XVII

Bärs Weinen holte Ally jäh in die Gegenwart zurück. Mit zitternder Hand legte sie den schweren Stapel aus Tagebuchseiten auf die Kommode in ihrer Kabine.

»Aber, aber, mein Schatz.« Ally hob Bär aus seinem Bettchen, wo er noch vor wenigen Minuten friedlich geschlummert hatte. Soeben war das laute Dröhnen der Schiffsmotoren verstummt, und offenbar schien gerade die plötzliche Stille das Baby geweckt zu haben. »Sicher hat Kapitän Hans einen Ankerplatz für die Nacht gefunden, Bär, alles ist gut.«

Ally setzte sich wieder aufs Bett und begann ihr Kind auf den Knien zu wiegen. Erstaunt stellte sie fest, dass der Nachmittag in den Abend übergegangen war, so lange hatte sie sich in das Tagebuch vertieft. Nachdem sie die Nachttischlampe angeknipst hatte, legte sie Bär zum Stillen an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Gewiss hatte die Enthüllung, dass Pa Kreeg Eszu tatsächlich gekannt hatte und überdies auf der Flucht vor ihm gewesen war, die anderen ebenso fassungslos gemacht wie sie. Insbesondere für Maia musste dieses Wissen schwer zu verkraften sein, dachte Ally. Sie war froh, dass Floriano bei ihr war.

Allerdings gab es da noch mehr, was Ally erst noch verarbeiten musste. Pas Pseudonym. Bo und Elle, die Liebe seines Lebens. Ally kannte die Namen dieser Leute, denn sie waren enge Freunde ihrer Großeltern, Pip und Karine Halvorsen, gewesen und wurden häufig in dem Buch mit dem Titel Grieg, Solveig und ich erwähnt, dem Text, aus dem Ally überhaupt erst von ihrer Herkunft erfahren hatte. Bo und Pa Salt waren also ein und dieselbe Person.

Tränen traten Ally in die Augen, als sie sich daran erinnerte, dass er zwar sehr wortkarg, aber der begabteste Musiker am Leipziger Konservatorium gewesen war. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach weiteren Informationen über die Freunde ihrer Großeltern, doch sie wusste eigentlich nur von der Flucht der vier nach Norwegen, weil Elle und Karine Jüdinnen waren. Was war aus Bo und Elle geworden? Irgendwo hatte sie doch gelesen, dass die beiden nach Schottland weitergereist waren. Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Grübeleien.

»Herein«, sagte sie, ohne nachzudenken.

Die Tür ging auf, und Jack kam herein. »Hallo, Ally, ich …« Er bemerkte, dass sie gerade Bär stillte. »Hoppla, tut mir leid. Ich kann auch später wiederkommen. Ich wollte nicht …«

Allys Wangen röteten sich. »Nein, ich muss mich entschuldigen, Jack. Ich war ganz weit weg. Alles gut, komm nur rein. Er ist gleich satt.«

»Okay.« Jack ließ sich in dem Ledersessel neben der Kommode nieder. »Ich wollte nur nach dir schauen. Wie geht’s dir?«

»Gut, danke, Jack.« Ally lächelte zaghaft.

»Hast du schon was gegessen? Oder wenigstens einen Schluck Wasser oder Tee getrunken?«

Ally überlegte kurz. »Offen gestanden nein.«

»Das könnte erklären, warum du weiß bist wie ein Laken.« Sie war zu erschöpft, um ihm zu erklären, dass ihre Verfassung eher an dem lag, was sie heute Nachmittag aus dem Tagebuch erfahren hatte. »Moment, ich schalte den Wasserkocher ein. Du kannst dir ja inzwischen schon einen Schluck davon genehmigen.« Er wollte ihr eine noch unangebrochene Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank in der Kabine reichen.

»Danke. Könntest du vielleicht …?« Ally wies mit dem Kopf auf die Flasche.

»Oh, sorry, wird gemacht.« Nachdem Jack den Schraubverschluss entfernt hatte, griff Ally mit der freien Hand nach der Flasche und trank einen großen Schluck.

»Schon besser. Was treiben denn die anderen da oben?«, erkundigte sie sich mit einem Blick zur Decke.

»An Bord geht es zu wie wie auf einem Geisterschiff. Alle haben sich zurückgezogen und lesen. Nicht mal Mum hat sich heute Nachmittag blicken lassen. Wir anderen lungern hier wie die Statisten herum, mühen uns im Small Talk und trauen uns nicht, die Crew um irgendwas zu bitten.«

»Sei nicht albern, Jack. Ihr seid doch keine Statisten. Nach dem zu urteilen, was ich bis jetzt gelesen habe, werdet ihr bald eine wichtige Rolle spielen, denn meine Schwestern haben Unterstützung bitter nötig.«

»Du auch«, sagte Jack mit einem Lächeln, als er den Tee zubereitete.

Ally hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch wie ein Teenager. »Das ist sehr lieb von dir, Jack. Aber mir geht es wirklich gut. Schließlich habe ich ja ihn.« Sie schaute auf Bär hinunter.

»Nun, ich bin zwar kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber wenn ich Babys richtig in Erinnerung habe, sind sie normalerweise keine sonderlich anregenden Gesprächspartner.« Ally lachte. »Weißt du, ich habe den Eindruck, dass du für die da oben so eine Art Anführerin bist. Deine Schwestern hören auf dich. Nur, dass sie alle Partner haben, bei denen sie sich hinter geschlossenen Kabinentüren ausjammern können. Du hingegen hast diesen Luxus nicht. Nur den kleinen Racker hier, der dich auf Trab hält. Und deshalb wollte ich dir sagen …« – er breitete die Arme aus – »… dass ich für dich da bin.«

»Wie ich schon sagte, ist das sehr lieb von dir, Jack. Danke«, erwidere Ally aufrichtig. Er stellte den Tee auf die Kommode und räumte die Milch wieder in den Kühlschrank. »Jack …«

»Ja, Ally?«

»Ich wollte dir nur erklären …« In diesem Moment gab Bär ein Prusten von sich und schaute zu Ally auf. »Sorry, einen Moment noch.«

»Lass dir nur Zeit.« Ally löste Bär von ihrer Brust und stellte fest, dass Jack schüchtern wegschaute, was sie rührend fand. Sie legte ihren Sohn aufs Bett, wo er zufrieden vor sich hin gluckste. »Also schieß los.«

Sie errötete. »Ach, es ist nichts.« Jack nickte und sah zu Boden. Ally hätte sich ohrfeigen können und bemühte sich, rasch das Thema zu wechseln. »Die wichtigste Erkenntnis aus dem Tagebuch habe ich dir noch gar nicht erzählt.« Sie nahm den Papierstapel von der Kommode. »Wie hieß das Haus in Irland noch mal? Das in West Cork, wo die Koordinaten deiner Mum zusammentreffen?«

»Argideen House?«, fragte Jack nach.

»Genau. Sicher erinnerst du dich, dass du seine Geschichte bis zu dem Namen Eszu zurückverfolgt hast.«

»Richtig.«

»Nun, mein Vater kannte ihn. Offenbar sogar recht gut.«

»Wie interessant. Und was schließen wir daraus?«

»Ich kenne noch nicht alle Antworten, aber ich bin kurz davor. Wenn ich es mir genauer überlege, sollte ich jetzt besser Maia Gesellschaft leisten, denn sie ist am meisten von den Informationen betroffen.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Tut mir leid, Jack, aber das soll sie dir lieber selbst erzählen.«

»Natürlich. Weißt du was, ich könnte ja auf den kleinen Burschen aufpassen, während du mit deiner Schwester sprichst.«

»Würdest du das wirklich tun?«

»Klar, kein Problem.«

»Danke, Jack. Du kannst ihn gern mitnehmen, wenn du nicht hier in der Kabine bleiben willst. Und falls dir langweilig wird, müsste Ma irgendwo in der Nähe sein.« Sie griff nach ihrer Teetasse und steuerte auf die Tür zu.

»Okay. Also los, Grizzlybär, was hältst du davon, nach oben zu gehen? Nur zu, Ally, wir sehen uns später.«

***

Maia war speiübel. Denn sie wurde die scheußlichen Erinnerungen an Zed Eszu, Kreegs Sohn und dazu ein schmieriger Widerling, einfach nicht los. Allein bei dem Gedanken, dass Pa eine Generation zuvor vor Zeds Vater auf der Flucht gewesen war, hätte sie am liebsten losgeheult. Kannte Zed etwa die Geschichte ihrer Familie? Ganz bestimmt. Vielleicht erklärte das ja, warum er es offenbar auf die d’Aplièse-Schwestern abgesehen hatte. Sie wusste, dass er und Elektra ein Paar gewesen waren. Außerdem hatte Tiggy ihr alles über sein Auftauchen in den schottischen Highlands erzählt. Sicher hatte es Pa sehr wehgetan, dass Zed eine Rolle im Leben der Schwestern spielte. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.

»Du Schwein!«, rief Maia aus und schleuderte die kopierten Seiten des Tagebuchs zu Boden.

»Maia?«, war da Stars Stimme zu hören. Als sie und CeCe in der Tür des Leseraums erschienen, schlug Maia gerade schluchzend die Hände vors Gesicht. Die Schwestern eilten auf sie zu und nahmen sie in die Arme. »Es tut uns so leid, Maia. Es muss schrecklich für dich sein.«

»Jedenfalls bin ich ganz deiner Ansicht, Maia. Was für ein verdammter Scheißkerl«, fügte CeCe hinzu.

»Er muss es gewusst haben, oder? Er wusste über Kreeg und Pa Bescheid. Deshalb ist er auch ständig um uns herumgeschwirrt. Ich fühle mich so benutzt. Schließlich habe ich ein Baby von ihm bekommen!«, schrie Maia auf.

»Ich weiß, Liebes, ich weiß. Es war nicht deine Schuld.« Ursprünglich war einzig Ally von Maia eingeweiht worden, warum sie sich in Wahrheit neun Monate lang mit »Drüsenfieber« im Pavillon von Atlantis zurückgezogen hatte. Dennoch hatten die anderen Schwestern geahnt, dass es sich nur um einen Vorwand handelte. »Wir sind gekommen, sobald wir es gelesen hatten«, versuchte Star sie zu trösten.

»Danke, Star«, schniefte Maia. »Ach, herrje, es ist alles so entsetzlich emotional, findet ihr nicht? Eine furchtbare Vorstellung, dass Pa so verzweifelt und allein war.«

»Wenigstens hat er Elle gefunden. Sie hat sein Leben verändert. Sogar seine Handschrift wirkt irgendwie … schwungvoller. Versteht ihr, was ich meine?«, erwiderte CeCe.

Maia schluchzte leise auf. »Seltsamerweise schon. Und es macht mich froh zu lesen, wie gut die Familie Landowski zu ihm war.«

»Ja, richtig, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Für dich muss es ziemlich sonderbar gewesen sein, die Schilderung von Pas Zeit im Atelier und seinem Verhältnis zu Laurent Brouilly zu lesen«, murmelte Star.

»Ja. Er war also der stumme kleine Junge, der in Bels Briefen beschrieben wird. Kaum zu glauben.«

»Das erklärt auch, woher er die Specksteinfliese hat, die Pa deinem Brief beigelegt hatte.«

»Offenbar ja.«

In diesem Moment kam Ally herein und gesellte sich zu ihren Schwestern. Sie nahm Maias Hand und drückte sie. »Ach, Liebes, wir sind alle für dich da, wenn du uns brauchst.«

»Ich weiß. Entschuldigt, ich sollte mich zusammenreißen.« Maia wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. »Zed ist ein Mistkerl, aber das ist uns ja nicht neu.« Ally förderte ein Taschentuch zutage und reichte es Maia, die es dankbar entgegennahm und sich die Augen betupfte. »Pa und Kreeg kannten sich also.«

»Ich glaub, ›kennen‹ ist ein wenig untertrieben«, wandte CeCe verärgert ein.

»Warum hat er das nie mit einem Wort erwähnt? Er muss doch fast einen Herzinfarkt gekriegt haben, als ich sagte, ich hätte einen Jungen namens Zed Eszu kennengelernt.« Maia schniefte wieder.

»Keine Ahnung, Liebes. Vielleicht haben sie ihren Streit ja beigelegt. Schließlich kennen wir nur einen Teil der Geschichte«, merkte Star an und streichelte ihrer Schwester übers Haar.

»Ich habe eher den Verdacht, dass das nicht zutrifft, Star«, antwortete Maia. »Wir alle wissen, dass Kreeg an Pas Todestag Selbstmord begangen hat. Und Ally hat doch erzählt, sie habe an jenem Tag die Olympus neben der Titan gesehen.«

»Nicht mit eigenen Augen, aber Theos Freund hat es über Funk durchgegeben«, bestätigte Ally. Seufzend fuhr sie sich durchs Haar. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich euch das Allerneueste erzähle.«

»Worum geht’s, Ally?«, fragte CeCe argwöhnisch.

»Wisst ihr noch, dass Merrys Koordinaten bei Argideen House in West Cork zusammentreffen?« Die Schwestern nickten nach kurzem Nachdenken. »Nun, das Haus steht zwar schon lange leer, gehört aber der Familie Eszu. Das hat Jack rausgekriegt, als er für uns Nachforschungen angestellt hat.«

Alle schwiegen, während die Frauen überlegten, was diese Verbindung zu bedeuten haben könnte. »Was schlussfolgern wir daraus?«, meinte Star schließlich.

»Offen gestanden habe ich keine Ahnung. Aber wenn wir die Rolle von Zed und Argideen House und außerdem die Tatsache bedenken, dass die Olympus am Tag von Pas Tod vor Ort war, heißt das, dass der Schlüssel zu dem Geheimnis im Verhältnis zwischen Pa und Kreeg liegt.«

»Stimmt«, sagte Maia leise.

»Ich trommle die anderen zusammen und frage sie, wie weit sie schon mit dem Tagebuch sind. Dann können wir bei ein paar Flaschen Rosé unsere Erkenntnisse erörtern.«

»Gute Idee, Ally.« Star nickte. »In der Geschichte gibt es noch so viele Lücken. Woher kam Pa? Warum glaubte Kreeg, dass er seine Mutter umgebracht hat? Und dann noch der Diamant …«

»Wir können nur hoffen, dass die Zusammenhänge beim Weiterlesen klarer werden«, erwiderte Ally und legte Star die Hand auf die Schulter.