XIV

»Oje, mein Kleiner. Nach diesen Besuchen wirst du Monsieur und Madame Landowski gegenüber noch größere Dankbarkeit empfinden.«

Evelyns Einschätzung des Apprentis d’Auteuil entpuppte sich als zutreffend. Das Waisenhaus wirkte abweisend, hatte kaputte Fenster und bröckelnde Mauern. Eine groß gewachsene, hagere Frau namens Madame Gagnon empfing uns am Tor, ließ uns herein und ging uns voran über den betonierten Hof.

»Dies ist wirklich nur eine Gefälligkeit für den jungen Monsieur Baudin, der uns regelmäßig mit seiner Geige erfreut. Wir haben wirklich nicht die Zeit, noch ein zusätzliches Kind zu beaufsichtigen. Madame, ist Ihnen klar, wie voll wir nach dem Krieg sind? Ich habe kaum Platz für all die Waisen.«

»Madame Gagnon, ich kann Ihnen versichern, Monsieur Landowski und Monsieur Ivan sind Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet dafür, dass Sie Bo an der Freizeit der Kinder hier teilnehmen lassen.«

»Ich weiß nicht, welchen Nutzen das für den Jungen haben soll. Er kann nicht sprechen. Was bringt es ihm schon, wenn er sich auf unserem Spielplatz tummelt?«

»Madame Gagnon, Monsieur Landowski hat mir gegenüber angedeutet, dass er einen Beitrag zum Unterhalt des Waisenhauses leisten möchte.«

»Wenn ihn das glücklich macht … Bitte sehr. Die Spenden vieler Pariser, die uns aus schlechtem Gewissen unterstützen, erlauben es uns gerade so, die Pforten offen zu halten und die hungrigen Mäuler zu stopfen. Wenn Monsieur Landowski wirklich etwas bewirken möchte, sollte er einigen der Waisen ein gutes Zuhause beschaffen.«

Evelyn deutete auf mich. Ich sah ihre Verärgerung.

Madame Gagnon runzelte die Stirn.

»Egal, jetzt müssen die Kinder jedenfalls an die frische Luft. Sie halten sich lediglich eine Stunde im Freien auf, und ich erwarte, dass Sie Ihren Schützling pünktlich abholen, Madame Evelyn. Nach der Freizeit bringe ich den Jungen vors Tor. Dann bin ich nicht länger für ihn verantwortlich.«

»Ja, selbstverständlich, Madame Gagnon.«

Die hagere Frau verschwand im Haus. Als die großen Holztüren sich hinter ihr schlossen, hallte das Echo über den Hof.

»Du gütiger Himmel! Ich möchte ja nicht voreilig urteilen, kleiner Bo, denn die Frau hat es nicht leicht, aber durch ihre Adern scheint Lava zu fließen, nicht Blut. Bestimmt sind die Kinder, um die sie sich kümmert, anders. Vergiss nicht: Ich werde nur eine Stunde weg sein. Versuch, dich ein wenig zu vergnügen, chéri . Soll ich den nehmen?« Evelyn streckte die Hand nach meinem Geigenkasten aus, den ich nach der Stunde bei Monsieur Ivan dabeihatte. Instinktiv drückte ich ihn an mich. Die Violine war mein wertvollster Besitz, den ich nicht einmal Evelyn überlassen wollte. »Nun denn, Bo. Dann nimm sie mit.«

Die Türen des Apprentis d’Auteuil öffneten sich, Kinder strömten auf den Hof.

»Du lieber Himmel. Manche der Wintermäntel haben mehr Löcher als ein Schweizer Käse«, murmelte Evelyn. »Viel Glück, kleiner Bo. Bis nachher.« Mit diesen Worten trat sie durch das Metalltor hinaus.

Ich hatte mich schon oft gefragt, wie man sich im alten Rom wohl fühlte, bevor man im vollbesetzten Kolosseum zu den Löwen gestoßen wurde. Plötzlich meinte ich es zu wissen.

Mich schockierte, wie viele verschiedene Altersgruppen hier vertreten waren. Einige hätte ich kaum noch als Kinder bezeichnet, während andere nicht älter als zwei oder drei sein durften. Die Kleinen wurden von den Größeren an der Hand geführt. Der Hof füllte sich schnell. Die Kinder, die an mir vorbeikamen, beäugten mich argwöhnisch. Einige nahmen Kreide aus der Tasche und malten Vierecke auf den Boden. Andere warfen einander alte Gummibälle zu. Ich blieb einfach inmitten dieses Gewimmels stehen und sah mich um, unsicher, was ich tun sollte.

Da ich nie eine Schule besucht hatte, wusste ich nicht, wie man mit Gleichaltrigen Kontakt aufnahm. Außer mit dem Jungen, der mein bester Freund gewesen war, den ich wie meinen Bruder geliebt hatte … Seinetwegen war ich am schlimmsten Tag meines Lebens in den Schnee geflohen. Ein Schauder überlief mich, als ich mir ausmalte, wie ein Wiedersehen mit ihm ablaufen würde. Er hatte sich geschworen, mich umzubringen, und dem mörderischen Blick nach zu urteilen, mit dem er mich an jenem grässlichen Morgen bedachte, würde er seine Drohung in die Tat umsetzen.

»Wer bist du?«, fragte mich ein Junge mit knochigem Gesicht und abgetragener Wollmütze.

Ich holte den Zettel aus meiner Tasche und begann zu schreiben.

»Was machst du da? Er hat dich was gefragt«, sagte ein anderer Bursche mit dichten dunklen Augenbrauen.

Mein Name ist Bo. Ich kann nicht sprechen. Hallo. Ich hielt ihnen den Zettel hin.

Die zwei schielten darauf. Vielleicht, dachte ich, war es überheblich anzunehmen, dass jeder im Waisenhaus lesen konnte.

»Was steht da drauf, Maurice?«, fragte der Junge mit der Mütze.

»Dass er nicht reden kann.«

»Was will er dann hier? Was für einen Sinn hat das?« Ich ahnte, dass seine Frage nichts mit der Philosophie meines Landsmannes Dostojewski zu tun hatte. »Wie sind deine Eltern gestorben?«

Ich bin nur zu Besuch da , schrieb ich.

»Warum schaust du dir freiwillig dieses Loch an? Ich kapier das nicht.«

Weil ich gern Freunde finden würde , notierte ich voller Hoffnung.

Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus.

»Freunde? Du gehörst in den Zirkus. Und was ist das, Zirkusjunge?«

Der Bursche, den der andere Maurice genannt hatte, riss mir den Geigenkasten aus den Fingern. Panik ergriff mich. Ich schüttelte entsetzt den Kopf, faltete die ausgestreckten Hände und flehte ihn stumm an, ihn mir wiederzugeben.

»Eine Fiedel, soso. Warum bringst du die mit? Für wen hältst du dich? Willst du dieser Schwuchtel Baudin Konkurrenz machen?«, fragte sein Freund.

»Ja, genau, Jondrette. Schau dir doch bloß mal die Klamotten von unserem feinen kleinen monsieur an.«

»Du findest das lustig, wenn du zu uns kommst und über uns arme Schlucker lachst, was?«

Ich schüttelte weiter den Kopf und sank in der Hoffnung auf die Knie, dass sie meine Verzweiflung erkennen würden.

»Beten hilft hier nicht. Schauen wir uns das Ding mal an.«

Jondrette machte sich daran, den Geigenkasten zu öffnen. Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, ihn beschimpft oder meine Violine mit vernünftigen Argumenten zurückgewonnen. Doch ich wusste, dass ich keine Aufmerksamkeit erregen durfte.

»Gib’s her, du Schwächling.« Maurice entwand Jondrette den Kasten und zerrte am Verschluss. Am Ende schaffte er es, ihn aus der Verankerung zu reißen, warf die Metallschnallen auf den Boden, klappte den Kasten neugierig auf und hob meinen wertvollsten Besitz mit seinen schmutzigen Fingern heraus.

»Sieh mal einer an. Die ist ja noch hübscher als die von Baudin. Was meinst du, Jondrette? Sollen wir versuchen, sie zu verscherbeln?«

»Weißt du jemanden, der uns Geld dafür gibt und uns nicht bei den Gendarmen verpfeift?«

»Stimmt, du hast recht. Ich finde, das ist eine gute Gelegenheit, unserem feinen kleinen Herrn eine Lektion zu erteilen.« Jondrette hob meine Geige über den Kopf.

Ich wartete mit geschlossenen Augen auf das Geräusch splitternden Holzes auf dem Betonboden. Zu meiner Überraschung erklang es nicht.

»Was machst du da, du widerliche kleine Kröte?«

Als ich die Augen öffnete, sah ich, wie ein blondes Mädchen Jondrettes Arm packte.

»Hey! Lass mich los!«, kreischte er. Doch das Mädchen drückte noch fester zu. »Aua!«

»Gib sofort die Geige zurück, Jondrette, sonst verrate ich Madame Gagnon, dass ihr zwei die Kekse aus dem Vorratsraum gestohlen habt.«

»Das kannst du nicht beweisen, du Petze!«

»Ich denke, die Krümel unter deinem Bett dürften als Beweis genügen, Maurice.« Das Mädchen deutete in Richtung Tür, wo Madame Gagnon eine Zigarette rauchte und die jüngsten der Kinder beaufsichtigte. »Wenn ich zu ihr rüberlaufe und es ihr sage, überprüft sie das sofort, das weißt du.«

Maurice und Jondrette sahen einander an.

»Warum setzt du dich für den Wurm ein? Schau dir doch seine Klamotten an. Der hat Geld und will sich bloß über uns lustig machen.«

»Nicht jeder will dir was Böses, Maurice. Jondrette, gib ihm die Geige zurück.«

Jondrette zögerte.

Das Mädchen verdrehte die Augen. »Gut, wie du meinst.« Sie wandte sich dem Gebäude zu und hob die Stimme. »Madame …«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte Jondrette. »Da.« Er entwand ihr seinen Arm und überließ mir die Geige. »Brauchst du immer einen Rockzipfel, hinter dem du dich verstecken kannst?«, zischte er mir zu.

»Es reicht. Verschwindet, ihr dummen Kerle«, sagte meine Retterin.

Maurice und Jondrette trollten sich widerwillig, allerdings erst, nachdem Jondrette dem kaputten Kasten einen Tritt versetzt hatte, sodass er ein Stück über den Hof schlitterte. Das Mädchen hob ihn auf und brachte ihn mir. Ich saß auf dem Boden, meine Geige im Arm wie einen kranken Welpen.

»Ich muss mich für die beiden entschuldigen. Nimm’s nicht persönlich, sie sind zu allen garstig. Lass dir helfen.« Sie sammelte die Zettel auf, die heruntergefallen waren, als ich die Jungen angefleht hatte, und warf einen Blick auf den obersten. »Du kannst nicht sprechen?« Ich schüttelte den Kopf. »Oje. Ich habe mich schon gefragt, warum du nicht laut schreist. Wie heißt du denn?« Ich ging hastig die Zettel durch, bis ich den fand, auf dem mein Name stand. »Bo?« Ich nickte. Das Mädchen lachte. Dieses Lachen war so schön, dass ich fürchtete, mein Herz würde gleich zu schlagen aufhören. »Dein Name gefällt mir, Bo. Hast du die Geige deswegen dabei?«

Ich zuckte mit den Achseln, ein Lächeln spielte um meine Lippen.

Wie heißt du? , schrieb ich.

»Ach ja, entschuldige. Mein Name ist Elle. Freut mich, dich kennenzulernen, Bo.«

***

20. März 1929 

Monsieur Ivan besteht darauf, dass ich an der Freizeit des Waisenhauses Apprentis d’Auteuil teilnehme, um positive Erfahrungen mit anderen Kindern zu sammeln. Er glaubt, wenn es mir gelingt, mich mit jemandem anzufreunden, werde ich die Last der Welt auf meinen Schultern los und kann ein besserer Geiger werden. Ich respektiere Monsieur Ivans Wünsche. In den letzten Wochen habe ich dienstags die Mittagspausen dort verbracht, und freitags besuche ich die abendliche Freizeit. Ich erachte diese Erfahrung als wertvoll und weiß nun, wie dankbar ich sein kann, von der großzügigen Landowski-Familie aufgenommen worden zu sein. Viele der Kinder im Waisenhaus haben ihre Eltern im Krieg verloren. Aufgrund meines Schweigens fällt es mir schwer, mich mit anderen anzufreunden. Ich kann nicht rufen, dass man mir Bälle zuwerfen soll, oder während eines Spiels singen, das »H immel und Hölle« heißt. Trotzdem bin ich weiterhin entschlossen, ein Geigenvirtuose zu werden. Eine Person habe ich im Waisenhaus kennengelernt, mit der ich gern Zeit verbringe. Ihr Name ist Elle. Ihr macht es nichts aus, dass ich nicht spreche. Dafür interessiert sie sich für meine Musik. Sie hat mich mehrfach gebeten, ihr etwas auf meiner Violine vorzuspielen. Doch dazu fehlt mir bislang der Mut, nicht weil ich Angst vor den anderen Kindern habe (obwohl das nach meinen bisherigen Erlebnissen durchaus eine berechtigte Sorge ist). Nein, mich lähmt die Furcht, Elle zu enttäuschen. Ihre goldblonden Haare und blauen Augen lassen mich an einen Engel denken, und einen Engel darf man nicht enttäuschen.

Ich hörte zu schreiben auf, weil ich meine Gefühle nicht meinem offiziellen Tagebuch anvertrauen wollte, das die Landowskis ja möglicherweise einmal lesen würden. Deshalb wechsle ich zu diesen geheimen Seiten. Hier kann ich gestehen, dass die zwei Stunden wöchentlich in Gesellschaft von Elle Leopine es wert sind, die Schrecken des Apprentis d’Auteuil zu ertragen.

Ich weiß nun, dass sie Bratsche und Flöte spielt. Das hat sie sich selbst beigebracht. Die Instrumente gehörten Elles Eltern; sie sind ihre einzige Verbindung zu ihnen. Beide sind im Krieg umgekommen. Elles Vater ist im Schützengraben gefallen, ihre Mutter wurde ein Opfer der Grippewelle im Jahr 1918. Elle ist dreizehn und erinnert sich nicht an ihre Eltern. Sie hatte einen kleinen Bruder, der beim Tod ihrer Mutter erst ein paar Wochen alt war, das finde ich am traurigsten. Dem Waisenhaus war es seinerzeit sofort gelungen, Adoptiveltern für ihn zu finden, weil viele Familien, die im Krieg ihr Kind verloren hatten, Neugeborene wollten. Doch Elle hatte nicht so viel Glück. Sie ist schon elf Jahre im Apprentis d’Auteuil .

Wenn ich mit ihr zusammen bin, denke ich an nichts anderes. Ich grüble nicht über meine schmerzvolle Vergangenheit nach. Es ist ein wenig wie mit der Musik, die mich in eine andere Welt als diese reale entführt. Oje! Für wen halte ich mich? Für Lord Byron?

Früher haben mir seine Gedichte nicht viel gesagt, doch nun schlagen sie eine Saite in mir an. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich, seit ich Elle kenne, kaum noch etwas anderes interessiert. Meine abendlichen Besuche bei Evelyn sind genauso zweitrangig wie die Bücher, die ich mir von Monsieur Landowski ausleihe. Sogar die Geigenstunden bei Monsieur Ivan sind mir jetzt nicht mehr so wichtig. Meine zweimal wöchentlichen Fahrten nach Paris begeistern mich nicht des Konservatoriums wegen, sondern weil ich weiß, dass ich dort Zeit mit meiner neuen Freundin verbringen kann.

Ich bin mir bewusst, was die »Liebe« mit einem anstellt. Sogar der robusteste Geist kann sämtliche Logik und Vernunft durch sie verlieren, das habe ich in Büchern gelesen. Aber das stört mich nicht.

Elle hat jeden Band aus der Bibliothek des Waisenhauses zweimal gelesen. Deswegen bringe ich ihr nun welche aus Monsieur Landowskis Sammlung mit. Wenn das kein Beweis dafür ist, dass mir mein Verstand abhandenkommt! Diese Bücher gehören mir nicht, und ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie Monsieur Landowski reagieren würde, wenn er mich ertappt. Doch ich kann nicht anders; mein Wunsch, Elle zu gefallen, ist stärker als meine Furcht vor möglichen Konsequenzen meines Handelns. Sobald sie einen Roman gelesen hat, unterhalten wir uns darüber (ich verwende das Wort »unterhalten« großzügig, denn sie redet, und ich schreibe). Allerdings ahnt sie erstaunlich oft, was ich sagen möchte, ohne dass mein Stift überhaupt das Papier berühren muss.

Morgen ist Dienstag. Ich hoffe, dass Elle mit dem Phantom der Oper fertig ist. Wenn ich an die Geschichte denke, werde ich rot, denn sie dreht sich um einen begabten Musiker, der mit seinem Können eine unerreichbar schöne Frau zu gewinnen sucht. Ich rede mir ein, verglichen mit ihm einen bedeutenden Vorteil zu haben, denn mein Gesicht ist nicht wie das des Phantoms entstellt. Allerdings muss ich zugeben, dass ich Elle nur mit meiner Virtuosität beeindrucken kann, wenn ich ihr tatsächlich vorspiele.

Ich versteckte mein geheimes Tagebuch und legte mich ins Bett. An jenem Abend hatte ich Evelyn besonders anspruchsvolle Arpeggien demonstriert, weswegen mir schon bald die Augen zufielen, während ich an Elles liebes Gesicht dachte. Als ich mich auf den Bauch drehte, spürte ich wieder diesen Druck auf der Brust. Es geschah nun immer häufiger, dass ich den Beutel nicht abnahm. Im Lauf der Zeit fiel es mir leichter und leichter zu vergessen, wer ich war und warum ich mich hier aufhielt.

***

Freitagabends durfte ich mit den anderen Kindern in den Gemeinschaftsraum im ersten Stock des Waisenhauses gehen. Dort setzten Elle und ich uns in die Fensternische und schauten hinunter auf die Rue Jean de La Fontaine.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass Christine mit Raoul wirklich glücklich wäre!«, lautete Elles Urteil über Gaston Leroux’ Roman. »Musik ist ihre Leidenschaft, und das begreift nur das Phantom. Raoul finde ich langweilig. Er ist bloß … attraktiv und reich …«

Das Phantom ist ein Mörder! , schrieb ich.

Elle musste lachen. »Ja, das stimmt, Bo!«

Für wen würdest du dich entscheiden?

Ihre blauen Augen schienen tief in meine Seele zu blicken.

»Hmm. Der reiche, langweilige Mann oder der interessante Mörder«, überlegte sie laut. »Es mag verrückt klingen, doch ich denke, ich würde es mit dem Phantom versuchen. Falls es die Hand gegen mich erheben würde, wäre es vermutlich besser, ein kurzes leidenschaftliches Leben geführt zu haben als ein langes eintöniges.«

Du bist sehr klug.

»Nein, Bo. Du bist der Klügere von uns. Du sprichst nicht, bist aber in der Lage, in einem einzigen geschriebenen Satz das zu vermitteln, wozu ich Stunden bräuchte, obwohl ich reden kann.«

Weil ich muss.

»Tatsächlich?« Sie blickte lächelnd zum Fenster hinaus. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass du etwas sagen möchtest.«

Ich verkrampfte mich. Tatsächlich lagen mir viele Worte auf der Zunge.

»Warum willst du nicht für mich spielen, Bo? Maurice und Jondrette werden es nicht wagen, dich zu ärgern, das verspreche ich dir.«

Du hast noch nicht für mich gespielt …

»Ich habe es mir anhand von Büchern und Übungen selbst beigebracht. Ob ich überhaupt so etwas wie Begabung besitze, weiß ich nicht. Es wäre mir peinlich, für dich zu spielen. Du hingegen studierst bei Monsieur Ivan!«

Ich bin noch längst nicht perfekt , schrieb ich.

»Perfektion gibt es nicht. Du bekommst Unterricht am Pariser Konservatorium. Ich kenne niemanden in unserem Alter, der sonst dort aufgenommen worden wäre. Es eines Tages zu besuchen wäre mein Traum, doch wie könnte ich mir je die Gebühren leisten?« Elle senkte den Blick, und in dem Moment fürchtete ich, dass mir das Herz brechen würde.

Eines Tages wirst du es besuchen.

»Danke. Ich kann mir nicht vorstellen, je hier herauszukommen, geschweige denn, das Konservatorium zu betreten.« Elles Augen wurden feucht.

Am liebsten hätte ich ihr gesagt, ich sei doch der beste Beweis dafür, dass alles möglich ist. Aber das konnte ich nicht.

Stattdessen löste ich hastig die Bänder, mit denen ich meine Geige in dem kaputten Kasten befestigt hatte, und hob das Instrument ans Kinn. Dann nahm ich den Bogen und begann mit geschlossenen Augen Beethovens Violinsonate Nr.  9 . Während ich für Elle spielte, spürte ich, wie ich mich in andere Sphären bewegte, wie die Bedeutung jeder Note sich intensivierte. Am Ende löste ich den Bogen von der Geige, öffnete die Augen und wartete auf ihre Reaktion.

Sie schaute mich erstaunt an. Von Tränen keine Spur mehr.

»Bo, das war unglaublich. Mir war klar, dass du begabt sein musst, wenn Monsieur Ivan dich als Schüler nimmt, aber …«

Mein Herz jubelte, mir rauschte das Blut in den Ohren. Plötzlich merkte ich, dass nicht nur Elle mir gelauscht hatte. Einige Kinder musterten mich verblüfft. Im hinteren Teil des Raums hob Madame Gagnon die Augenbrauen so hoch, dass ich Angst hatte, sie würden sie vom Boden anheben. Zu meiner Überraschung fing sie zu klatschen an. Die anderen Anwesenden taten es ihr gleich, und schon bald erscholl donnernder Applaus. Sogar Maurice und Jondrette wirkten beeindruckt, obwohl sie nicht klatschten. Elle, die meine Überwältigung zu spüren schien, nahm meine Hand. Das war der schönste Moment meines Lebens.

Allmählich verebbte der Applaus, und Madame Gagnon machte mir ein Kompliment. »Bravo. Obwohl du noch so jung bist, kann Monsieur Baudin dir nicht das Wasser reichen.«

»Siehst du«, flüsterte Elle, »du musst also gut gewesen sein.« Sie küsste mich auf die Wange. »Danke, Bo.«

Ich wurde über und über rot und versuchte, meine Verlegenheit zu kaschieren, indem ich meine Geige einpackte.

Wann darf ich dich spielen hören? , schrieb ich, sobald das Instrument sicher verstaut war.

»Glaubst du wirklich, ich möchte jetzt noch für dich spielen?! Das wäre, als wollte ein Neugeborenes Texte von Shakespeare vortragen!«

Du würdest mir eine Freude machen.

Elle stützte lächelnd den Kopf in die Hände. »Na schön. Am Wochenende übe ich. Dann bin ich, wenn du nächsten Dienstag kommst, bereit. Wenigstens kannst du mir Hinweise geben, wie sich mein Spiel verbessern lässt.«

Als Evelyn mich abholte, um mich nach Boulogne-Billancourt zurückzubringen, begleitete Madame Gagnon mich zum Tor und erzählte ihr, was sich ereignet hatte.

»Er besitzt großes Talent. Und er ist hier jederzeit willkommen.«

»Ist das zu fassen?«, fragte Evelyn während der Busfahrt nach Hause. »Du hast tatsächlich für die Kinder gespielt! Das ist fantastisch, Bo. Monsieur Landowski wird sich freuen, wenn er hört, dass du allmählich selbstbewusster wirst.«

Evelyn ahnte natürlich nicht, dass ich nicht für die Kinder gespielt hatte, sondern nur für ein einziges Mädchen, das ziemlich schnell mein Leben umzukrempeln schien.

Als ich am Dienstag zum Waisenhaus zurückkehrte, ergriff Elle meine Hand und sagte mir, ich solle ihr folgen. Wir überquerten den Hof. Zu meiner Überraschung öffnete Madame Gagnon die Tür und ließ uns hinein.

»Sie hat mir erlaubt, dir im Gemeinschaftsraum vorzuspielen, ohne die anderen. Wie du neulich kann ich nicht auftreten. Dazu bin ich zu schüchtern.«

Wir eilten durch die Flure. Elle zog mich mit solcher Kraft mit sich, dass ich laufen musste, um mit ihr Schritt zu halten. Im Gemeinschaftsraum nahm ich auf einem der alten Stühle Platz, deren Ledersitzfläche so durchgesessen war, dass das Metall herausschaute. Elle packte ihre Flöte aus und setzte sie zusammen.

»Du wirst Prélude à l’après-midi d’un faune von Debussy hören. Bitte sei nicht zu streng mit mir. Ich habe nie professionellen Unterricht genossen.«

Ich konnte kaum glauben, dass der schönste Mensch der Welt ein Privatkonzert für mich geben wollte.

»Gut, ich fange an.« Sie holte tief Luft.

Schon beim ersten Ton merkte ich, wie begabt sie war. Als geradezu magisch empfand ich es, dass Elle sich das Spielen ausschließlich mithilfe von Büchern beigebracht hatte. Dazu wäre ich, glaube ich, nicht in der Lage gewesen. Und der Grund, warum sie überhaupt ein Instrument in die Hand genommen hatte, war bedeutend nobler als der meine. Sie spielte im Gedenken an ihre toten Eltern, um eine Verbindung zu ihnen herzustellen.

Ich schloss die Augen. Der Klang in diesem früher einmal prächtigen Gebäude war angenehm. Trotzdem zwang ich den Musiker in mir, Elles Bitte nachzukommen und ihre technischen Fehler zu analysieren. Sie atmete unregelmäßig und spielte Debussy deutlich zu schnell. Ich nahm meinen Stift heraus und schrieb.

Entspann dich. Ich hielt den Zettel hoch.

Sie las, was darauf stand, und löste die Flöte vom Mund.

Ich schrieb weiter. Vergiss nicht: Ich bin nur ein elfjähriger Junge.

Zu meiner Freude lachte sie, nickte, holte ein zweites Mal Luft und begann noch einmal von vorn. Diesmal spielte sie ohne das kantige Stakkato, und plötzlich wurde mir klar, was Monsieur Ivan mir mit seinem Rat sagen wollte, mich an meinen »heiligen Ort« zurückzuziehen. Als Elle fertig war, stand ich auf und applaudierte.

»Komm, lass das. Diesmal ist es besser gegangen, aber du hast recht, das erste Mal war furchtbar.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du musst nicht nett sein. Ich war nervös, Bo. Seit deinem letzten Besuch habe ich die ganze Zeit nur daran gedacht, wie sehr ich dich beeindrucken möchte.«

Das ist dir gelungen. Welche Freude, dass meine Meinung Elle so viel bedeutete!

»Jetzt spiele ich dir etwas auf der Bratsche vor. Auf ihr bin ich unsicherer als auf der Flöte.«

Elle hob das Instrument ans Kinn und begann mit Strauss’ Don Quixote . Ihre Selbsteinschätzung war richtig – die Flöte beherrschte sie besser, doch auch mit der Bratsche besaß sie Talent. Als sie fertig war, klatschte ich genauso begeistert wie zuvor.

Kaum zu glauben, dass du dir das selbst beigebracht hast.

»Danke. Manchmal bin ich selbst ganz überrascht. Wahrscheinlich liegt’s an den vielen einsamen Stunden. Bitte sag mir, was du davon hältst, Bo. Kann ich besser werden?«

Das sind beides nicht meine Instrumente, aber ich versuche, dir allgemeine Hinweise zu geben.

Ich notierte eine Liste mit Tricks, die ich von Monsieur Ivan gelernt hatte.

»Danke, Bo. In Zukunft werde ich darauf achten.« Sie überflog die Liste. »Hier schreibst du ›Bogenhaltung üben‹. Kannst du mir zeigen, was du meinst?«

Ich nahm ihren Bogen, stellte mich hinter sie und ergriff ihre rechte Hand. Dann streckte ich sie sanft vor ihr aus und drehte ihre Innenfläche so, dass sie in unsere Richtung wies. Danach erst platzierte ich den Bogen parallel zum Fingeransatz.

»So?«, fragte Elle.

Ich nickte.

Anschließend sorgte ich dafür, dass ihr Daumen leichten Druck auf die Bogenstange ausübte, und positionierte ihren Mittelfinger genau gegenüber, sodass der Knöchel den Bogen berührte. Natürlich war die Bratsche viel zu groß für ein Kind, weil sie ja Elles Mutter gehört hatte. Deswegen mussten sich meine Korrekturen für Elle sehr fremd anfühlen.

»Oje, mir war nicht klar, dass ich es so falsch mache.«

Nun trat ich vor Elle und ordnete ihre Finger von vorne so an, wie Monsieur Ivan es mir eingebläut hatte. Elle schaute mich dabei merkwürdig an, als wollte sie mich zu etwas auffordern. Offenbar erwiderte ich ihren Blick fragend, denn sie kicherte. Dann beugte sie sich vor und küsste mich. Als ihre weichen Lippen die meinen berührten, war es um mich geschehen.

»Wie ich sehe, ist die Musikstunde vorbei.« Madame Gagnon stand in der offenen Tür.

Ein Schauder überlief mich. Elle verstaute hastig die Bratsche im Kasten, nahm ihre Flöte in die Hand und eilte zum Ausgang.

»Ich bringe die Instrumente in den Schlafsaal, Madame Gagnon.«

Madame Gagnon ließ sie vorbei. Jetzt waren sie und ich allein im Gemeinschaftsraum. Madame Gagnon bedachte mich mit einem Blick, der ein Pferd mitten im Galopp zum Stehen hätte bringen können. Ich schämte mich zutiefst. Sie hatte Elle erlaubt, in Abwesenheit der anderen Kinder für mich zu spielen, und nun wirkte es so, als hätte ich ihre Nachsicht ausgenutzt. Hastig nahm ich den Stift in die Hand, um eine Entschuldigung aufzuschreiben.

»Schreib nichts auf, setz dich einfach nur hin.« Madame Gagnon deutete auf einen Stuhl.

Ich erwartete, von ihr zu hören, ich sei nicht länger willkommen im Waisenhaus, was bedeutete, dass ich Elle nicht mehr treffen könnte. Innerhalb weniger Sekunden löste sich meine kleine Welt auf, und meine Hoffnung verwandelte sich in Verzweiflung. Ich setzte mich. Zu meiner Überraschung schloss Madame Gagnon die Tür des Gemeinschaftsraums und nahm mir gegenüber Platz.

»Sie ist hingerissen von dir, junger Monsieur. Hoffentlich weißt du, wie zerbrechlich Mädchenherzen sind. Du solltest sehr vorsichtig damit umgehen.«

Ich nickte.

»Wenn ich noch einmal … so etwas beobachten sollte, ziehe ich dir eins mit dem Stock über. Hast du mich verstanden?«

Ja, Madame Gagnon.

»Gut. Nun zum eigentlichen Thema. Ich arbeite seit zwanzig Jahren im Apprentis d’Auteuil und habe Hunderte von Kindern kommen und gehen sehen. Es ist mir stets wichtig gewesen, so schnell wie möglich ein gutes Zuhause für meine Schützlinge zu finden.« Madame Gagnon schwieg kurz. »Nach dem Krieg haben wir eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Wir hatten kaum finanzielle Mittel, dafür aber viele Kinder. Ich war mir damals nicht sicher, ob es möglich wäre, so viele Mäuler satt zu bekommen, geschweige denn, die Kleinen mit Medikamenten, Bettzeug, Kleidung und allem Nötigen zu versorgen. Es war wirklich sehr schwierig. Ich war zu einigen harten Entscheidungen gezwungen. Elle und ihr Bruder kamen hierher, kurz nachdem ihre Mutter an der Grippe gestorben war. Einen Monat zuvor hatte ein reiches Paar aus dem Ausland mich gebeten, es zu benachrichtigen, sobald ein Neugeborenes ins Waisenhaus käme. Sie selbst konnten keinen Nachwuchs haben. Das habe ich ihnen versprochen, und eigentlich hätte ich mich freuen müssen, ein Kind sofort bei liebenden Adoptiveltern unterbringen zu können. Doch … dieses Neugeborene hatte eine ältere Schwester. Normalerweise hätte ich einer Adoption nur zugestimmt, wenn das Paar bereit gewesen wäre, beide zu nehmen. Meiner Ansicht nach ist es wesentlich, dass Kinder, die ihre Eltern verloren haben, beisammenbleiben. Aber damals habe ich mir, wie bereits erwähnt, Sorgen um die Zukunft des Waisenhauses gemacht, und zu meiner Beschämung muss ich gestehen, dass ich in diesem Fall dem Praktischen den Vorzug vor der Moral gab. Kurzum: Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Elles jüngerer Bruder von ihr getrennt wird. Jedes Jahr, das sie hier verbringt, ohne adoptiert zu werden, verschlimmert mein schlechtes Gewissen. Sie spielt die Instrumente, um sich ihren Eltern nahe zu fühlen, das hat sie dir sicher erzählt, oder?«

Ich nickte.

»Dann kannst du dir wahrscheinlich vorstellen, wie sehr mich ihr Klang aus der Fassung bringt, denn ich habe ihr die einzige Verbindung zur Vergangenheit genommen – ihren jüngeren Bruder.«

Wer hat Elles Bruder adoptiert?

Madame Gagnon senkte den Blick. »Ich führe genauestens Buch über jedes Kind, das sich bei uns aufhält. Aber das Paar, das Elles Bruder mitnahm, wollte anonym bleiben. Niemand sollte je erfahren, dass der Junge nicht ihr leiblicher Sohn ist. Wie ich bereits erwähnt habe, stand ich unter unglaublichem Druck. Außerdem haben sich die beiden bereit erklärt, dem Waisenhaus einen beträchtlichen Geldbetrag zu spenden. Wie es so schön heißt: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. So ist Elle nicht nur von ihrem Bruder getrennt, sondern kann sich auch keinerlei Hoffnung machen, ihn jemals zu finden.«

Welche Nationalität hatte das reiche Paar? , schrieb ich. Vielleicht konnte ich Elle etwas Interessantes über dieses Gespräch berichten, falls sie mich danach fragte.

»Daran erinnere ich mich leider nicht. Nun, da ich dir diese Geschichte erzählt habe, hätte ich eine Bitte an dich. In den vielen Jahren, die ich hier bin, ist mir nie ein sanfterer und klügerer Mensch als Elle Leopine begegnet.«

Warum möchte niemand Elle adoptieren?

»Viele standen knapp davor, doch am Ende haben sich alle dagegen entschieden. Ich vermute …« Madame Gagnon schüttelte den Kopf. »Elles Familie, die Leopines, sind vor den grässlichen Pogromen in Osteuropa nach Paris geflohen. Du weißt, was ein Pogrom ist?« Ich nickte traurig. Mein Vater hatte oft von diesem Wahnsinn erzählt. »Hmm. Es gibt Gerüchte über eine stärker werdende politische Bewegung in Deutschland, die eine Bedrohung für die jüdische Bevölkerung darstellen könnte. Möglicherweise wollen potenzielle Adoptiveltern für den Fall, dass es auch in Frankreich zu Konflikten käme, keine Probleme riskieren.«

Elle wurde nicht adoptiert, weil sie Jüdin ist?

»Möglich. Obwohl das natürlich reine Spekulation ist.«

Und der Bruder?

»Wie gesagt: Der kleine Junge wurde ins Ausland gebracht und unter neuem Namen registriert. Außerdem hatte die Welt damals mit anderen Dingen zu tun; so etwas war nicht besonders wichtig. Jedenfalls ist Elle nach wie vor bei uns, und mich plagen schreckliche Schuldgefühle. Du kennst sie erst seit ein paar Wochen, aber ihr seid euch sehr nahe, das ist deutlich zu sehen. Was auch immer diesem Mädchen das Leben erleichtert, mindert auch meine Last der Schuld, und dafür bin ich dir dankbar.«

Ich versuchte, ihr ein Lächeln zu schenken, das mir ein wenig schief geriet, weil es mich verblüffte, wie offen die strenge Madame Gagnon mit mir sprach.

»Nun also zu meiner Bitte an dich«, fuhr sie fort. »Von Madame Evelyn weiß ich, dass du am Conservatoire de Paris von Monsieur Ivan unterrichtet wirst. Elles Traum ist es, das Konservatorium zu besuchen. Seit sie körperlich dazu in der Lage ist, ein Instrument zu halten, spielt sie darauf. Ich selbst besitze leider keinerlei musikalische Begabung, aber im Lauf der Jahre habe sogar ich gemerkt, wie Elles Fähigkeiten sich verbessern. Ich habe sie mehrmals gebeten, sie Monsieur Baudin bei einem seiner Besuche zu demonstrieren, doch sie hat sich stets geweigert, weil sie Angst vor seinem Urteil hatte. Erst du hast es geschafft, sie zum Spielen zu überreden.«

Es war mir eine Freude, ihr zuzuhören.

»Du kennst dich aus. Sag mir: Besitzt sie Potenzial?«

Grenzenloses Potenzial.

Madame Gagnon war die Erleichterung anzumerken.

»Gott sei Dank ist mein Musikgehör doch nicht so schlecht. Glaubst du, sie ist gut genug fürs Konservatorium?«

Zweifellos.

»Wie du dir sicher denken kannst, sind Elles Aussichten, am conservatoire zu studieren, gering, schon wegen der hohen Gebühren. Sie würde ein Vollstipendium benötigen, und soweit ich weiß, sind die schwieriger zu ergattern als blaue Diamanten.« Bei dem Wort zuckte ich zusammen. »Vielleicht ahnst du bereits, worum ich dich bitten möchte, Bo. Könntest du Monsieur Ivan überreden, Elle Unterricht zu geben?«

Wie um Himmels willen sollte ich das machen? Wer würde die Gebühren übernehmen? Was, wenn Elle erfuhr, dass ich es nicht geschafft hatte?

Monsieur Ivan unterrichtet nur Geige , schrieb ich.

»Bestimmt kennt er die richtigen Leute, die in der Lage sind, Elles Begabung zu fördern.«

Geld?

»Ich besitze ein Sparkonto, von dem ich im Lauf der Jahre nur wenig abgehoben habe. Es ist mir gelungen, einen nicht unerheblichen Betrag für den Ruhestand beiseitezulegen. Allerdings kann ich mir keine bessere Verwendungsmöglichkeit dafür vorstellen, als damit ein Unrecht wiedergutzumachen, für das ich verantwortlich bin.«

Madame Gagnon wartete nervös auf meine Antwort. Ihre Reue schien mir aufrichtig zu sein. Sie glaubte, ich könnte ihr nach all den Jahren eine Möglichkeit eröffnen, etwas gegen ihre Schuldgefühle zu tun.

Ich kann es versuchen.

»Gut! Das freut mich sehr. Elle werde ich von unserer Abmachung natürlich nichts erzählen. Das bleibt unter uns, bis wir eine positive Antwort haben.«

Danke.

Ihre Erleichterung war deutlich zu spüren. »Für deine Bemühungen wirst du auch entlohnt. Von nun an könnte ich dir zum Beispiel erlauben, hier drin oder in einem der Arbeitszimmer mit Elle allein zu sein, weg von den lärmenden anderen Kindern.«

Meine Augen begannen zu leuchten.

»Natürlich nur zu dem Zweck, ihre musikalischen Fähigkeiten zu verbessern, damit das klar ist. Ich werde euch zwei nicht aus den Augen lassen.« Zu meiner Überraschung breitete sich ein Lächeln auf Madame Gagnons Gesicht aus. »Danke, Bo. Du bist ein guter Mensch.«