XX

Leipzig, Deutschland

Wer nur sporadisch in diesen Seiten geblättert hat, mag sich fragen, warum in den Einträgen eine Lücke von über sechs Jahren klafft. Außerdem, wieso der kleine Junge, einst ein citoyen de Paris , inzwischen in der Blüte seiner Jugend steht und in einer anderen europäischen Stadt lebt. Die Geschichte ist ziemlich abenteuerlich. Außerdem habe ich im Lauf dieser sechs Jahre häufig Tagebuch geschrieben. Der Inhalt mag für manchen literarischen Geschmack zu gefühlsselig geraten sein, doch das ist der glücklichen Zeit geschuldet, die ich in Frankreich verbringen durfte. Leider muss ich berichten, dass diese Aufzeichnungen im Hause Landowski zurückblieben, als ich mich gezwungen sah, völlig überstürzt aufzubrechen. Die Ereignisse, die diesem Schritt vorangingen, waren die Folgen eines schweren Fehlers meinerseits, der darin bestand, dass ich den Mund nicht halten konnte.

Während ich diese Zeilen zu Papier bringe, bin ich achtzehn Jahre alt und weiß, dass es nachlässig von mir wäre, eine lückenhafte Geschichte zu erzählen. Gestatten Sie mir deshalb eine Erklärung. Zwischen 1930 und 1933 verlief mein Leben in Paris in denselben, mehr oder weniger geordneten Bahnen wie schon in den zwei Jahren zuvor. Ich ging Monsieur Landowski und Laurent Brouilly im Atelier zur Hand und besuchte, ebenso wie Elle, den Unterricht bei Monsieur Ivan im conservatoire . Als wir älter wurden, gestatteten uns unsere Sorgeberechtigten – Madame Gagnon in Ellas Fall und Evelyn bei mir – immer mehr Freiheiten. Wir verbrachten friedliche Vormittage damit, in Pariser Cafés das Kaffeetrinken zu entdecken. Abends schlenderten wir durch die Straßen, wo wir immer wieder neue bestaunenswerte architektonische Details bemerkten. Meine Entscheidung an jenem Weihnachtstag, endlich den Mund aufzumachen, hatte meiner Beziehung mit Elle sehr gutgetan. Wer hätte das gedacht? Nun genoss ich das wundervolle Privileg, ihr bei unseren Picknicks vorzulesen und sie in jedem Bereich meines sich in raschem Aufschwung befindlichen Lebens nach ihrer Meinung zu fragen. Leider jedoch wollte es das Schicksal, dass mir gerade diese Entscheidung letztlich zum Verhängnis wurde.

Das Jahr 1933 hatte gerade angefangen, als Monsieur Landowski uns eines Morgens im Atelier eine Mitteilung machte: »Meine Herren, ich habe Neuigkeiten, die von nicht unbeträchtlicher Wichtigkeit sind, weshalb ich um allgemeine Aufmerksamkeit bitte. Unsere gemeinsame Reise neigt sich dem Ende zu.«

»Monsieur Landowski?«, stieß Laurent erbleichend hervor. Schließlich hatte er Rio eigens deshalb verlassen, um seine berufliche Laufbahn in Paris fortzusetzen.

»Man hat mir heute Morgen die Leitung der Französischen Akademie in Rom angetragen.« Laurent schwieg, und auch mir wurde ganz mulmig, denn schließlich bekam ich bei Monsieur Landowski Kost und Logis, und überdies war er so großzügig, meine Studiengebühren am Konservatorium zu bezahlen. »Monsieur Brouilly, haben Sie nichts dazu zu sagen?«

»Verzeihung, Monsieur. Glückwunsch. Es war eine weise Entscheidung.« Ich stimmte in Laurents Begeisterung ein, indem ich breit (wenn auch gekünstelt) lächelte und kräftig Beifall klatschte.

»Vielen Dank, meine Herren. Stellen Sie sich das nur einmal vor. Ich! Mit einem eigenen Büro! Und einem festen Gehalt!«

»Der Welt wird Ihr Können fehlen, Monsieur«, erwiderte Laurent aufrichtig bestürzt.

»Ach, papperlapapp, Brouilly. Ich werde selbstverständlich weiter bildhauern. Nie im Leben würde ich damit aufhören! Der wichtigste Grund, weshalb ich den Posten annehme, besteht darin … nun, man könnte sagen, dass unser junger Freund hier schuld daran ist.« Landowski zeigte auf mich und bemerkte mein Entsetzen. »Damit meine ich, dass es mir als Künstler und als Mensch große Freude bereitet hat, Bos Fortschritte der letzten Jahre mitzuerleben. Laut Monsieur Ivan ist er auf dem besten Weg, ein virtuoser Cellist zu werden. Und dabei war er bei unserer ersten Begegnung so schwach und mickrig, dass er kaum aufrecht stehen konnte. Offen gesagt bin ich ein wenig eifersüchtig auf deinen Lehrer, Bo! Ich habe zwar meinen finanziellen Beitrag geleistet, hätte dich jedoch gern auch in künstlerischer Hinsicht gefördert. Deshalb hoffe ich, dass ich nun an der Französischen Akademie die Begabung junger Menschen in meinem Fachbereich ausbauen kann.«

Inzwischen war aus meinem aufgesetzten Lächeln ein mehr oder weniger echtes geworden.

»Ein sehr lobenswerter Wunsch, Monsieur«, meinte Laurent bedrückt.

»Oh, Brouilly! Sie machen ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter!« Landowski legte seinem Gehilfen die Hand auf die Schulter. »Glauben Sie wirklich, ich würde Sie einfach im Stich lassen? Bevor ich den Posten angenommen habe, habe ich eine Vereinbarung mit unserem Kollegen Monsieur Blanchet an der École des Beaux-Arts getroffen. Wenn ich in einer Woche nach Rom aufbreche, werden Sie dort als Dozent anfangen.«

»Wirklich, Monsieur?« Laurents Augen weiteten sich.

»Ja. Blanchet hat mein Empfehlungsschreiben mit Wohlwollen gelesen. Es handelt sich um eine angesehene Institution, an der Sie einen wertvollen Beitrag leisten werden. Außerdem bezahlen sie dort um einiges besser als ich. Erfreuen Sie sich an dem regelmäßigen Einkommen und arbeiten Sie weiter an Ihrem Werk.«

»Danke, Monsieur Landowski, danke. Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben.« Laurent schüttelte seinem Lehrer überschwänglich die Hand.

»Sie haben es sich redlich verdient. Schließlich hätte ich ohne Sie den Cristo nie fertigstellen können …« Landowski hielt Laurents Hand noch einen Moment fest und zwinkerte dem Mann dann zu. »Ihr Werk wird die Ewigkeit überdauern.« Dann wandte er sich an mich. »Junger Bo! An deinem Leben wird sich nicht viel ändern. Ich beabsichtige nicht, das Haus zu verkaufen, und werde die Sommerferien und Weihnachtsfeiertage hier verbringen. Die meisten Hausangestellten werden sich natürlich etwas Neues suchen müssen, aber Evelyn bleibt. Einverstanden?« Ich nickte. »Gut! Ich denke, es ist Tradition, einen Neuanfang mit einer Flasche Champagner zu begießen.«

Schon sieben Tage später hatte die Familie Landowski alles gepackt und war bereit, nach Rom in ihr neues Leben aufzubrechen. Vermutlich hätte mir der bevorstehende Abschied mehr zu schaffen gemacht, wenn Elle nicht gewesen wäre. Mit ihr in meiner Nähe fühlte ich mich unbesiegbar.

Wie Monsieur Landowski versprochen hatte, änderte sich mein Leben kaum. Der einzige Unterschied bestand darin, dass ich mehr Zeit mit Evelyn verbrachte, die nun allein für den Haushalt zuständig war. Ich korrespondierte häufig mit Monsieur Landowski, der mir von den jungen artistes an der Französischen Akademie erzählte und mir das Neueste von seiner Familie berichtete.

Marcel übt Klavier wie ein Besessener. Wie Du weißt, möchte er im Lauf der nächsten beiden Jahre am Konservatorium angenommen werden … Ich rechne ihm gute Chancen aus. Gewiss hat er sich an Dir und Deinem Durchhaltevermögen ein Beispiel genommen, damit er seine Träume verwirklichen kann!

Wie ich zugeben muss, war es nicht unangenehm, das ganze Haus für mich zu haben, sodass ich unbeschränkten Zugang zur Bibliothek … und zur Küche hatte. Ich wagte sogar, kurze Gespräche mit Evelyn anzuknüpfen. Als ich endlich zu sprechen begonnen hatte, war sie in Tränen ausgebrochen. Und so lebte ich rückblickend betrachtet in einer Art Traumwelt, berauscht von Elles Gegenwart, der Musik und dem Gefühl, dass mir nun nichts mehr geschehen konnte.

Wie leichtgläubig ich doch war.

Der Anfang vom Ende kam im Herbst 1935.

Elle und ich saßen in einem Café in der Rue Jean de La Fontaine. Da Elle das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, war sie aus dem Waisenhaus Apprentis d’Auteuil ausgezogen und bewohnte eine dunkle schäbige Mansarde bei Madame Dupont, einer Freundin von Madame Gagnon. Außerdem putzte sie bei ihrer Vermieterin, um sich etwas dazuzuverdienen, und konnte sich deshalb die alle zwei Wochen zu entrichtende Studiengebühr im conservatoire weiterhin leisten. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und betrachtete Elle, die ihrerseits niedergeschlagen in ihren Kaffee starrte. Offenbar bedrückte sie etwas.

»Ist alles in Ordnung, mein Liebling?«, erkundigte ich mich.

»Ja, bestens … nur, dass Monsieur Toussaint mich in der letzten Unterrichtsstunde angeblafft hat.«

Ich lächelte sie freundlich an. »Wie du sicher weißt, ist das am conservatoire nicht weiter ungewöhnlich.«

Elle zuckte mit den Achseln. »Stimmt, aber offen gestanden habe ich den Verdacht, dass Toussaint mich einfach nicht leiden kann. Anscheinend hält er es für unter seiner Würde, eine halbwüchsige Anfängerin zu unterrichten. Und natürlich hat er recht. Doch seit er vor einigen Wochen angefangen hat, mit mir am Notenlesen zu arbeiten, zwiebelt er mich noch mehr als sonst.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Bestimmt stört ihn nur, dass du es nicht auf die richtige Methode gelernt hast. Ich hatte mit Monsieur Ivan ein ganz ähnliches Problem«, versuchte ich sie zu beruhigen.

»Sicher hast du recht. Allerdings hat er bei seinem letzten Tobsuchtsanfall etwas Seltsames gesagt.«

»Was denn?«

»Er sagte, dass er mich zwingen würde, die ganze Nacht aufzubleiben und zu büffeln, wenn ich nicht ›ein Abkömmling des großen Russen‹ wäre.« Ein Schauder überlief mich. »Als ich ihn fragte, wen er mit ›großer Russe‹ gemeint habe, lachte er nur und entgegnete, ich dächte doch nicht im Ernst, dass ich nur wegen meines Talents in seiner Klasse säße. Ich habe weiter gebohrt, aber da wurde er richtig wütend und erwiderte, er habe keine Zeit, Kinder zu unterrichten. Rachmaninow solle doch von seinem hohen Ross herunterkommen und sich der Sache selbst annehmen.«

»Ähm …«, stammelte ich.

Elle verzog das Gesicht. »Als ich antwortete, ich verstünde kein Wort, lachte er wieder. Dann verkündete er, er werde an den großen Russen schreiben, um ihm mitzuteilen, wie unbegabt seine Tochter sei. Im nächsten Moment erschien Monsieur Ivan und wollte Touissant draußen auf dem Flur sprechen. Die beiden gingen raus und unterhielten sich eine Weile. Und als er schließlich zurückkam, hat er mich nach Hause geschickt.« Elle sah mich fragend an. »Was könnte er mit seiner Anspielung auf Rachmaninow gemeint haben?«

Langsam trank ich einen Schluck von meinem englischen Frühstückstee. »Vielleicht kann ich ja ein bisschen Licht in die Angelegenheit bringen.«

Sie starrte mich verdattert an. »Was soll das heißen, Bo?« Ich seufzte auf und erzählte ihr von der Notlüge, die Monsieur Ivan sich ausgedacht hatte. Als ich fertig war, wirkte Elle verständlicherweise bestürzt. »Also … also hätte ich nur wegen meines Talents allein keinen Platz am Konservatorium bekommen?«

»Nein, so ist es nicht. Du hast vorspielen dürfen, weil Monsieur Ivan dich als Rachmaninows Tochter ausgegeben hat. Aber den Rest hast du dank deiner musikalischen Begabung geschafft, Ehrenwort.«

»Und sie halten mich wirklich alle für Rachmaninows uneheliche Tochter?«

»Nun, jedenfalls Toussaint und Moulin. Bitte mach dir keine Sorgen. In der nächsten Stunde spreche ich mit Monsieur Ivan und lasse mir die Angelegenheit von ihm schildern.«

Das Gespräch mit Monsieur Ivan sollte nicht mehr stattfinden. Als ich einige Nächte später im Haus der Landowskis schlief, wurde ich von einem Poltern geweckt. Erschrocken schlug ich die Augen auf, schleuderte die Bettdecke beiseite und stellte erfreut fest, dass meine Sinne noch immer geschärft waren, obwohl ich doch nun ein Leben in Sicherheit führte. Dank meiner Anfangsjahre im ewigen Eis schlief ich stets »mit einem offenen Auge«, wie mein Vater zu sagen pflegte.

Laut der Uhr auf meinem Schreibtisch war es kurz nach zwei. Inzwischen war ich hellwach und hörte aus den Tiefen des Hauses wieder ein Geräusch, und zwar das einer sich öffnenden Tür.

Ich war nicht allein. Als ich aus dem Fenster spähte, brannte in Evelyns Häuschen kein Licht. Die beruhigende Erklärung, dass sie mitten in der Nacht ins Haupthaus gekommen sein könnte, fiel also flach. So leise wie möglich schlich ich zur Tür und drehte vorsichtig den Türknauf um. Als ich die Ohren spitzte, nahm ich von unten das Knarzen von Dielenbrettern wahr. Unwillkürlich tastete ich nach dem Beutel um meinen Hals.

War er es? Hatte er mich etwa aufgespürt?

Vor diesem Moment hatte ich mich immer gefürchtet.

Trotz der Todesangst, die meinen Körper fest im Griff hielt, wusste ich, dass ich dem Eindringling einen Schritt voraus war. Ich kannte das Haus der Landowskis immerhin wie meine Westentasche, was nach dem Knarzen und Poltern zu urteilen nicht auf den ungebetenen Besucher zutraf. Kurz überlegte ich, ob ich mich verstecken sollte, kam aber zu dem Schluss, dass das zwecklos war. Schließlich war es mitten in der Nacht, weshalb der Einbrecher in aller Seelenruhe weitersuchen konnte, bis er mich gefunden hatte. Flucht wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Was, wenn ich einfach hinunter zur Tür und in die Nacht hinaus lief? Allerdings waren die wenigen Kilometer Vorsprung, die ich mir heute Nacht sichern konnte, gewiss nicht genug. Wie ich zu meinem Bedauern einsehen musste, war Angriff offenbar die beste Verteidigung.

Langsam pirschte ich mich zum Treppenabsatz und horchte auf Schritte von unten. Wie ich vermutete, durchkämmte der Eindringling systematisch das Haus und hatte es anscheinend auf etwas Bestimmtes abgesehen. Oder auf jemand Bestimmten: mich. Nach einer Weile steuerten die Schritte auf den Ostflügel des Hauses zu, wo sich der Salon und die Bibliothek befanden. Ich griff die Gelegenheit beim Schopf. Weiterhin leichtfüßig huschte ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo ich die entgegengesetzte Richtung einschlug. Ich eilte ins Atelier, wo Monsieur Landowskis Meißel lagen, griff mir den schärfsten davon und kehrte zurück in den Flur.

Wieder an der Treppe angekommen, hielt ich inne und lauschte. Es war still. Wo mochte der Eindringling stecken? Als ich noch einen zögernden Schritt vorwärts machte, wurde ich mit Wucht gepackt und hochgerissen, sodass meine Füße halb über dem Boden schwebten. Der Eindringling hielt mich von hinten fest und wollte mir die Arme auf den Rücken biegen. Mit Leibeskräften trat ich aus und zielte dabei auf sein Knie. Ein Aufschrei verriet mir, dass ich ihn erwischt hatte. Der Angreifer krümmte sich, sein Griff wurde ein wenig lockerer, und wir stürzten beide zu Boden. Beim Kampf fiel mir der Meißel aus der Hand, und ich tastete panisch danach, um ihn wieder an mich zu bringen. Diese wenigen Sekunden genügten dem Unbekannten, um aufzuspringen und den Flur entlang zum Wohnzimmer zu stürmen. Im nächsten Moment streifte meine Hand zum Glück den Meißel. Ich hob ihn auf und machte mich an die Verfolgung.

»Zeig dein Gesicht!«, schrie ich, leider machtlos dagegen, dass meine Stimme vor Wut bebte. Im Wohnzimmer war es still, und ich konnte im Mondlicht nur die Umrisse der Möbelstücke erkennen.

»Du warst nie ein Feigling, Kreeg. Wir wollen einander in die Augen schauen.« Im Zimmer herrschte ein unheimliches Schweigen. »Ich will nicht gegen dich kämpfen. Das wollte ich noch nie. Den Meißel habe ich nur bei mir, um mich notfalls gegen dich zu verteidigen. Es gibt da einiges, was du nicht weißt, und ich würde es dir gern erklären. Bitte komm raus, damit wir reden können.« Immer noch nichts. »Ich habe sie nicht umgebracht, Kreeg. Du musst mir glauben.« Mir kamen die Tränen. »Wie kannst du mir so eine Tat zutrauen? Wir waren Freunde. Wir waren Brüder.« Um Fassung ringend wischte ich mir die Augen. »Ich bin damals nur geflohen, weil ich wusste, dass du mich töten würdest. Ich war nur ein kleiner Junge, Kreeg, ebenso wie du. Jetzt sind wir junge Männer und sollten die Angelegenheit wie Erwachsene klären. Ich habe den Diamanten«, fügte ich hinzu, in der Hoffnung, ihn damit aus seinem Versteck zu locken. »Wie du wissen solltest, würde ich ihn nie verkaufen. Wenn du möchtest, gebe ich ihn dir. Er ist in einem Lederbeutel, den ich um den Hals trage. Zeig dich einfach, dann kann die Übergabe stattfinden. Danach kannst du gehen, und wir brauchen einander nie wiederzusehen, falls du das willst.«

Hinter einem Schrank in der Zimmerecke ertönte ein Knarzen. Ich hatte gewusst, dass er dem Edelstein nicht würde widerstehen können.

»Ein Diamant, sagst du? Das ist also in diesem Beutel.«

Diese Stimme kannte ich. Allerdings war es nicht die von Kreeg. Eine Gestalt trat hinter dem Schrank hervor, und aus der Dunkelheit leuchtete mir ein Gesicht entgegen.

»Monsieur Toussaint?«

»Für einen Jungen, der angeblich nicht sprechen kann, bist du erstaunlich redegewandt.«

»Was haben Sie hier zu suchen? Was wollen Sie?«

»Ich mag es nicht, wenn man mich hintergeht, mein Junge. Das Conservatoire de Paris ist die bedeutendste Hochschule für Musik weltweit und kein Kindergarten. Wie dir sicher bekannt ist, hat Ivan, diese kleine russische Ratte, uns weisgemacht, deine Freundin sei das uneheliche Kind von Rachmaninow. Als ich gedroht habe, an den Komponisten selbst zu schreiben, hat Ivan gebeichtet und zugegeben, dass er gelogen hat.« Er machte einen Schritt auf mich zu. »Ich habe mich bei ihm nach dir erkundigt. Er sagte, du seist ein Schützling von Paul Landowski, der meines Wissens nach einen Posten in Rom übernommen hat. Und so habe ich beschlossen, mich als Strafe für diese Schwindelei an seinen Vasen schadlos zu halten. Doch wie ich jetzt weiß, befindet sich ein noch kostbarerer Wertgegenstand hier im Haus.« Er trat noch einen Schritt vor.

»Das ist ein Missverständnis.«

»Genau genommen sehe ich in diesem Raum sogar zwei Wertgegenstände, mein Junge. Den Diamanten, der, wie mir nun bekannt ist, um deinen Hals hängt, und … dich.«

Ich stutzte. »Mich?«

»Allem Anschein nach würde sich dieser ›Kreeg‹, den du erwähnt hast, sehr freuen, wenn er von deinem Aufenthaltsort erführe. Zumindest wenn man von dem Stand der Dinge ausgeht, den du gerade so wortreich geschildert hast. Sicher würde er mich für mein Wissen angemessen entlohnen.«

»Er ist nur wenig älter als ich, Toussaint. Er hat kein Geld. Und wenn er erfährt, dass Sie mir den Diamanten weggenommen haben, bringt er Sie auch um.«

Toussaint schnaubte höhnisch. »Dafür gibt es verschiedene Lösungen, mein Junge. Wenn ich dein Leben jetzt einfach beenden und dem jungen Monsieur Kreeg den Diamanten zurückerstatten würde, fänden wir sicher einen Weg, den Erlös zu teilen …« Toussaints Stimme klang verwaschen. Offenbar war er betrunken.

»Monsieur, bitte. Sie sind Musiker, kein Mörder«, flehte ich.

»Junge, wenn ich den Diamanten habe, kann ich sein, wonach mir der Sinn steht. Und jetzt komm her.«

Toussaint wollte sich auf mich stürzen. Doch ich hatte es kommen sehen, rettete mich aufs Sofa und sprang ihm von dieser erhöhten Position aus in den Rücken. Aber der Musiklehrer entpuppte sich als überraschend kräftig und wirbelte herum, sodass wir beide polternd auf dem Boden landeten. Da er mit seinem ganzen Gewicht auf mich gefallen war, blieb mir einen Moment die Luft weg. Toussaint nutzte die Gelegenheit, drehte sich um und riss mir den Beutel vom Hals. Nachdem er ihn beiseitegeworfen hatte, schloss er die Hände um meine Kehle.

Ich weiß noch, dass ich mich eigenartig friedlich fühlte, als ich spürte, wie das Leben langsam aus meinem Körper wich. Im ersten Moment hatte ich keinerlei Angst – bis ich plötzlich Elle vor Augen hatte, worauf sich sofort heftige Gegenwehr in mir regte. Ich griff nach dem Meißel und rammte ihn Toussaint unter Aufbietung all meiner Kräfte in den Arm.

Als er aufstöhnte und sich seine Hände um meinen Hals lockerten, schnappte ich mir rasch den Beutel und steckte ihn ein.

Im nächsten Moment wurde es gleißend hell im Zimmer, und von der Türschwelle her ertönte ein lauter Schrei. Eine Hand am Lichtschalter, die andere vor den Mund geschlagen stand Evelyn in der Tür. Toussaint rappelte sich, noch immer seinen Arm umklammernd, auf und versuchte, sein Gesicht zu verbergen, indem er sich vorbeugte. Dann drängte er sich grob an Evelyn vorbei und stürmte zur Tür hinaus.

»Bo! Was ist passiert? O mein Gott, ist das da am Boden Blut?« Ich nickte. »Ist alles in Ordnung?« Wieder nickte ich keuchend. Evelyn kniete sich neben mich und suchte mich voller Angst nach Verletzungen ab. »Sprich mit mir. Wer war dieser Mann? Was wollte er hier?« Ich starrte sie benommen an. »Bo, bitte. Du musst mir alles erzählen.«

Ich erläuterte die Ereignisse in möglichst eindringlichen Worten.

»M on Dieu, Bo. Hast du den Diamanten?« Ich klopfte auf meine Tasche. »Gut. Aber hier bist du nicht mehr sicher. Er könnte wiederkommen, und vielleicht bringt er gar Verstärkung mit. Es ist Zeit zu gehen.«

»Gehen? Wohin denn?«

»Zu Monsieur Brouilly. Er hat eine Wohnung in Montparnasse. Er wird dich aufnehmen, und du bleibst dort, bis mir eine Lösung einfällt.«

»Ich habe Angst, dass Toussaint sich an Elle halten könnte. Als ihr Lehrer weiß er bestimmt, wo sie wohnt.«

Evelyn schloss die Augen und nickte. »Da gebe ich dir recht. Also musst du zuerst zu ihr.«

»Aber was ist mit Ihnen, Evelyn? Was, wenn Toussaint wieder hier aufkreuzt?«

»Soll er nur. Außerdem interessiert er sich vermutlich nicht für mich. Morgen gebe ich Louis Bescheid, damit er mir Gesellschaft leistet. Und jetzt beeil dich. Wenn du rennst, schaffst du es in weniger als einer Stunde zu Elle in der Rue Riquet. Also geh rauf und pack ein paar Sachen, nur das Nötigste. Ich schreibe dir Brouillys Adresse auf.« Ich hastete nach oben und stopfte ein paar Hemden und etwas Wäsche in eine Ledertasche.

Dann nahm ich den Zettel mit der Adresse von Evelyn entgegen, und nach einer langen Umarmung rannte ich in die Nacht hinaus.

Durchgeschwitzt und keuchend traf ich bei Elle in der Rue Riquet ein. Ihr Fenster war unter dem Dach, und ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich mir nicht überlegt hatte, wie ich mich bemerkbar machen sollte. Also hob ich ein paar Steinchen vom Boden auf und warf sie gegen die Fensterscheibe. Das war zwar riskant, aber was blieb mir anderes übrig? Schon nach wenigen Minuten hatte ich Erfolg, denn Elles verschlafenes Gesicht erschien am Fenster.

»Bo?«, flüsterte sie. Als ich sie mit Gesten aufforderte, nach unten zu kommen, nickte sie.

Kurz darauf öffnete sich leise die Haustür, und Elle stand im weißen Nachthemd vor mir. Sie umarmte mich. »Was ist passiert, Bo?«

»Ich erkläre dir alles, wenn wir in Sicherheit sind. Aber jetzt musst du mitkommen.«

Entsetzen malte sich auf ihrem Gesicht. »Ist er es?«, fragte sie mit angsterfülltem Blick.

»Nicht ganz. Aber du musst jetzt ein paar Sachen packen und mitkommen. Wir gehen zu Monsieur Brouilly.«

Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Wenig später kehrte Elle zurück, und dann huschten wir lautlos durch die Straßen von Montparnasse. Zum Glück war Laurents Adresse ziemlich leicht zu finden, da sein Fenster von rosafarbenen Orchideen geziert wurde, wie mir bekannt war, die Wappenblume von Brasilien. Ein mehrmaliges Läuten rief einen schlaftrunkenen Laurent herbei, der uns hereinbat, nachdem er mich erkannt hatte. Er war so nett, uns einen starken Kaffee zu kochen, und dann berichtete ich ihm und Elle, was sich heute Nacht zugetragen hatte.

»Mein Gott! Mein Gott!«, murmelte Laurent immer wieder. »Du bist mir ein Rätsel, Bo. Der stumme Junge redet plötzlich wie ein Wasserfall. Mein Gott!«

Elle hielt meine Hand. Ihre Anwesenheit vermittelte mir mehr Geborgenheit, als ich in Worte fassen konnte. »Danke, dass du mich abgeholt hast«, sagte sie.

»Wenn ich nur still gewesen wäre. Aber ich dachte, es wäre Kreeg. Ich wollte mit jemandem verhandeln, der sich nicht einmal im Raum befand.«

»Aber du musstest davon ausgehen, dass er es ist. Ich hätte mich genauso verhalten.«

Ich hielt inne und sah mich in Laurents enger Wohnung um. Der trübe Schein einer Lampe fiel auf seine Sammlung aus angefangenen Projekten und unausgegorenen Ideen, und überall drängten sich Skulpturen, Gemälde und Gerätschaften.

Das Durcheinander schlug mir aufs Gemüt, und ich stützte den Kopf in die Hände. »Wenn ich nur nicht aufgewacht wäre! Dann hätte Toussaint seine Vasen mitgenommen und sich wieder aus dem Staub gemacht. Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht bemerkt.«

»Ich wünschte, Bel könnte dich sprechen hören«, meinte Laurent wehmütig.

Ich starrte ihn an. Selbst nach meiner Schilderung der dramatischen Ereignisse war er in Gedanken ganz weit weg. »Haben Sie noch einmal von ihr gehört, Laurent?«, fragte ich.

Auf dem Gesicht meines früheren Ateliergenossen zeigte sich abgrundtiefe Trauer. »Nein.«

Schließlich holte er ein paar Decken. Ich bestand darauf, dass Elle auf dem Sofa schlief, und breitete für mich ein Kissen auf dem Boden aus. Als Elle die Hand über die Sofakante baumeln ließ, hielt ich sie, bis die Erschöpfung ihren Tribut forderte und ich endlich einschlief.

Als es früh am nächsten Morgen läutete, machte Laurent auf. Evelyn kam herein.

»Ach, Kinder, ist das schön, euch zu sehen.« Ich lief ihr entgegen und fiel ihr um den Hals. »Hallo, Elle, wie gut, dass du wohlauf bist. Ich habe die Gendarmerie verständigt.«

»Die Gendarmerie?«, wiederholte ich entsetzt.

»Ja, Bo. Vergiss nicht, dass gestern Nacht bei meinem Arbeitgeber eingebrochen wurde. Ganz zu schweigen von der Kleinigkeit, dass Elles Musiklehrer im betrunkenen Zustand versucht hat, dich umzubringen. Toussaint gehört in Polizeigewahrsam und vor Gericht. Schließlich geht es nicht an, dass die unschuldigen jungen Leute am Conservatoire de Paris von einem tobenden Irren unterrichtet werden.«

»Aber, Evelyn, die Gendarmerie wird mit mir sprechen wollen. Sie werden mich wegen des Diamanten ausfragen. Verstehen Sie denn nicht, dass ich auf keinen Fall …«

»Ich verstehe dich sehr wohl, Bo.« Evelyn nahm meine Hand. »Ich verstehe dich, seit ein kleiner Junge damals an meine Tür geklopft hat. Du hast mehr Schreckliches durchgemacht, als ein Mensch je erleben sollte. Und zwar durch die Schuld von Mächten, deren Wirken eine einfache Frau wie ich nicht erfassen kann. Also ja, die Gendarmerie wird sicher ganz dringend mit dir sprechen wollen. Aber leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wo du stecken könntest«, meinte sie augenzwinkernd.

Elle ergriff als Nächste das Wort. »Wenn die Polizei Toussaint festnimmt, wird er alles verdrehen und ihnen erzählen, was Bo in seiner Angst gesagt hat.« Sie sah mich besorgt an. »Sicher weißt du noch, dass du letzte Nacht vom … Mord an einer Frau geredet hast.«

Verzweifelt ballte ich die Fäuste. »Nein! Ich sagte, ich hätte niemals eine Frau töten können.«

Beschwichtigend legte Elle mir die Hand auf den Rücken. »Ich bezweifle stark, dass Toussaint das so wiedergeben wird. Außerdem hast du ihm einen Meißel in den Arm gerammt, Bo.«

Ich bemerkte, dass Laurent entgeistert die Augen aufriss.

»Das war Notwehr«, beteuerte ich.

»Ich weiß. Nur, dass du keine gültigen Papiere hast, ein Vorteil für Toussaint.«

Tränen brannten mir in den Augen. »Also muss ich wieder fliehen. Wie ihr alle wisst, habe ich ziemlich viel Übung darin. Schließlich muss ich weiter nach meinem Vater suchen. Wenn er irgendwo ist, dann sicher in der Schweiz. Ich muss zur Grenze. Elle, ich …«

»Ich werde dich begleiten«, fiel sie mir ins Wort.

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein, du ahnst nicht, worauf du dich da einlässt. Dabei müsstest du doch inzwischen wissen, was Menschen passiert, die sich in meiner Nähe aufhalten. Ich kann nicht erlauben, dass du mitkommst.«

Elle nahm meine Hand. »Bo, bevor ich dich kennengelernt habe, war mein Leben traurig und leer. Durch dich hat sich alles verändert. Wenn du gehst, gehe ich auch.« Sie umarmte mich. Evelyn schlug die Hand vor die Brust, und ich sah, dass Laurent mit den Tränen kämpfte.

»Bitte nicht«, flehte ich. »Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.«

»Herrje, Bo, hör doch auf sie!«, herrschte Laurent mich da an und rang verzweifelt die Hände. »Ist dir nicht klar, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Liebe? Lass dir das von jemandem sagen, der Bescheid weiß. Diese junge Frau betet dich an, und du empfindest offenbar genauso für sie. Begeh nicht den gleichen Fehler wie ich, Bo. Das Leben ist kurz. Lebe für die Liebe, für sonst nichts.«

Als ich Elle in die Augen schaute, wurde mir klar, dass es da nichts mehr abzuwägen gab. »Also gut. Heute Abend nach Einbruch der Dunkelheit fahren wir zur Grenze.«

»Ach, hör doch auf mit deinen Grenzen!«, schimpfte Evelyn. »Mein Gott, Bo, glaubst du wirklich, deine Evelyn würde dich einfach ins Ungewisse ziehen lasen?«

Ich sah sie verständnislos an. »Wovon reden Sie?«

Sie seufzte auf. »Seit dem Tag deiner Ankunft in Paris wusste Monsieur Landowski, dass du vor irgendetwas auf der Flucht bist und aus Angst beschlossen hast zu schweigen. Daraus hat er klugerweise vorausgesehen, dass du irgendwann in die Lage geraten könntest, Paris verlassen zu müssen. Weil er dir helfen will, hat er für diesen Fall vorgesorgt.« Evelyn überreichte mir einen cremefarbenen Umschlag. »Es ist mir eine Freude, dir mitteilen zu können, Bo, dass du Stipendiat des angesehenen Prix Blumenthal bist.«

Mir fiel die Kinnlade herunter.

»Was ist das für ein Preis, Evelyn?«, erkundigte sich Elle.

»Weißt du es noch, Bo?« Als sie mich ansah, griff ich mein Stichwort auf.

»Der Preis wurde von der amerikanischen Philanthropin Florence Blumenthal für einen jungen bildenden Künstler oder Musiker ausgelobt. Monsieur Landowski sitzt in der französischen Jury. Aber ich verstehe trotzdem nicht, Evelyn … Warum habe ich diesen Preis gewonnen?«

»Monsieur Landowski hat in den Dreißigerjahren, kurz vor ihrem Tod, eine Abmachung mit Florence getroffen. Offenbar ist deine Geschichte Mrs Florence sehr ans Herz gegangen, und man kam überein, dir den Preis zu verleihen, falls dir hier in Paris Gefahr drohen sollte. Auf diese Weise verfügst du über die notwendigen Mittel, um dich in Sicherheit zu bringen.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Wie wundervoll, Bo«, sagte Elle erfreut.

»Moment noch«, meinte Evelyn lächelnd. »Tut mir leid, aber ich habe vergessen zu erwähnen, dass der Preis geteilt wird.«

»Verzeihung?«, hakte Elle nach.

»Du bist ebenfalls Empfängerin des Prix Blumenthal . Monsieur Landowski wollte sichergehen, dass ihr im Ernstfall beide versorgt seid.«

»Ach, du meine Güte«, rief Elle fassungslos. Ich nahm ihre Hand, und trotz unserer misslichen Lage breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus.

»Wie es euch sicher freut zu hören, ist der Preis an die Bedingung geknüpft, dass ihr euer Musikstudium fortsetzt. Schließlich habt ihr ihn bekommen, weil ihr ein Instrument spielt.«

»Und wie soll das funktionieren, Evelyn?«, fragte ich.

»Es werden Vorkehrungen getroffen, dass ihr vom Conservatoire de Paris an ein anderes europäisches Konservatorium wechseln könnt. Zum Glück verfügt Monsieur Landowski über umfangreiche Kontakte. Ich erwarte jeden Moment Anweisungen für eure Weiterreise.«

»Der Mann mit dem albernen Schnurrbart ist wirklich ein Genie«, stieß Laurent hervor.

»Das ist er, Monsieur Brouilly. Ich habe ihm heute Morgen telegrafiert. Er überlegt sich eine Strategie und wird mir anschließend mitteilen, was er entschieden hat.«

»Evelyn, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«, flüsterte ich.

Sie lachte leise in sich hinein. »War das nicht schon immer dein Problem, Bo?« Wieder umarmte ich sie.

»Danke, Evelyn. Danke für alles.«

»Behalt sie immer in deiner Nähe, Bo«, flüsterte sie mir da ins Ohr. »Sie ist ein Geschenk der Sterne.« Als ich mich losmachte, schimmerten Tränen in ihren braunen Augen. »So!« Evelyn klatschte in die Hände und gab sich einen Ruck. »Jetzt muss ich nach Hause und auf das Telegramm von Monsieur Landowski warten. Wenn ich zurückkomme, bringe ich eure Instrumente mit. Elle, möchtest du vielleicht einen kurzen Brief an Madame Dupont schreiben, in dem steht, dass ich deine Tante bin und die Erlaubnis habe, ein paar von deinen Sachen mitzunehmen?«

»Gute Idee.« Elle schnappte sich ein Blatt Papier von Laurents Schreibtisch und fing an zu schreiben.

»Apropos: Falls ihr vor eurer Abreise aus Paris noch etwas erledigen wollt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt. Bis später, mes chéris.« Mit diesen Worten drehte sich Evelyn um und ging hinaus.

Wir drei blieben eine Weile reglos stehen, um uns zu sammeln. »Wir müssen Briefe schreiben«, sagte ich schließlich zu Elle. »Es gibt kaum etwas Kränkenderes, als wenn jemand einfach sang- und klanglos aus deinem Leben verschwindet. Ich schreibe an Monsieur Ivan.«

Elle nickte. »Und ich wohl besser an Madame Gagnon.«

Ich wollte mich in meinem Brief an Monsieur Ivan kurzfassen. Doch er sollte merken, dass jedes Wort von Herzen kam.

Lieber Monsieur Ivan,

ich hoffe, dass Evelyn sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat und dass dieses Schreiben Sie bei guter Gesundheit antrifft. Leider wird es mir am nächsten Dienstag nicht möglich sein, den Unterricht zu besuchen. In diesem Brief möchte ich Ihnen für alles danken. Sie waren nicht nur der beste Lehrer, den ein junger Musiker sich wünschen kann, sondern noch etwas viel Wichtigeres für mich: nämlich ein wahrer Freund.

Hoffentlich sehen wir uns eines Tages wieder. Falls nicht, werde ich sämtlichen zukünftigen Aufnahmen des Pariser Symphonieorchesters aufmerksam lauschen, um festzustellen, ob ich den unverkennbaren Ansatz Ihres Bogens heraushören kann. Sie könnten es ja genauso halten, damit wir einander auf diese Weise für immer in unseren Herzen bewahren.

Sie sollen wissen, dass ich Sie in keiner Weise für die unglückseligen Ereignisse verantwortlich mache. Ohne Ihren Einfallsreichtum und die … Hilfe von Monsieur Rachmaninow wäre es sicher nicht möglich gewesen, Elle einen Studienplatz zu gewähren. Ich werde Ihnen ewig dankbar sein, weil Sie uns beiden eine Chance gegeben haben.

Zu guter Letzt möchte ich Sie bitten, sich vor einem gewissen Flötenlehrer in Acht zu nehmen. Man kann ihm nicht trauen. Das wollte ich Ihnen noch mitteilen, denn, tja, wir émigrés müssen doch zusammenhalten, nicht wahr?

Bo d’Aplièse

Später am Abend kehrte Evelyn im Taxi mit unseren Instrumenten zurück. Als ich ihr entgegengehen wollte, um ihr beim Ausladen zu helfen, streckte sie abwehrend die Hand aus.

»Bleib im Haus, Bo. Man weiß nie, ob man beobachtet wird.« Rasch entluden sie und Laurent das Auto, und Evelyn bezahlte den Fahrer. »Ich bleibe nicht lang. Hier sind die Anweisungen von Monsieur Landowski. Einer seiner Bildhauerkollegen an der Französischen Akademie stammt ebenfalls aus Paris. Sein Name ist Pavel Rosenblum. Ein glücklicher Zufall will es, dass seine Tochter Karine im nächsten Semester das Studium am Konservatorium in Leipzig beginnt. Er hat einige Telefonate geführt. Ihr beide werdet als reguläre Studenten aufgenommen.«

»Leipzig? Das ist ja in Deutschland«, meinte Elle nervös. Ich legte den Arm um sie.

»Ja, richtig. Da ihr für Studenten noch etwas jung seid, werden wir euch wohl ein wenig älter machen müssen. Aber das wird sicher kein Problem, weil man euch euer wahres Alter nicht ansieht.«

»Wann geht es los, Evelyn? Und wie kommen wir nach Deutschland?«, erkundigte ich mich.

»Sicher erinnerst du dich, dass mein Sohn Louis bei Renault arbeitet.« Ich nickte. »Und der Zufall will es, dass er morgen Vormittag einen neuen Wagen an einen Kunden in Luxemburg ausliefern muss. Er wird euch über die Grenze fahren. Und von dort aus könnt ihr gefahrlos mit dem Zug nach Leipzig weiterreisen. Was die fehlenden Ausweispapiere angeht, wirst du, Bo, dir die von Marcel leihen. Elle, du nimmst die von seiner Schwester Nadine. Ich glaube nicht, dass sie zwei Jugendliche sehr gründlich kontrollieren werden. Nach eurer Ankunft in Deutschland schickt ihr die Ausweise mit der Post zurück.«

Diese Menschen waren so unfassbar hilfsbereit. Vor Rührung schnürte es mir die Kehle zu. »Und wo werden wir wohnen, Evelyn?«

»Man hat mir mitgeteilt, dass Monsieur Rosenblum euch eine Unterkunft in der Johannisgasse besorgt hat. Karine wohnt ebenfalls dort. Einzelheiten kenne ich nicht, denn schließlich wurde alles innerhalb eines Tages organisiert. Aber die Zimmer sollen in Ordnung sein.«

In Gedanken ging ich die Liste der praktischen Fragen durch. »Was ist mit Geld?«

»Meine Lieben, ihr seid Empfänger des Prix Blumenthal. Ich versichere euch, dass er hoch genug dotiert ist, um euch drei Jahre Studium zu finanzieren. Die Studiengebühren sind bezahlt, Bankkonten wurden eingerichtet. Sämtliche Kosten sind abgedeckt. Vorläufig ist hier ein wenig Geld für Zugfahrkarten und Essen.« Sie reichte mir einen braunen Umschlag. »Hier drin findet ihr auch die Adresse eurer Unterkunft.«

Ich blickte ihr in die sanften Augen. »Evelyn, wie soll ich je …« Mir versagte die Stimme. Vielleicht würde ich sie ja nie wiedersehen, ein Gedanke, der mir das Herz brach. Sie umarmte mich fest und wortlos, und ich vergrub das Gesicht am Revers ihres Mantels.

»Danke, dass du mein petit compagnon gewesen bist, Bo. Und vergiss nie, dass es auf der Welt mehr gute als schlechte Menschen gibt, auch wenn es oft schwer zu glauben ist. Ich habe dich sehr lieb.« Sie machte sich los und griff in ihre Manteltasche. »Hier ist ein Telegramm für dich. Von Monsieur Landowski.« Zutiefst gerührt steckte ich es ein. Evelyn atmete tief durch und rang um Fassung. »Elle, es tut mir so leid, dass dein Abschied von Paris so dramatisch verläuft.« Evelyn schloss sie in die Arme. »Pass auf ihn auf, ja?«

»Für immer«, erwiderte Elle.

»Also gut. Louis ist morgen früh um Punkt sechs Uhr hier. Habt ihr Briefe, die ihr mir mitgeben wollt?«

»Ja.« Ich reichte ihr meinen Brief an Monsieur Ivan. Elle tat das Gleiche mit ihrem Schreiben an Madame Gagnon.

»Macht euch keine Sorgen, ich überbringe sie persönlich. Ich hoffe, dass wir uns wiedersehen, wenn Gras über die Sache gewachsen ist. Ich versuche, euch nach Leipzig zu schreiben, abhängig davon, wie gründlich die Gendarmerie in der Sache von letzter Nacht ermitteln wird. Ich wünsche euch alles Gute. Glückliche Reise.« Diesmal stockte Evelyn die Stimme, und sie verließ hastig die Wohnung.

»Ich glaube, ich habe bis jetzt höchstens ein paar Worte mit Madame Evelyn gewechselt«, meinte Laurent. »Du hast Glück, dass sie ein wichtiger Mensch in deinem Leben ist«, fügte er, an mich gewandt, hinzu.

»Ich weiß«, antwortete ich.

Nach einer schlaflosen Nacht hörten wir um Punkt sechs von draußen das Grummeln eines Motors. Obwohl Laurent noch nicht ganz wach war, half er uns, unsere Instrumente in das blitzblanke Auto zu verladen.

»Guten Morgen, Bo! Wie schön, auf der langen Fahrt so nette Gesellschaft zu haben.« Das Grinsen meines alten Bekannten Louis hatte eine sehr beruhigende Wirkung.

Bevor wir einstiegen, berührte Laurent mich an der Schulter. »Bel wusste, dass du es wert warst, gerettet zu werden. Bitte behalte sie in Erinnerung. Und ich werde dich nicht vergessen.«

Ich schüttelte ihm die Hand und stieg ins Auto. Bald fuhren wir hinaus aus der Stadt Paris und hinein in die Zukunft. Als ich eine bequemere Sitzposition suchte, um ein wenig zu schlafen, spürte ich ein Kratzen am Oberschenkel, und mir fiel ein, dass ich ja noch das Telegramm von Monsieur Landowski in der Tasche hatte. Am Vorabend hatte ich ganz vergessen, es zu öffnen.

» W er nicht die Richtung ändert, landet am Ende dort, wohin der Weg führt« – Laotse.

Bonne chance, mein Junge.