XXII

Er war es.

Kreeg Eszu.

Diese durchdringenden grünen Augen würde ich überall wiedererkennen.

Wie hat er mich gefunden? Ist es ihm gelungen, meine Spur bis nach Paris zu verfolgen? Hat jemand dort geredet? Toussaint vielleicht? Meine Gedanken überschlagen sich, und ich greife zum Tagebuch, um sie wieder zu ordnen.

Wie geplant trafen wir uns mit Pip und Karine im Café, wo sich das Gespräch rasch der politischen Lage in Leipzig zuwandte.

»Elle und Bo machen sich auch Sorgen«, versuchte Karine Pip zu erklären. »Elle ist ebenfalls Jüdin, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Die Glückliche«, murmelte sie.

»Unserer Ansicht nach werden die Ereignisse in Bayern bald nach hier überschwappen«, fügte Elle leise hinzu.

»Wir müssen abwarten«, entgegnete Pip aufgebracht. »Und schauen, was unser Bürgermeister in München ausrichten kann. Doch selbst wenn es zum Schlimmsten kommt, werden sie bestimmt niemals uns und unsere Kommilitonen behelligen.« Als Karine seufzend den Kopf schüttelte, wandte Pip sich an mich. »Wie geht es dir, Bo?«, fragte er.

»So einigermaßen«, antwortete ich.

»Was machst du an Weihnachten?«

»Ich …«

Noch ehe ich den Satz beenden konnte, betraten zwei SS-Männer das Café. In ihren unverkennbaren schwarzen Uniformen und mit Pistolen in den Lederhalftern um die Taille kamen sie hereingeschlendert. Als ich das Gesicht des Jüngeren der beiden sah, spürte ich buchstäblich, wie ich erbleichte.

Kreeg war zwar inzwischen zehn Jahre älter geworden, doch sein markanter Kiefer hatte sich nicht verändert, und über seinen hohen Wangenknochen funkelten stechend grüne Augen aus einem sonnengebräunten Gesicht. Ich senkte den Blick und wandte mich ab. Kreeg Eszu und sein Kamerad nahmen an einem nur wenige Meter entfernten Tisch Platz. Der Mann, der geschworen hatte, mich zu töten, war so nah, dass ich ihn hätte berühren können.

»Wir haben noch nichts geplant«, stammelte ich, weil Pip weiterhin auf eine Antwort wartete. Dann beugte ich mich unauffällig zu Elle hinüber. »Er ist da. Kreeg«, raunte ich.

Sie sah mich entsetzt an.

»Rühr dich nicht. Wir warten ein paar Minuten, und dann verlassen wir ganz ruhig das Café.«

Sie umklammerte fest meine Hand.

Allein Kreegs Anblick war schon erschreckend genug. Ihn zudem in der schwarzen SS-Uniform zu sehen, löste Übelkeit in mir aus. Als Kinder hatten wir zusammen Iglus gebaut. Wir waren auf mit Frost überzogene Bäume geklettert und hatten einander Geschichten erzählt, damit die langen dunklen sibirischen Abende schneller vergingen. Und nun war er ein Nazischerge. Ich senkte den Blick. Obwohl ich am liebsten aufgesprungen und losgerannt wäre, wusste ich, dass es zwecklos war. Ich hätte keine Minute überlebt.

»Es war wirklich nett, euch zu sehen, aber Bo und ich müssen jetzt los. Unsere Hausarbeiten sind noch nicht fertig, richtig, Bo?«, verkündete Elle. Ich nickte. »Bis später, Karine. Tschüss, Pip.«

»Oh. Dann also tschüss«, erwiderte er, während Karine ein mitleidiges Gesicht machte. Offenbar dachte sie, die Anwesenheit der SS-Männer hätte uns nervös gemacht.

Immer noch meine Hand umklammernd stand Elle in aller Ruhe auf und steuerte zielstrebig auf die Tür zu. Obwohl ich keinen Blickkontakt mit Kreeg mehr hatte, spürte ich seine Augen auf mir. Bei jedem Schritt rechnete ich mit einer Kugel in den Rücken. Aber es fiel kein Schuss. An der Tür angekommen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich noch einmal nach ihm umzudrehen. Zu meinem Erstaunen hatte er sich abgewandt und nippte an dem gerade servierten Kaffee.

So schnell, wie es möglich war, ohne durch übertriebene Eile Verdacht zu erregen, kehrten wir in meine Unterkunft zurück.

»Bist du sicher, dass er es war, Bo?«, keuchte Elle.

»Nahezu sicher. Es ist so lange her … aber seine Augen sind noch dieselben. O mein Gott! O mein Gott!« Meine Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde.

»Bitte bewahr die Ruhe, mein Liebling. Glaubst du, er ist dir hierhergefolgt?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich. Eine andere Erklärung kann es nicht geben. Allerdings hat er uns im Café den Rücken zugekehrt, als wir gingen. Er hat uns also nicht beobachtet.«

Elle nickte erleichtert. »Gut. Vielleicht hat er dich ja nicht erkannt. Aber eins verstehe ich nicht, Bo. Ihr seid doch beide Russen. Wie kann er da Mitglied der SS sein?«

»Sein Vater war Deutscher, schon vergessen? Ich habe dir doch alles über Kronos Eszu erzählt.«

»Ja, hast du«, erwiderte sie, als es ihr wieder einfiel.

Inzwischen hatten wir die schäbige Häuserzeile aus gelbem Kalkstein erreicht, wo sich meine Pension befand, und eilten die Treppe in den dritten Stock hinauf. Ich schloss die Zimmertür ab und vergewisserte mich, dass die dünnen Vorhänge richtig zugezogen waren. Zum Glück nimmt es Frau Schneider, die Zimmerwirtin, mit den Vorschriften nicht so genau, und es kümmert sie kaum, wenn ein weibliches Wesen das Haus betritt. »Solange mir keine Klagen kommen und sie um neun verschwunden sind«, pflegt sie zu sagen.

Ich setzte mich auf das knarzende Bett und schlug die Hände vors Gesicht. »Wenn wir nach Gründen suchen, warum wir Leipzig verlassen sollten, hat man uns gerade einen sehr triftigen geliefert. Wir müssen alles vorbereiten, um so schnell wie möglich zu fliehen.« Mein Atem ging keuchend und stoßweise, und mir war gleichzeitig heiß und kalt. »Ich … mir ist auf einmal so komisch …« Die Welt um mich herum verschwamm, und mein Gesichtsfeld wurde enger.

Elle nahm neben mir auf dem Bett Platz. »Alles ist gut, mein Liebling. Alles ist gut.« Tröstend legte sie den Arm um mich. »Beruhige dich. Dir kann nichts passieren. Ich bin hier bei dir. Du stehst unter Schock, doch das geht vorbei.«

»Wir müssen fort, Elle. Er wird mir etwas antun. Uns etwas antun …«

»Du hast recht. Aber hörst du mir jetzt bitte für einen Moment zu?« Ich nahm mich zusammen und nickte. »Danke. Also: Nach dem, was du mir erzählt hast, hat Kreeg Eszu im Leben eine Mission, nämlich dein Leben zu beenden. Richtig?«

»Du kennst die Antwort auf diese Frage.«

»Gut. Und wenn er dich im Café erkannt hätte, hätte er sich doch sicher die Gelegenheit nicht entgehen lassen, etwas zu unternehmen. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Stimmst du mir zu?«

»Vermutlich ja«, pflichtete ich ihr nach einem Moment bei.

»Deshalb ist zu vermuten, dass er gar nicht wusste, wer du bist. Und deshalb können wir davon ausgehen, dass dir keine unmittelbare Gefahr droht. Kannst du mir folgen?«, fragte sie. Ich schwieg. »Genauso, wie uns wegen der politischen Situation in Leipzig keine unmittelbare Gefahr droht. Bis jetzt tritt uns niemand die Tür ein, um uns abzuholen und wegzusperren. Noch nicht. Was jedoch nicht bedeutet, dass die Dinge sich nicht sehr rasch ändern können. Aber jetzt, in diesem Augenblick, sind wir in Sicherheit, und wir sind zusammen. Also bleib bitte ruhig, und wenn es nur mir zuliebe ist.«

Ich atmete tief durch und blickte Elle in die Augen. »Verzeih mir.«

»Bitte, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du sollst nur wissen, dass du nicht in Gefahr bist und dass ich bei dir bin.« Als sie mir sanft durchs Haar strich, hatte das wie immer eine entspannende Wirkung.

Nach einer Weile stand ich vom Bett auf. »Und jetzt ist es Zeit, die Ärmel hochzukrempeln. Ich denke mir einen Fluchtplan aus.« Ich wuchtete meinen Koffer vom Schrank in der Ecke. »Morgen gehst du zur Bank und hebst so viel Geld ab wie möglich. Und dann verlassen wir einfach mit dem letzten Zug die Stadt.«

»Und wohin sollen wir fliehen, Bo? Etwa nach Frankreich? Wo die Gendarmerie auf dich wartet und wahrscheinlich immer noch verhaften will? Wir dürfen keinen Kontakt zu Evelyn oder den Landowskis aufnehmen. Denn es würde sich rasch in Boulogne-Billancourt herumsprechen, dass du nach deinem mysteriösen Verschwinden zurückgekommen bist. Und dann nimmt die Polizei dich fest.«

»Du hast recht. Frankreich ist zu riskant. Also fahren wir in die Schweiz. Es ist sowieso an der Zeit, denn ich muss herausfinden, was aus meinem Vater geworden ist.«

Elle seufzte. »Wie viele Jahre redest du jetzt schon davon, dass du in die Schweiz willst, Bo? Glaubst du allen Ernstes, dass er noch lebt?«

So weit hatte ich gar nicht gedacht. »Nein, natürlich nicht. Aber was schlägst du sonst vor? Sollen wir hier in Deutschland bleiben? Soll ich mich eben damit abfinden, dass Kreeg mich irgendwann ermorden wird? Oder dass Hitler dasselbe mit dir macht?« Als ich zornig gegen meinen Koffer trat, bekam ich schon im nächsten Moment ein schlechtes Gewissen. Elle wollte mir doch nur helfen. Aber meine panische Angst hatte mich fest im Griff.

»Hör mir zu«, flehte sie mich an. »Gegen Hitler sind wir machtlos. Doch in Sachen Kreeg könnten wir vielleicht etwas unternehmen.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Und was bitte wäre das, Elle?«

»Ich habe in den letzten Jahren oft darüber nachgedacht. Warum gibst du ihm den Diamanten nicht einfach zurück?«, meinte sie.

Ich konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. »Oh, Elle. Das habe ich schon in Sibirien versucht. Nur, dass er mir gar nicht zugehört, sondern mich stattdessen angegriffen hat.«

Elle nickte. »Ich weiß. Aber seitdem hat sich eine Menge verändert. Ihr wart Kinder. Und außerdem kann man Kreegs Fehleinschätzung, wenn es sich so abgespielt hat, wie du es schilderst, nachvollziehen.« Sie hielt inne und überlegte sich offensichtlich ihre nächsten Worte sehr sorgfältig. »Immerhin hast du über die Leiche seiner Mutter gebeugt dagestanden.«

Die Erinnerung ließ mich erschaudern. So viele Jahre hatte ich versucht, das Bild aus meinem Gedächtnis zu löschen. »Musste das jetzt sein?«

»Ja, mein Liebling, damit du dir immer vor Augen hältst, dass du kein Mörder bist. Ich mache mir Sorgen, dass du das manchmal vergisst. Du bist unschuldig und hast von deinem Schöpfer nichts zu befürchten.«

»Von meinem Schöpfer vielleicht nicht. Mit meinem Bruder … Kreeg … ist es leider eine andere Geschichte.«

»Kreeg glaubt, dass du seine Mutter getötet hast, um den Diamanten an dich zu bringen. Wir beide wissen, dass das schlicht und ergreifend nicht stimmt. Er muss die Wahrheit endlich anerkennen.«

»Und wie soll ich ihn davon überzeugen, Elle? Soll ich einfach auf der Straße auf ihn zuspazieren, ihm auf die Schulter tippen und ihm dann um den Hals fallen? Soll ich ihm mit den Worten ›Schwamm drüber, Bruderherz‹ den Diamanten in die Hand drücken?«

»Ich verstehe deine Gefühle, Bo. Aber das ist noch lange kein Grund, mich so anzugehen.« Sie verzog gekränkt das Gesicht.

»Entschuldige. Allerdings scheinst du zu vergessen, warum es uns überhaupt hierher verschlagen hat. Kreeg hat geschworen, mich zu jagen und seine Mutter zu rächen, und wenn es ihn selbst das Leben kostet. Ich kenne ihn, Elle. Vielleicht besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Er wird sich nicht davon abbringen lassen.«

»Ich weiß. Aber wir müssen uns einige Dinge vergegenwärtigen: Erstens kennt er dein Pseudonym nicht. Hier bist du Bo d’Aplièse. Zweitens bist du älter geworden. Ja, du hast Kreeg auf Anhieb erkannt, aber für ihn muss es nicht zwangsläufig genauso leicht sein. Drittens: Welches Instrument spielst du nach Kreegs letztem Wissensstand?«

»Geige.« Im nächsten Moment ging mir ein Licht auf. »Ah …«

»Genau. Ganz bestimmt wird er sich nicht nach einem Studenten namens Bo d’Aplièse erkundigen, der Cellist ist. Falls er schon Nachforschungen angestellt haben sollte, gibt er vielleicht bald auf.«

»Ja, das klingt logisch«, räumte ich ein.

»Nun, dann haben dir die Sterne vielleicht sogar eine neue Möglichkeit eröffnet. Denn jetzt kann Kreeg dich nicht mehr aus dem Hinterhalt überfallen, was du immer befürchtet hast. Wir sollten uns überlegen, wie wir ihm den Diamanten zurückgeben. Etwa zusammen mit einem Brief, der die Umstände erklärt, unter denen seine Mutter zu Tode gekommen ist. Dann könnte er die Verfolgung aufgeben.«

Traurig schüttelte ich den Kopf. »Es wird nie genug sein, Elle. Auch mit der Wahrheit wird er sich nicht zufriedengeben. Er will meinen Kopf.«

Sie berührte meine Wange. »Wäre es nicht zumindest einen Versuch wert? Dann könnten du und ich wirklich in Frieden leben.«

»Ich habe Angst, Elle. Ich habe Angst vor ihm.«

»Ich weiß. Aber deine Elle ist bei dir.« Sie stand auf und ging laut überlegend im Zimmer auf und ab. »Am besten bleibst du fürs Erste zu Hause, während ich rauskriege, wo Kreeg wohnt und wie sein Tagesablauf aussieht. Klingt das wie ein vernünftiger Plan?«

Ich seufzte. »Ja«, stimmte ich zu.

»Gut! Dann legen wir also los.«

»Elle …«

»Ja, mein Liebling?«

»Ich flehe dich an, sei vorsichtig! Schließlich vermuten wir nur, dass Kreeg mich nicht erkannt hat. Er ist äußerst gerissen und sehr gefährlich. Falls dir etwas zustößt, würde ich mich ihm freiwillig ausliefern.«

»Ich verstehe. Deshalb müssen wir die Sache jetzt zu einem Ende bringen. So oder so.« Elle küsste mich. »Ich komme wieder und berichte dir alles, sobald ich kann.«

Mit diesen Worten öffnete sie meine Zimmertür und ging.

Nun sitze ich hier, starr vor Angst um Elle und vor Sorge, Kreeg könnte mich im Café trotz alldem erkannt haben. Immer wieder lüpfe ich den Vorhang ein Stück und spähe hinunter auf die Straße. Beinahe erwarte ich, dort einen Mann in SS-Uniform zu sehen, der zu mir hinaufstarrt. Wahrscheinlich steht mir eine lange Nacht bevor.