.«
Die anderen nickten mitfühlend. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum.
»Mädchen«, hob Ma an. »Meine schönen, begabten, lieben Mädchen. Es tut mir leid, dass euer Leben in letzter Zeit so hektisch war. Das vergangene Jahr war von tiefer Trauer überschattet. Doch vergesst nicht: Es hatte auch viel Positives.«
Die Schwestern schauten sie an. Plötzlich wurden aus den erwachsenen Frauen wieder unsichere Kinder, die elterlichen Trost suchten.
»Wisst ihr, was ich denke?«, fragte Ma. »Ich denke, unser Leben ist wie der Herzschlag, den man auf einem Monitor sehen kann. Es geht auf und ab. Was verrät euch das? Dass ihr lebt , meine Lieben.« Einige Schwestern schmunzelten. »Wenn alles im Leben eintönig wäre, würde die Linie nicht auf und ab gehen, sondern wäre flach! Und was würde das bedeuten? Dass ihr nicht lebt!« Aus dem Schmunzeln wurde ein Kichern. »Aufregung ist also besser, als die Tage wie Busse vorbeiziehen zu sehen, einen nach dem anderen …«
»Pa hat gern gesagt, um die besten Momente im Leben schätzen zu können, muss man auch die schlimmsten kennen«, sagte Tiggy.
»Völlig richtig, chérie . Ihr werdet bald erfahren, dass euer Vater tatsächlich das Schlimmste durchgemacht hat, was das Leben mit sich bringen kann, jedoch auch das Schönste, und das hatte stets mit euch, seinen Töchtern, zu tun.«
»Dann wisst ihr, Georg und du, also über Pas Vergangenheit Bescheid, Ma? Warum habt ihr sie uns verschwiegen?«, fragte Maia.
»Es reicht! Hier geht es nicht um mich und Monsieur Hoffman, sondern um euren geliebten Pa und den Weg, den ihr nach seinem Willen einschlagen solltet.«
»Entschuldige, Ma«, meinte Maia.
»Ich bin stolz auf euch alle. Ihr habt die Ereignisse der letzten zwölf Monate mit Mut, Entschlossenheit und Klugheit bewältigt. Das hätte euren Vater glücklich gemacht. Und ihr werdet weiterhin die toleranten, großzügigen und intelligenten Frauen sein, zu denen euer Vater und – wenn ich das auch für mich beanspruchen darf – ich euch erzogen haben, das weiß ich.«
Ihr Lob zeitigte Wirkung bei den Schwestern. Diese souveräne Frau setzte ihre Autorität sorgsam ein, das merkte ich.
Schließlich ergriff Ally das Wort. »Merry, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir uns sehr freuen und stolz sind, dich hier bei uns zu haben. Bitte verzeih, dass wir uns von unseren Gefühlen haben überwältigen lassen.«
»Schon in Ordnung. Wenn irgendjemand nachvollziehen kann, was es bedeutet, wenn die Welt plötzlich kopfsteht, dann ich.«
Da kehrte Georg mit einem Stapel Papier, obenauf das abgegriffene ledergebundene Tagebuch, aus dem Salon zurück. »Sechs Kopien und das Original.« Er legte eine vor jeder Schwester auf den Tisch und gab mir das Original.
»Wow, ganz schön dick«, bemerkte Star. »Das scheinen mehrere Hundert Seiten zu sein.« Sie nahm ihre Kopie und begutachtete sie.
»Stimmt. Ein paar Seiten habe ich bereits gelesen«, gestand ich. »An der Stelle, an der ich gerade bin, ist er noch ein kleiner Junge. Schon bis dahin ist es eine ziemlich aufwühlende Geschichte, finde ich.«
»Klingt ganz nach Pa.« Tiggy lachte.
»Man lernt auch eine Menge daraus. Schätze, ich werde Rio auf meine Weltreiseliste setzen.«
»Wie bitte?« Maia wandte sich mir zu.
»Entschuldigung, ich habe laut gedacht. Das Tagebuch beginnt damit, dass euer Pa den Mann kennenlernt, der die dortige Christusfigur geschaffen hat.« Maia fiel die Kinnlade herunter. »Entschuldigt, ist das wichtig?«, fragte ich verwirrt.
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Ally. »Sein Assistent war Maias Urgroßvater.«
Nun war ich genauso verblüfft wie Maia. »Soll das ein Scherz sein? Laurent … wie war noch mal sein Nachname?«
»Brouilly«, presste Maia hervor.
»Tut mir leid, Maia. Ich wollte nichts vorwegnehmen.«
»Keine Ursache. Das ist … puh.« Sie schüttelte den Kopf.
Die anderen Schwestern blickten einander aufgeregt an.
»Gibt’s mehr solche Enthüllungen in dem Tagebuch?«, erkundigte sich Elektra. »Erfahren wir darin, warum Pa beschlossen hat, uns alle zu adoptieren? Georg?«
»Lesen Sie es, dann finden Sie es heraus.«
Tiggy klatschte in die Hände. »Gut, wie wollen wir’s angehen? Sollen wir es miteinander lesen?«
»Nein«, antwortete Maia sofort. »Ich brauche meine Ruhe, um das Gelesene zu verarbeiten. Was meint ihr?«
»Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Ally. »Sieht fast so aus, als würden wir während dieser Fahrt nicht allzu viel Freizeit haben. Wir werden uns Pas Lebensgeschichte widmen.«
Zustimmendes Gemurmel.
»Wegen meiner Legasthenie kann ich nicht so schnell lesen wie ihr«, gestand CeCe. »Am allerwenigsten unter Stress. Da hab ich nur noch Buchstabensalat vor mir.« Sie senkte den Blick.
»Entschuldige, CeCe, natürlich. Sollen wir’s gemeinsam machen? Ich kann’s laut vorlesen«, erbot sich Star.
CeCe lächelte glücklich. »Danke, Star. Das wäre toll. Macht’s dir echt nichts aus?«
»So ein Quatsch. Natürlich nicht.«
Ally stand auf. »Gut, dann wäre das also geregelt. Wir haben drei Tage. Das sollte reichen.«
»Ist schon irgendwie passend, was?«, meinte Elektra. »Wenn wir uns dann von Pa verabschieden, wissen wir endlich, wer er wirklich war.«