Maia machte sich auf den Weg zum zweiten Deck. Seit Merry erwähnt hatte, dass Laurent Brouilly eine Rolle in dem Tagebuch spielte, gingen ihr allerlei Gedanken durch den Kopf. Wie hatte sich Pas Beziehung zu ihm gestaltet? Maia musste an ihre Reise in ihre eigene Vergangenheit ein Jahr zuvor denken, bei der sich die Puzzleteile ihrer biologischen Herkunft zu einem Ganzen fügten. Nun wusste sie, woher sie die glänzenden dunklen Haare und den makellosen honigfarbenen Teint hatte. Doch das Bild war unvollständig. Warum hatte Pa ausgerechnet sie gerettet? Und wieso hatte er so viel über ihre Familiengeschichte gewusst?
Maia traf Floriano in der Bibliothek an, wo er mit einem Buch in der Hand in einem tiefen Ledersessel lümmelte. Bei seinem Anblick tanzten die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Er erinnerte sie an Pa, der so viel Zeit auf der Titan an genau diesem Platz verbracht hatte. Für sie war die Bibliothek ebenfalls einer ihrer liebsten Orte an Bord – eine fantastische schwimmende Bücherei mit maßgefertigten Regalen an jeder Wand, alle zum Bersten voll mit Pas Lieblingsbüchern. Maia dachte zurück an schier endlose herrliche Sommer, in denen sie hier Romane ausgewählt und sich mit ihnen aufs Sonnendeck zurückgezogen hatte, um den Tag lesend in den goldenen Strahlen der Sonne zu genießen. Sie schloss die Augen und atmete den süßlichen, leicht muffigen Geruch der Bücher ein. Der hatte sich kein bisschen verändert seit ihrer Kindheit, als sie sich mit zehn Jahren für die Schätze der Bibliothek zu interessieren anfing. Sie gab sich einer Erinnerung hin …
»Pa?« Maia störte ihren Vater nur ungern bei der Lektüre von Victor Hugos Die Elenden .
Er hob den Blick und sah seine Tochter an.
»Maia, Liebes. Na, gefällt dir die Fahrt?«
»Ja, Pa, danke. Aber ich bin fertig mit meinem Buch. Darf ich mir eins aus deinen Regalen nehmen?«
Seine Augen begannen zu leuchten. »Natürlich, ma petite princesse ! Das würde mich sogar sehr freuen.« Er stand auf, nahm Maia bei der Hand und führte sie zum größten der Regale. »Hier stehen die Romane.«
»Die erfundenen Geschichten?«
»Liebes, es gibt keine erfundenen Geschichten. Sie haben sich samt und sonders einmal ereignet.«
»Wirklich?«
»Ja, ich denke schon.« Er betrachtete seine zerlesene Ausgabe der Elenden nachdenklich. »Und irgendwann schreibt jemand sie auf. Was hättest du denn gern?«
Maia überlegte. »Ich glaube, eine Liebesgeschichte. Aber bitte keine langweilige.«
»Hmm, kluge Wahl. Allerdings stellst du meine Fähigkeiten als Bibliothekar auf die Probe. Schauen wir mal …« Er ließ den Finger über die Reihen der Bücher gleiten, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten. Schließlich hielt er inne. »Ja, genau!« Er zog eines heraus. »D as Phantom der Oper von Gaston Leroux.«
»Phantom? Ist das nicht gruselig, Pa?«
»Ich verspreche dir, es ist eine Liebesgeschichte. Du wirst sie mögen, da bin ich mir sicher. Wenn nicht, erlaube ich dir hiermit, mich in den Swimmingpool zu stoßen.«
Maia lachte und ließ sich das Buch von ihm geben.
»Ach nein! Tut mir leid, Liebes, das ist eine englische Ausgabe. Lass mich nachsehen, ob ich auch eine französische habe.«
»Schon in Ordnung, Pa. Ich probiere es gern auf Englisch.«
»Du bist mutig. Soll ich dir wirklich keine französische Ausgabe heraussuchen? Du hast Ferien, da musst du nicht lernen.«
»Das ist doch kein Lernen! Ich mache das gern.«
»Na dann, ma petite princesse .«
Florianos Stimme riss Maia aus ihren Tagträumen. »Maia? Alles in Ordnung?« Er sah sie von dem Sessel aus an.
»Ja. Entschuldige, ich war gerade in meiner eigenen Welt. Wo ist Valentina?«
»Ma ist mit ihr und dem kleinen Rory schwimmen gegangen. Setz dich doch zu mir und erzähl mir, was oben los war. Was hast du denn da für einen dicken Papierstapel?« Er nahm ihn ihr ab und legte ihn auf das alte Beistelltischchen aus Eichenholz.
Sie erzählte ihm, was sich abgespielt hatte.
»M eu Deus , Maia. Das sind ganz schön viele Neuigkeiten. Wie fühlst du dich?«
»Okay, glaube ich. Merry ist echt toll. Keine Ahnung, wie sie in diesem Durcheinander zurechtkommt. Na ja, sie ist Pas Tochter …«
»Und das Tagebuch … Du sagst, sie hätte Laurent Brouilly erwähnt. Hat dein Pa Salt ihn gekannt?«
»Alles deutet darauf hin.«
»Warum unterhältst du dich dann noch so ruhig mit mir und liest nicht?« Floriano deutete auf eines der tiefblauen Samtsofas in der Mitte des Raumes.
»Das mag jetzt komisch klingen, aber ich bin ein bisschen nervös. Was, wenn ich etwas erfahre, das mich völlig aus der Bahn wirft? Was, wenn sich herausstellt, dass Pa ein Drogenbaron war?«
Floriano legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. »Das kann ich verstehen. Allerdings weiß ich nicht, ob es so viele Drogenbarone gibt, die Shakespeare und Proust bewundern.« Er blickte sich in dem Raum um.
Maia seufzte. »Nein, doch du verstehst, was ich meine.«
»Natürlich. Ich darf dich trotzdem daran erinnern, dass du dich schon einmal ohne Kerze in die Dunkelheit gewagt und am Ende deiner Reise Licht gefunden hast. In der d’Aplièse-Familie scheint es keine langweiligen Zeiten zu geben.«
»Stimmt. Wäre dir eine Frau lieber, die mit vier Hühnern, einem Hund und einer kranken Großmutter auf einer abgelegenen fazenda lebt?«
Floriano lachte. »Liebste Maia, ich möchte es keinesfalls anders, als es ist. Schließlich habe ich dich ermutigt, zur casa der Aires Cabrals zurückzukehren. Egal, was du aus diesem Tagebuch erfährst: Du wirst deinen inneren Frieden finden, wenn du endlich alles über den Bezug deines Vaters zu Brasilien weißt. Was würde meine Leserschaft von mir halten, wenn ich ihr nur die halbe Geschichte erzählte?« Florianos Hand wanderte hoch zu Maias Bauch, und er beugte sich zu ihrem Ohr hinüber, um ihr zuzuflüstern: »Vergiss nicht: Hoffnung für die Zukunft ist nur möglich, wenn man auch zurückblickt.«
Florianos Worte gaben Maia die Kraft, noch einmal in die Vergangenheit einzutauchen.
»Wann wollen wir es übrigens den anderen sagen? Mit Ally hast du ja schon darüber gesprochen, doch irgendwann werden die Schwestern sich sicher fragen, warum du nur noch Wasser trinkst.«
»Eigentlich hatte ich es ihnen während dieser Reise verkünden wollen, aber nun geschieht so viel anderes … Macht’s dir was aus, wenn wir noch ein bisschen warten?«
»Nein, Schatz. Ich richte mich da ganz nach dir.« Er gab ihr einen Kuss. »Es freut mich, wenn unser kleiner bebé weiß, wer sein Großvater war.«
»U nser kleiner bebé? Wieso bist du so sicher, dass es ein Junge wird?«
Er zuckte verschmitzt mit den Achseln. »Tut mir leid, ein Versprecher. Allerdings hätte ich durchaus gern einen kleinen garoto , mit dem ich mich über die Misserfolge des Botafogo-Fußballteams ärgern könnte.«
»Das wäre in der Tat eine große Erleichterung für mich.«
»Genau. Ich vermute, du möchtest allein sein, während du dir das Tagebuch vornimmst?«
»Ja, danke, Floriano.«
»Keine Ursache. Ich bin in der Nähe, falls du mich brauchst.«
Er verließ die Bibliothek durch die offene Doppeltür und schloss sie hinter sich. Maia setzte sich mit dem Stapel Papier aufs Sofa. Die Stille in dem Raum, in dem lediglich das Brummen der Motoren zu hören war, würde ihr helfen, sich auf die Lektüre zu konzentrieren.