»Was ist los, petit monsieur ?« Monsieur Ivan hob seine dünnen Arme hoch in die Luft. »In den letzten Wochen haben sich deine Leistungen deutlich verbessert. Deine Schultern sind längst nicht mehr so verkrampft. Das ist wunderbar! Wusste ich’s doch, dass es dir guttun würde, Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen.«
Ich verriet Monsieur Ivan nicht, dass es sich eher um eine als um mehrere Gleichaltrige handelte, die die Veränderung herbeigeführt hatte.
»Aber heute stehst du wieder da wie eine Statue aus Eis! So voller Anspannung und Angst. Sag, was quält dich?«
Monsieur Ivan schätzte die Situation völlig richtig ein. Nachdem ich einige Stunden alle seine Instruktionen peinlichst genau befolgt, über seine Witzchen gelächelt und zustimmend genickt hatte, wenn er über die karge Bezahlung klagte, mit der sich manche Orchestermusiker begnügen mussten, war nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ich ihm die Sache mit Elle vortragen wollte. Ich holte Stift und Papier hervor.
Danke für Ihren Vorschlag mit dem Waisenhaus. Die Freizeiten dort machen mir das Leben angenehmer.
Monsieur Ivan zuckte selbstgefällig mit den Achseln. »Keine Ursache, junger Bo.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Keiner soll behaupten, ich könnte nicht das Beste aus meinen Schülern herausholen, egal, wie alt sie sind. Doch das beantwortet meine Frage nicht. Warum bist du heute so verkrampft? Ist alles in Ordnung bei den Landowskis?«
Ja, danke. Monsieur Landowski und der Familie geht es gut. Aber ich hätte ein persönliches Anliegen.
»Aha. Heraus mit der Sprache, junger Mann. Wir émigrés helfen einander.« Monsieur Ivan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Dieses Anliegen … ist es möglicherweise anatomischer Natur? Und es Monsieur Landowski oder Madame Evelyn vorzutragen wäre dir peinlich? Keine Angst, ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich so alt war wie du, und wie überrascht ich war, dass der männliche Körper zu gewissen Veränderungen imstande ist …«
Ich winkte ab. Dies war kein Gespräch, das ich mit Monsieur Ivan oder irgendjemandem sonst führen wollte. Also schrieb ich hastig etwas auf meinen Zettel.
Es geht um ein Kind im Waisenhaus und sein musikalisches Talent.
»Ah, verstehe. Ich bitte Baudin, sich den Jungen anzuhören. Er kann ihm gleich sagen, ob er Aussichten hat, im conservatoire aufgenommen zu werden. Siehst du? Manchmal lassen sich Probleme ganz leicht lösen. Kein Grund also zur Nervosität. Und nun wenden wir uns wieder dem Tschaikowsky zu.«
Ich schrieb: Sie.
»Entschuldige. Ich hätte nicht automatisch davon ausgehen sollen, dass es sich um einen Jungen handelt. In meiner Vorstellung spielst du dort hauptsächlich mit anderen Burschen. Egal. Ich bitte Baudin, sie sich anzuhören und ihr seine Einschätzung mitzuteilen.«
Mir war klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde. Ich wollte fragen, ob es möglich wäre, dass sie wie ich Unterricht am Konservatorium erhält.
Längeres Schweigen, während Monsieur Ivan verarbeitete, was ich geschrieben hatte. Dann fing er zu lachen an.
»O nein! Offenbar war es ein Fehler, dich ins Apprentis d’Auteuil zu schicken. Jetzt willst du jedes Kind hierherbringen.« Monsieur Ivan schlug sich amüsiert auf die Oberschenkel. »Wie du vermutlich weißt, ist das nicht möglich. Das Konservatorium ist für Studenten. Wir sind keine Musikschule für Kinder. Es gibt zahlreiche Privatlehrer, die ihre Zeit damit verbringen zu lauschen, wie sie ihr Instrument quälen. Bestimmt kann ich jemanden auftreiben, der willens ist, deiner kleinen Freundin Stunden zu geben. In Ordnung? Und jetzt zu Tschaikowsky.«
Sie hat sich das Spielen über Jahre hinweg selbst beigebracht. Ich habe sie gehört; sie besitzt eine bemerkenswerte Begabung. Meiner Ansicht nach würde sie nur vom Konservatoriumsunterricht profitieren.
»Soso. Das verändert natürlich die Sachlage.« Monsieur Ivan wölbte die Hand um den Mund und tat so, als würde er rufen. »Der junge Prophet verkündet, dass nur Unterricht am Konservatorium seiner Freundin helfen kann! Schaufelt die Stundenpläne frei. Lehrer, macht euch bereit! Unser kleiner Talentsucher hat das nächste große Genie für uns aufgespürt!«
Ich senkte den Blick.
»Junger Bo, ich bezweifle nicht, dass deine Absichten gut sind und du deiner Freundin helfen möchtest, aber du bist bloß ein Junge und aufgrund eines speziellen Arrangements im Konservatorium, nämlich weil Monsieur Landowski Beziehungen zu Monsieur Rachmaninow hat. Ohne diese Beziehungen hätte ich mich, fürchte ich, niemals bereit erklärt, dich hier zu empfangen. Ursprünglich habe ich mir dein Spiel aus reiner Höflichkeit angehört. Nun halten wir uns deiner außergewöhnlichen Fähigkeiten wegen in diesem Raum auf. Du besitzt eine … Reife, die höchst ungewöhnlich ist für einen Jungen deines Alters. Das conservatoire unterrichtet keine Kinder, Punkt. Und jetzt bitte den Tschaikowsky.«
Sie ist ebenfalls außergewöhnlich, weil sie sich alles selbst beigebracht hat. Ich kann kaum glauben, welche innere Kraft sie …
Monsieur Ivan riss mir den Zettel aus der Hand und warf ihn auf den Boden.
»Es reicht! Den Tschaikowsky, Junge!«
Mit zitternden Fingern griff ich nach meiner Geige und schob sie unters Kinn. Dann nahm ich den Bogen in die Hand und begann zu spielen. Fast sofort liefen mir Tränen übers Gesicht, und meine Atmung wurde unregelmäßig, weswegen ich einen Fehler nach dem anderen machte.
Monsieur Ivan stützte den Kopf in die Hände.
»Hör auf, Bo. Meine Reaktion war übertrieben. Es tut mir leid.«
Seine Gemeinplätze nützten nichts. Die Tränen strömten weiter, und ich war nicht in der Lage, ihnen Einhalt zu gebieten. Ich hatte lange nicht mehr so geweint, das merkte ich jetzt. Während meiner Reise hatte es dunkle Nächte gegeben, in denen ich schluchzte, ohne dass Tränen gekommen wären, weil nicht genug Flüssigkeit in meinem Körper war. Monsieur Ivan wühlte in seiner Schreibtischschublade und holte ein Taschentuch heraus.
»Es ist sauber«, versicherte er und reichte es mir. »Noch einmal, junger Mann: Ich hätte dich nicht anschreien dürfen. Du wolltest nur jemandem helfen. Solche Versuche sollte man nicht im Keim ersticken.« Er legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter.
Es bewirkte nichts. Ich schluchzte immer weiter. Sein Wutanfall hatte bei mir alle Dämme brechen lassen. Ich weinte um meinen Vater, meine Mutter und den Jungen, den ich als meinen Bruder erachtete und der mich jetzt töten wollte. Ich weinte um die vielen Leben, die ich hätte führen können, wäre ich nicht zur Flucht gezwungen gewesen. Ich weinte, als ich an Monsieur Landowskis Großzügigkeit dachte und an Monsieur Ivans Bereitschaft, mich zu unterrichten. Ich weinte vor Erschöpfung, Kummer, Verzweiflung, Dankbarkeit, und am wichtigsten: Ich weinte aus Liebe. Ich weinte, weil es mir nicht gelingen würde, Elle die Gelegenheit zu verschaffen, die sie verdiente. Mein Heulen mochte wohl eine Viertelstunde dauern, in der Monsieur Ivan geduldig die Hand auf meiner Schulter behielt und sich bemühte, mich zu beruhigen. Der Arme. Vermutlich hatte er nicht mit einer so dramatischen Reaktion gerechnet, als er die Stimme erhob. Höchstwahrscheinlich erlebte er bei seinen älteren Studenten keine solchen Szenen.
Irgendwann versiegten die Tränen, und ich holte tief Luft.
»Du lieber Himmel. Natürlich war es meine Schuld, aber einen so extremen Ausbruch habe ich nicht vorhergesehen. Hast du dich wieder gefangen?«
Ich nickte und wischte mir die Nase am Ärmel ab.
»Gott sei Dank. Es ist wohl das Beste, heute nicht mit dem Unterricht fortzufahren.«
Tut mir leid, Monsieur Ivan , schrieb ich.
»Du musst dich nicht entschuldigen, petit monsieur . Ich merke schon, dass da sehr viel mehr im Spiel ist. Würde dir ein offenes Ohr helfen? Oder besser gesagt: ein freundliches Paar Augen? Selbst wenn wir émigrés einander anbrüllen, existiert ein unauflösliches Band zwischen uns.«
Ich begann zu schreiben, hielt aber fast sofort inne. Vielleicht hatte der Weinkrampf meine innere Balance wiederhergestellt. Jedenfalls überkam mich unvermittelt tiefe innere Ruhe. Was konnte schon passieren, wenn ich redete? Unter Umständen starb ich. Dann wäre ich immerhin im Jenseits, bei meiner Mutter, möglicherweise auch bei meinem Vater. Alles erschien mir plötzlich so absolut und wunderbar sinnlos. Der Wunsch, mich von dieser Last zu befreien, verleitete mich, nicht mehr meinem Verstand zu folgen. Also tat ich das Undenkbare. Ich öffnete den Mund.
»Wenn Sie mir zuhören, erzähle ich Ihnen meine Geschichte, Monsieur«, sagte ich in meiner Muttersprache.
Monsieur Ivan sah mich mit großen Augen an. »Na so was …«
»Ich bin noch nicht alt, aber meine Geschichte ist lang. Die zehn Minuten der Stunde, die noch übrig sind, dürften nicht reichen.«
»Nein, nein, natürlich nicht. Ich verschiebe die nächsten Schüler. Und was ist mit Madame Evelyn? Ich hinterlege eine Nachricht für sie am Empfang, dass wir heute überziehen, um für ein Konzert zu üben.« Er sprang auf und wäre dabei fast über seinen Holzstuhl gefallen.
»Danke, Monsieur Ivan.« Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass es mir nicht ein gewisses Vergnügen bereitete, ihn ausnahmsweise so unbeholfen zu erleben.
Meine Stimme zu gebrauchen war, wie einen Muskel zu strecken, den ich monatelang nicht beansprucht hatte. Es fühlte sich frisch und merkwürdig an, als würde sie gar nicht mir gehören. Natürlich hatte ich hin und wieder etwas gesagt, um mich zu vergewissern, dass ich das nach wie vor konnte, und ein paar Wochen zuvor, um Monsieur Landowski zu danken. Doch das, was ich gerade eben Monsieur Ivan mitgeteilt hatte, war der längste Satz, der seit Ewigkeiten aus meinem Mund gekommen war. »Mein Name ist … Bo«, murmelte ich. »Ich. Bin. Bo.« Ich hörte mich bedeutend tiefer an, als ich es in Erinnerung hatte, obwohl ich nach wie vor nicht im Stimmbruch zu sein schien. Was für ein seltsames Gefühl!
Monsieur Ivan stolperte in den Raum zurück. »Gut, fang an.« Er nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und signalisierte mir mit einer Geste, dass ich beginnen solle.
Ich schloss die Augen, holte tief Luft und erzählte ihm alles.
Es dauerte fast eine Stunde. Die ganze Zeit über lauschte mir Monsieur Ivan stumm und fasziniert ob der schockierenden Dinge, die ich berichtete. Als ich schließlich bei dem Punkt anlangte, da Bel mich unter Monsieur Landowskis Hecke entdeckte, folgte erst einmal verblüfftes Schweigen.
»Herr im Himmel … Herr im Himmel … Herr im Himmel«, wiederholte Monsieur Ivan dann ein ums andere Mal kopfschüttelnd und kaute an seinen Fingernägeln, während er überlegte, was er erwidern sollte. »Junger Bo … oder eher nicht Bo, wie wir nun beide wissen, mir fehlen die Worte.« Er stand auf und umarmte mich so fest, dass ich kaum Luft bekam. »Ich habe es gewusst! Émigrés . Wir sind stark, Bo. Stärker, als alle ahnen.«
»Monsieur Ivan, wenn irgendjemand jemals herausfinden sollte …«
»Bitte, petit monsieur . Uns eint das starke Band unserer Herkunft. Da ich das Land kenne, aus dem du stammst, kann ich deine traumatischen Erfahrungen nachvollziehen. Ich schwöre beim Grab meiner Familie, niemals auch nur ein Wort von dem zu verraten, was ich gerade gehört habe.«
»Danke, Monsieur.«
»Deine Eltern wären sicher sehr stolz auf dich. Dein Vater … Glaubst du wirklich, dass er noch lebt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und der Gegenstand, den du erwähnt hast … befindet er sich nach wie vor in deinem Besitz?«
Möglicherweise hätte ich Monsieur Ivan diesen Teil meiner Geschichte vorenthalten sollen. Ich hatte gelernt, dass Gier den Verstand trüben und selbst den vernünftigsten Menschen in den Wahnsinn treiben kann. Er spürte mein Zögern.
»Keine Sorge, ich habe keinerlei Interesse daran, das versichere ich dir. Allerdings möchte ich dir ans Herz legen, gut darauf aufzupassen. Nicht seines materiellen Wertes wegen, sondern weil du damit vielleicht eines Tages dein Leben retten kannst.«
»Das tue ich.«
»Freut mich zu hören. Erzähl mir mehr von Elle. Nach allem, was du erlebt hast, begreife ich, welche Bedeutung eine solche Freundin für dich hat.«
Ich schilderte ihm ihre Geschichte. »Sie muss schon ein ganz besonderer Mensch sein, um in ihrer Lage so positiv und stark zu bleiben. Mir erscheint sie ein wenig wie die Schwerkraft, die alles anzieht.«
Monsieur Ivan schmunzelte. »Bo, jetzt verstehe ich, was los ist. Sie zieht vermutlich nicht alles an, sondern nur dich. Gott steh dir bei, junger Mann! Als hättest du nicht schon genug Probleme. Du bist verliebt!«
»Ich weiß nicht, ob ein Elfjähriger verliebt sein kann.«
»Mach dich nicht lächerlich, petit monsieur ! Natürlich ist das möglich! Der Liebe ist es egal, wie jung du bist. Sie packt dich, und nun bist du ihr hilflos ausgeliefert.«
»Es tut mir leid.«
»Dazu besteht kein Grund. Das sollte man eher feiern. Wenn du älter wärst, würde ich dir einen Wodka einschenken und bis tief in die Nacht mit dir über deine Leidenschaft reden.«
»Werden Sie sie sich anhören, Monsieur Ivan?«
»Wenn ich feststellen sollte, dass du mich durch diesen raffinierten Trick dazu bringen wolltest, deine Freundin ins Konservatorium zu schleusen, mache ich dir die Hölle heiß …« Er grinste. »Das war ein Scherz, petit monsieur . Natürlich sehen wir sie uns an. Monsieur Toussaint unterrichtet Flöte und Monsieur Moulin Bratsche. Sie wird hier vorspielen. Allerdings dürfte dir klar sein, dass die professeurs sie nicht gratis unterrichten werden, falls sie sich tatsächlich als ausreichend begabt erweist.«
»Für die Bezahlung sorgt eine wohltätige Person im Waisenhaus.«
»Nun denn. Ich organisiere alles und lasse dich in deiner nächsten Stunde wissen, was weiter geschieht. Gehe ich recht in der Annahme, dass du dann wieder stumm sein wirst?«
Ich überlegte kurz. »Nein, Monsieur Ivan. Uns eint das starke Band unserer Herkunft.«
»Danke für dein Vertrauen, petit monsieur . Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir.«
Ich nickte und streckte die Hand nach der Türklinke aus.
»Noch eins: Du hast mir so vieles gesagt, nur nicht deinen wahren Namen. Verrätst du ihn mir?«
Ich sagte ihn ihm.
»Nun ergibt alles einen Sinn.«
»Was?«
»Warum du beim Spielen die Last der Welt auf deinen Schultern trägst.«
***
Am Ende erwies sich Elles Vorspiel als bloße Formalie. Das hatte Monsieur Ivan mir gegenüber bereits angedeutet, als er es arrangierte.
»Kleiner Bo, ich habe auf eine Notlüge zurückgreifen müssen, um sicherzugehen, dass deine Freundin aufgenommen wird.«
»Sie ist nicht meine Freundin, Monsieur Ivan.«
»Natürlich ist sie das. Aber egal. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass die anderen professeurs nicht gerade glücklich darüber wären, wenn sich das Konservatorium in einen Kindergarten verwandeln würde.«
»Was für eine Notlüge?«, fragte ich nervös.
»Dass deine kleine Freundin Beziehungen zu Monsieur Rachmaninow hat und ihm höchstpersönlich daran gelegen ist, ihre musikalische Begabung zu fördern.«
»Monsieur Sergei Rachmaninow?«
»Genau der. Genial, nicht wahr?«
»Monsieur Ivan, ich verstehe nicht ganz. Elle lebt in einem Waisenhaus!«
»Junger Bo, wie soll ich das taktvoll ausdrücken …? Monsieur Rachmaninow mag zwar ein freundlicher und höchst fähiger Mann sein, aber er ist auch bekannt für seine weiblichen Schützlinge, von denen viele in Paris leben. Folglich ist es durchaus vorstellbar, dass die gute Elle das Produkt einer seiner Affären ist und das schlechte Gewissen ihn dazu treibt, sich für sie einzusetzen.«
»Monsieur Ivan, ich bin mir nicht sicher, ob Elle in der Lage sein wird, so eine lächerliche Fassade aufrechtzuerhalten«, erwiderte ich.
»Eine Fassade ist nicht nötig, petit monsieur . Ich habe Toussaint und Moulin erklärt, dass die Kleine keine Ahnung von ihrer wahren Herkunft hat und Monsieur Rachmaninow außer sich vor Wut wäre, wenn sie etwas darüber erfahren würde. Ich kann für das Stillschweigen der beiden bürgen; sie möchten den großen Russen keinesfalls gegen sich aufbringen.«
»Monsieur Ivan …«
»Ich nehme an, du wünschst, zur selben Zeit wie das Mädchen unterrichtet zu werden, nicht wahr? Dafür müssen die Stundenpläne umgekrempelt werden, doch die Erwähnung von Monsieur Rachmaninow wird dafür sorgen, dass das ohne Murren geschieht.«
Ich ließ mich widerwillig auf Monsieur Ivans Plan ein, weil er Elle zusätzlichen Schutz verschaffte. Toussaint und Moulin würden nicht wagen, beißende Kritik an einer Tochter Rachmaninows zu üben. Allerdings muss ich zugeben, dass mir nicht gerade wohl dabei war, den Ruf des Komponisten derart zu schädigen.
So wurden Elle und ich die jüngsten Schüler des Conservatoire de Paris. In den letzten Wochen hat Madame Evelyn mir erlaubt, unbegleitet im Bus nach Paris und wieder nach Hause zu fahren, vorausgesetzt, ich melde mich nach meiner Rückkehr bei ihr. Ihre Sorge erscheint mir angesichts meiner Erfahrungen der vergangenen Jahre unnötig, aber es ist ein schönes Gefühl, dass ich ihr so wichtig bin.
Nach unseren zweimal wöchentlichen Unterrichtsstunden und vor der Rückkehr ins Waisenhaus gönnen Elle und ich uns nun immer ein Eis an der Avenue Jean Jaurès, mit dem wir einen kleinen Spaziergang entlang der Seine machen. Dieses Privileg gestattet uns Madame Gagnon, die außer sich vor Freude darüber ist, dass es mir irgendwie gelang, für ihren Schützling einen Platz am Konservatorium zu ergattern. Im Lauf der Wochen haben wir die Grenzen dieses Privilegs Schritt für Schritt erweitert und bleiben länger und länger. Manchmal nehmen wir Bücher und Stifte mit an den Fluss. Dort liest Elle dann laut vor, während ich zeichne. Besonders gut kann ich das nicht, doch allmählich werden meine Landschaften besser.
Vor einigen Tagen legte Elle ihren Kopf an meine Schulter und erzählte mir die Geschichte des Glöckners von Notre-Dame . Ich hielt in meinem Versuch inne, die grün belaubte Rosskastanie aufs Papier zu bannen, betrachtete zuerst Elles blonde Haare und dann den ruhig dahinfließenden Fluss, auf dessen gekräuseltem Wasser das Licht der Maisonne tanzte.
Die Liebe sei wie ein Baum: Sie wachse von selbst, schlage ihre Wurzeln tief in unser Wesen und grüne oft noch auf einem kaputten Herzen weiter. Je blinder sie sei, desto beharrlicher zeige sie sich unerklärlicherweise auch. Am stärksten gedeihe sie, wenn sie völlig unvernünftig sei, fasste Elle eine Stelle für mich zusammen. »Meinst du, das stimmt, Bo? Kann Liebe Menschen blind machen?«
Ich schüttelte den Kopf und begann zu schreiben.
Im Gegenteil: Ich glaube, die Liebe öffnet dem Menschen erst die Augen.
Da küsste mich Elle. Dieser Kuss war länger als sonst, und ihre warmen Lippen bewegten sich sanft über die meinen. Als sie sich von mir löste, war mir leicht ums Herz, in meinem Bauch flatterten Schmetterlinge. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Auch Elle musste lachen. Dadurch ermutigt ergriff ich ihre Hand. Seitdem lasse ich sie bei keinem unserer Treffen mehr los.
Elle gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Früher hatte ich geglaubt, nur eine warme Behausung, Essen auf dem Tisch und Geld auf der Bank könnten das. Doch Elle hat mich gelehrt, dass man auch ohne diese Dinge glücklich sein kann, vorausgesetzt, man hat einen geliebten Menschen …
Nach langem Überlegen bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich Elle Leopine tatsächlich hoffnungslos und bedingungslos liebe.