XVIII

Georg Hoffman ließ den Whisky im Glas kreisen und lauschte dem Klimpern der Eiswürfel. Er blickte aus dem Fenster der Lounge auf dem Oberdeck hinaus über das Mittelmeer bis hin zur italienischen Küste, die im Licht der untergehenden Sonne golden strahlte. Mit ein wenig Mühe konnte er Neapel und dahinter die antike Stadt Pompeji erkennen, deren Bewohner vor Tausenden von Jahren in der Zeit erstarrt waren. Er betrachtete das als passendes Sinnbild für diese Reise, denn die Ereignisse der Vergangenheit schienen die Gegenwart bis heute zu beeinflussen.

Georg ließ die letzten zwölf Monate Revue passieren, in denen das Leben der d’Aplièse-Schwestern gehörig durcheinandergewirbelt worden war. Und sie hatten alle ohne Ausnahme die Wahrheit über ihre Herkunft mit Abgeklärtheit und Würde hingenommen.

»Sie wären stolz auf sie«, sagte er in den leeren Raum hinein.

Insbesondere während der letzten Wochen hatte er kaum ein Auge zugetan. Die ständigen Anrufe, die ihn über den neuesten »Stand der Dinge« in Kenntnis setzten, hatten ihn sehr belastet. Natürlich war Georg fest entschlossen, alles zu tun, was in seiner Macht stand. Aber wieder einmal fühlte er sich hin und her gerissen zwischen der Rolle des Anwalts, dem die Pflicht gebot, die Wünsche seines Mandanten umzusetzen, und dem Menschen, der diese Familie liebte wie seine eigene. Es klopfte an der Tür, und als Georg sich umdrehte, streckte Ma den Kopf herein.

»Ich wollte nur einmal nachsehen, ob alles in Ordnung ist?«, sagte sie.

»Ja. Danke. Kommen Sie doch rein, Marina. Möchten Sie auch etwas trinken?«

Leise schloss sie die Tür hinter sich. »Wissen Sie was, Georg, ich glaube, jetzt wäre die richtige Gelegenheit dafür. Danke, gern.« Er griff nach der Karaffe und schenkte seiner alten Freundin ein Glas ein.

»Der ist noch von ihm. Ein 1926er Macallan. Wahrscheinlich war er vor mir der Letzte, der diese Karaffe berührt hat.« Er reichte ihr das Glas.

»Danke. Ja, ich weiß noch, wie er mir erzählt hat, er habe nach seiner Zeit in Schottland eine Schwäche für die dortigen Whiskys entwickelt.« Als Marina vorsichtig an dem Glas nippte, glitt ihr die Flüssigkeit warm und sanft die Kehle hinunter bis in den Magen. »Glauben Sie, die Mädchen sind im Tagebuch schon bis dahin gekommen?«

»Ich bin nicht sicher. Wie werden sie es Ihrer Ansicht nach aufnehmen, Marina?«

»Schwer zu sagen. Die einen verkraften gewisse Aspekte der Geschichte vermutlich besser als andere. Aber ich bin einfach nur froh, dass wir endlich alle auf demselben Wissensstand sein werden.«

»Ja.«

»Darf ich fragen, ob es Neuigkeiten gibt?« Marina sah Georg auffordernd an.

»Es gibt nicht mehr zu berichten als das, was ich Ihnen heute Morgen erzählt habe. Es geht rapide bergab und wird nicht mehr lange dauern.«

Marina bekreuzigte sich. »Ganz gleich, was auch geschieht, Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, Georg. Sie haben sich verhalten wie ein Ehrenmann.« Sie legte die Hand auf seine.

»Danke, Marina. Es bedeutet mir sehr viel, das von Ihnen zu hören. Wir haben in all den Jahren so viel zusammen erlebt. Ich finde nur, dass ich es ihm schuldig bin, keine Fehler zu machen.«

»Ich weiß, dass Sie alles schaffen, was Sie sich vornehmen, Georg. Wahrscheinlich hat man Ihnen das viel zu selten gesagt, aber Atlas wäre sehr stolz auf Sie. Und Ihre Schwester natürlich auch. Entschuldigung, ich habe noch gar nicht nachgefragt, aber wie kommt sie mit alldem zurecht?«

»Es fällt ihr schwer, wie wohl jedem unter diesen Umständen.«

»Ich wage kaum, es mir auszumalen.« Marina blickte aufs Meer hinaus. »Er hat diese Küste immer geliebt.« Als Georg nicht antwortete und Marina aufblickte, bemerkte sie Tränen in den Augen ihres Freundes.

»Oh, Georg, bitte weinen Sie doch nicht. Es bricht mir das Herz.«

»Ich verdanke ihm alles, Marina. Alles.«

»Ich auch. Was ich Sie schon immer fragen wollte … haben Sie damals je befürchtet, Atlas könnte Sie an die Behörden ausliefern, nachdem er Sie am Ufer des Genfer Sees aufgelesen hatte?«

Georg nahm die Karaffe und füllte noch einmal sein Glas. »Selbstverständlich. Immerhin waren wir nur zwei verängstigte Kinder. Allerdings wusste er, was es hieß, auf der Flucht zu sein.« Bedächtig trank er einen Schluck Whisky. »Atlas war so gut zu uns.«

»Und Sie haben es ihm gebührend gedankt, Georg. Sie haben ihm Ihr Leben gewidmet.«

»Es war das Mindeste, was ich tun konnte, Marina. Ohne ihn hätte ich nämlich gar kein Leben gehabt.«

Auch Marinas Glas war leer, und Georg schenkte nach. »Danke. Wie lange wird es nach Einschätzung Ihrer Schwester noch dauern?«

Georg zuckte mit den Achseln. »Nur noch wenige Tage.«

»Wird es Ihre Entscheidung beeinflussen, Georg? Was …«

»Vielleicht«, unterbrach er sie. »Wie ich zugeben muss, könnte die Tatsache, dass Merry gefunden und nun mit an Bord der Titan ist, mein weiteres Vorgehen bestimmen.«

»Was angemessen wäre. Möglicherweise ist es ja ein Zeichen des Himmels.«

»Wie so viele Dinge auf dieser Welt.«

Wieder klopfte es an der Tür, und Merry erschien. »Hallo, wie geht es?«

»Merry! Sehr gut, danke«, antwortete Ma. »Doch noch wichtiger ist, wie es dir geht, chérie

»Oh, prima, danke. Das Tagebuch ist eine faszinierende Lektüre. Atlas war ziemlich wortgewandt, findest du nicht? Für einen Halbwüchsigen hatte er ein beachtliches Vokabular.«

»Er war immer schon sprachbegabt.« Marina lächelte.

»Ich wollte nur fragen, was es mit diesem Kreeg Eszu auf sich hat. Er wurde zwar bis jetzt nur kurz erwähnt, aber ich weiß von Jack, dass Argideen House seiner Familie gehörte. Georg, können Sie mir vielleicht mehr über die Hintergründe erzählen?«

Marina sah kurz zu Georg, der den Rest seines Whiskys mit einem Schluck hinunterkippte. »Nun, ich kann mir vorstellen, dass Sie das interessiert.« Merry bemerkte, dass Marina Georg einen warnenden Blick zuwarf. »Aber offen gestanden wissen wir es selbst nicht, Merry.«

»Oh. Wirklich nicht?«

»Ja, wahrscheinlich ist es besser, wenn wir dir das schon vorab sagen. Nicht, dass du das ganze Tagebuch liest und anschließend enttäuscht bist.«

»Gut, aber ärgerlich ist es trotzdem.«

»Vielleicht finden wir ja eines Tages mehr heraus. Es könnte auch nur ein Zufall sein, Merry«, log Georg.

Merry schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Oh, natürlich haben Sie absolut recht. Wo habe ich nur meinen Verstand? Schließlich kommt dieser Name in Irland sehr häufig vor. Es gibt sicherlich Tausende von Murphys, O’Briens und Eszus«, spottete sie. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte Georg mit hochgezogenen Augenbrauen an, bis dieser sein Einstecktuch zückte, um sich die Stirn abzutupfen. »Und jetzt würde ich gern nach Dublin telefonieren, falls das möglich ist, um Ambrose auf den neuesten Stand zu bringen. Kaum zu fassen, dass ich ihn erst vor knapp vierundzwanzig Stunden zuletzt gesehen habe. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.«

»Da muss ich Ihnen zustimmen«, erwiderte Georg. »Im Büro gibt es ein Satellitentelefon. Sie brauchen nur ein Mitglied der Besatzung zu fragen. Marina, wären Sie so nett, Merry zu begleiten?«

»Natürlich, gern. Komm, chérie. Anschließend können wir uns ja vor dem Abendessen auf dem Achterdeck ein Gläschen Wein genehmigen.«

Die beiden Frauen gingen hinaus und ließen Georg allein. Er seufzte tief. Wie sehr er es bereute, dass er Atlas’ Tochter gerade belogen hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, endlich die Karten auf den Tisch zu legen. Zumindest hätte ihn das von einer zentnerschweren Last befreit. Aber sein Mandant hätte das nicht gewollt. Als es in Georgs Tasche vibrierte, kramte er hastig sein Handy heraus. Obwohl Unbekannter Anrufer auf dem Display stand, wusste er sofort, wer am Apparat war. Nachdem er tief Luft geholt hatte, nahm er den Anruf an.

»Plejone«, sagte Georg.

»Orion«, lautete die Antwort.

Das waren die Losungsworte, die beiden Seiten mitteilten, dass sie gefahrlos sprechen konnten.

Georg wappnete sich und nahm den abendlichen Bericht entgegen.