XXIII

Um zehn am nächsten Morgen kehrte Elle zurück. Sie war bleich und wirkte erschüttert. Da sie kaum einen Ton herausbrachte, setzte ich sie auf einen Stuhl und holte ihr aus der kleinen Küche im Erdgeschoss eine Tasse Tee mit Zucker. Sie trank, und ich hielt sie so lange in den Armen, bis sie wieder etwas Farbe im Gesicht hatte.

»Es war entsetzlich, Bo. Einfach nur entsetzlich.«

Erst nach einer Weile war Elle in der Lage, die schreckliche Szene zu schildern, deren Zeugin sie gerade vor dem Gewandhaus geworden war. Den Platz vor Leipzigs wichtigster Konzerthalle zierte ein Denkmal, das den großen Felix Mendelssohn Bartholdy darstellte, den jüdischen Gründer des ersten Konservatoriums in dieser Stadt. Und nun, an diesem Morgen, hatten die Nazis dieses Denkmal abgerissen und seine Fundamente zerstört.

»Sie haben gebrüllt und gejohlt, Bo. Wie tollwütige Tiere waren sie, so blind vor Wut und Hass. Mir blieb nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich weiterzugehen.« Bei der Erinnerung daran schloss Elle die Augen.

»Goerdeler wird außer sich sein«, erwiderte ich. »Wie kann man einen Mann wie Mendelssohn hassen, der der Welt so viel geschenkt hat?«

»Ich würde jede Wette eingehen, dass Goerdelers elender Stellvertreter dahintersteckt. Haake hat das veranlasst. Dass er versucht, die Menschen einzuschüchtern, während sein Vorgesetzter in München ist, würde zu ihm passen. Nun wird man Goerdeler sicher aus dem Amt jagen. Leipzig ist verloren.«

»Es tut mir so leid, Elle.«

Sie zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen ab. »Das ist noch nicht alles. Ich habe Kreeg unter den Anwesenden entdeckt und beobachtet, wie er den Uniformierten Befehle zubrüllte. Offenbar ist er für das Abrisskommando zuständig.« Bei der Vorstellung bekam ich eine Gänsehaut. »Allerdings wird es so für mich leichter, ihn zu verfolgen. Ich muss nur den Dienstplan seiner Einheit in Erfahrung bringen, dann weiß ich immer, wo er gerade ist.«

»Tja, offenbar hat dieser Tag auch eine gute Seite.«

Elle sah zu Boden. »Das sehe ich anders, Bo.«

Ich hätte mich ohrfeigen können. »Entschuldige die dumme Bemerkung. Ich würde nie zulassen, dass sie dir etwas antun, mein Liebling. Das schwöre ich dir.« Sie lächelte mich traurig an. »Hast du denn heute keine Seminare?«

»Nein. Rektor Davisson hat das Konservatorium geschlossen. Er fand es zu gefährlich für die Studenten. Ich bin mit Karine in der Wasserstraße verabredet.« Sie stand auf.

»Das halte ich für ziemlich unklug, Elle. Karine entspricht genau dem Bild, das sich die Nazis von einer Jüdin machen. Da heute offenbar der antisemitische Mob durch die Straßen tobt, würdest du dich in Gefahr begeben.«

»Bo, wir dürfen nicht vergessen, dass wir die Pflicht haben, unseren Freunden beizustehen. Wir wissen beide, dass Pip den Ernst der Lage nicht begreift. Er denkt nur an seine Abschlusskomposition.«

Ich nickte. »Und ich sollte heute eigentlich Cello im Orchester spielen.« Ich schob den Gedanken beiseite. »Jedenfalls kann ich nicht zulassen, dass du jetzt allein vor die Tür gehst. Ich komme mit.«

Elle überlegte. »Ich gebe zu, dass ich mich dann sicherer fühlen würde. Kreeg und seine Meute treiben bestimmt noch immer ihr Unwesen.« Verständlicherweise stockte Elle die Stimme. Ich erhob mich und nahm sie in die Arme. »Zieh deinen langen Mantel an«, sagte sie nach einer Weile. »Und setz den Hut auf. Wir wollen kein Risiko eingehen.«

Im Café in der Wasserstraße setzten wir uns in eine Nische fernab von der Tür, um auf Pip und Karine zu warten. Als sie eintrafen, war Karine sichtlich verstört, sie hatte geweint. Doch trotzdem ließ sich Elles beste Freundin nicht beirren, als sie das Wort an uns richtete.

»Nach diesem Vorfall haben wir niemanden mehr, der sich schützend vor uns stellt. Wir alle wissen, dass Haake ein Antisemit ist. Man braucht sich bloß anzuschauen, wie der versucht hat, diese schrecklichen Vorschriften durchzusetzen, die im restlichen Deutschland gelten. Wie lange wird es wohl dauern, bis jüdische Ärzte nicht mehr in Leipzig praktizieren und arische Patienten sie nicht mehr aufsuchen dürfen?«, fügte sie hinzu.

Pip bat mit einer Handbewegung um Ruhe. »Wir sollten nicht in Panik geraten, sondern abwarten, bis Goerdeler zurück ist. Laut Zeitungsberichten dauert es nur noch wenige Tage. Nach seinem Münchenbesuch ist er im Auftrag des Handelsministeriums nach Finnland gereist. Wenn er von diesen Ereignissen erfährt, kommt er sicher sofort nach Leipzig.«

»Aber die Stimmung in der Stadt ist so aufgeheizt!«, rief Elle aus. »Es ist allgemein bekannt, dass am Konservatorium viele Juden studieren. Was, wenn die beschließen, noch einen Schritt weiterzugehen und die Hochschule gleich ganz dichtzumachen? Wir wissen ja, was diese Leute von jüdischen Einrichtungen halten.«

»Das Konservatorium ist ein Tempel der Musik, wo religiöse und politische Macht keinen Platz haben. Bitte, wir müssen einfach die Ruhe bewahren«, beharrte Pip.

»Du hast leicht reden«, entgegnete Karine spitz. »Du bist kein Jude und kannst als einer von denen durchgehen.« Sie musterte Pips rotblondes gewelltes Haar und seine hellblauen Augen. »Bei mir ist das anders. Kurz nach dem Abriss des Denkmals bin ich auf dem Weg zum Konservatorium an einer Gruppe von Jugendlichen vorbeigekommen. Sie haben mir ›jüdische Hündin‹ nachgebrüllt!« Karine senkte den Blick. »Noch schlimmer ist«, fuhr sie fort, »dass ich nicht einmal mit meinen Eltern sprechen kann. Sie sind in Amerika und bereiten gerade die neue Skulpturenausstellung meines Vaters vor.«

Endlich schien auch Pip der Zorn gepackt zu haben, und er griff nach Karines Hand. »Mein Liebling, ich werde dich beschützen, und wenn ich dich dazu nach Norwegen bringen muss. Dir wird nichts geschehen.« Er umklammerte weiter ihre Hand und strich ihr mit der anderen eine schimmernde schwarze Haarsträhne aus dem ängstlichen Gesicht.

»Versprichst du mir das?«, fragte Karine in so hilflosem Ton, dass es mir fast das Herz zerriss.

Zärtlich küsste Pip sie auf die Stirn. »Ich verspreche es.«

Elle und mir wurde klar, dass Pip den Ernst der Lage endlich begriffen hatte.

In den nächsten Tagen blieb ich in meiner Unterkunft und gab Elle ein Schreiben für meine Professoren mit, in dem stand, dass ich an Grippe erkrankt sei. Sie besuchte mich jeden Abend, um mich über Kreegs Aktivitäten auf dem Laufenden zu halten. Am dritten Abend hatte sie Neuigkeiten zu berichten.

»Heute bin ich ein paar SS-Männern in die Innenstadt gefolgt und habe erfahren, dass sie in einem Hotel ganz in der Nähe der NSDAP-Parteizentrale einquartiert sind«, meldete sie mit einem Hauch von Aufregung in der Stimme.

»Wozu dient dieses Gebäude?«

»Unter anderem ist die Geheime Staatspolizei dort untergebracht. Auch Kreeg hat da offenbar ein Büro.«

Ich beugte mich über meinen wackeligen Holzschreibtisch. »Bist du sicher?«

»Mehr oder weniger. Allerdings …« Sie wandte den Blick ab.

»Wie ich herausgekriegt habe, arbeiten die nach einem Rotationsprinzip. Kreeg reist im ganzen Land herum, um sämtliche Landesverbände der Partei zu besuchen und auf ihre Linientreue zu überprüfen. Er wird Leipzig bald verlassen.«

Ungläubig lachte ich auf. »Woher hast du das?«

»Ich habe mit einem von denen geredet.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »W as?! Was, um alles in der Welt, hast du dir dabei gedacht, Elle? Ich war nur unter der Bedingung mit deinem Plan einverstanden, dass du dich vorsichtig verhältst!«

Sie nahm mich bei den Händen. »Der beste Schutz besteht doch darin, so zu tun, als wäre ich eine von denen. Also habe ich mich an einen der jungen SS-Männer herangemacht, der rauchend vor dem Säulengang des Konservatoriums stand. Erst habe ich ihm gesagt, wie schneidig er in seiner Uniform aussehe, und dann habe ich ihn ausführlich für die Entfernung des Denkmals gelobt.«

Ich ließ Elles Hände los und fing an, mir die Schläfen zu reiben. »Oh, Elle. Erzähl weiter.«

»Als ich den SS-Mann gefragt habe, welche Aufgaben er habe, hat er mir erklärt, er müsse hier Aufsicht führen. Sein direkter Vorgesetzter sei Obersturmführer Eszu, der morgen abreisen würde.«

Ich konnte nicht mehr an mich halten. »Du spielst mit dem Feuer, Elle. Was, wenn er gemerkt hat, dass du Jüdin bist?«

Elle verdrehte die Augen. »Ach, herrje, schau mich doch nur an. Blond und blauäugig wie ich bin, sehe ich aus wie eine Vorzeige-Arierin. Außerdem ist es sehr spannend, was ein bisschen Wimpernklimpern alles bewirken kann.«

Ich seufzte. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass ich mich nur noch ein paar Tage zu verstecken brauche. Dann wird Kreeg nicht mehr in Leipzig sein, und die Gefahr ist gebannt. Andererseits können wir jetzt deinen Plan nicht mehr umsetzen.«

»Nein. Obwohl der junge SS-Mann mir mitgeteilt hat, dass Obersturmführer Eszu in einem halben Jahr zurückkommt, um sich zu vergewissern, dass hier nicht der Schlendrian eingekehrt ist. So haben wir Zeit, genau zu planen, wie wir ihm den Diamanten zukommen lassen können, damit dir keine Gefahr mehr droht.«

Ich lief in dem kleinen Zimmer auf und ab. »Ja. Nur, dass das nichts an unserer aktuellen Lage ändert, Elle. Schließlich packen ja nicht alle Nazis ihre Sachen und verschwinden wie Kreeg. Du bist auch weiterhin nicht sicher.«

Elle antwortete erst nach einer Weile. »Wie Pip vorhergesagt hat, ist Goerdeler wieder da. Er hat versprochen, das Mendelssohn-Denkmal wieder aufstellen zu lassen. Haake ist mit seinem Vorhaben gescheitert, ihn aus dem Amt zu jagen. Alles sieht danach aus, als würden sich die Dinge beruhigen. Solange Goerdeler Bürgermeister ist, droht keine unmittelbare Gefahr.«

Ich hielt inne und blickte ihr in die Augen. »Schlägst du tatsächlich vor, dass wir bleiben, Elle?«

Sie nickte langsam. »Ich darf Karine nicht im Stich lassen. Pip hat es mit dem Fortgehen nicht eilig, und sie braucht unsere Hilfe. Vergiss nicht, Bo, dass wir ohne ihren Vater nicht hier wären. Wir müssen bleiben und auf sie aufpassen.«

Ich konnte Elle nicht widersprechen. Wenn Karine blieb, mussten wir es auch tun. »Du hast recht«, sagte ich.

»Danke, Bo.« Ich wurde mit einem Kuss auf die Wange belohnt. »Ist dir bewusst, dass bald die Weihnachtsferien anfangen? Pip und Karine wollen sich als Ehepaar in einem kleinen Hotel einmieten und dort eine Woche verbringen. Frau Fischer, meine Zimmerwirtin, besucht ihre Familie in Berlin.« Elle errötete leicht. »Ich dachte … falls du möchtest, könntest du in dieser Woche vielleicht bei mir wohnen.«

Mein Herz flatterte ein wenig. Obwohl Elle und ich nun schon seit sieben Jahren ein Paar waren, hatten wir noch nie … Sie müssen mir verzeihen, dass es mir ein wenig unangenehm ist, etwas zu diesem Thema zu schreiben. In unseren Anfangsjahren waren wir jung und unschuldig gewesen. Doch inzwischen waren wir zwanzig und achtzehn, weshalb sich gewisse Bedürfnisse meldeten, die wir als Kinder noch nicht verspürt hatten. Schon einige Male hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten ihnen nachgegeben, waren dann allerdings stets dabei gestört worden – meistens von einem Mitbewohner. Wir hatten schon überlegt, ob wir uns ein Hotelzimmer nehmen sollten, aber das Gefühl gehabt, damit Monsieur Landowski und die Stifterin des Prix Blumenthal zu hintergehen, denn schließlich waren wir zum Studieren hier.

»Das Leben ist kurz, Bo«, meinte Elle und steuerte mit einem vielsagenden Zwinkern auf die Tür zu.

Die Weihnachtsferien begannen, und das Konservatorium leerte sich, als Studenten und Lehrende sich über die Feiertage auf den Heimweg machten. Auch meine Unterkunft war mehr oder weniger verlassen. Also packte ich einen kleinen Koffer und ging zu Elle.

An jenem Abend liebten wir uns zum ersten Mal. Weil wir beide so unbeschreiblich schüchtern waren, wurde ein unbeholfenes Gefummel daraus, das rasch vorbei war. Als ich Elle anschließend in den Armen hielt, blickten wir einander in die Augen, ein ungeschickter Versuch, die romantische Stimmung herbeizuführen, die wir nur aus Büchern kannten. In Wahrheit war der … Akt … ein wenig enttäuschend gewesen, und der Blickkontakt sorgte dafür, dass wir beide laut zu lachen begannen. Aus dem Gelächter wurden Küsse, aus denen sich noch mehr entwickelte und … wie ich zu meiner Freude berichten kann, war der zweite Anlauf um einiges erfolgreicher. Elles und auch mein eigenes Schamgefühl hindern mich daran, weiter ins Detail zu gehen, doch es war wirklich ein bemerkenswertes Erlebnis.

Die restliche Woche verbrachten wir damit, gemeinsam die Kunst der körperlichen Nähe zu erlernen, und versanken selig in der Fleischeslust – wie wir nach dem missglückten Anfang rasch entdeckten, die natürlichste Art des Zusammenseins, wenn man sich liebt. Unsere Körper sind dazu gemacht, uns Lust zu schenken. Weshalb sollten wir es ihnen also verweigern?

***

Das neue Semester begann. Ich wandte mich wieder meinem Studium zu, und das Leben ging etwa genauso weiter wie vor der Ankunft (und Abreise) von Kreeg Eszu. Pip arbeitete wie ein Besessener an seiner Komposition, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, dass das Stück zur Aufführung kommen würde, bevor Karine gezwungen war, Leipzig zu verlassen. Hin und wieder veranstaltete er Proben, um Änderungen im Notentext einzuüben. Dann saß ich, erfüllt von aufrichtiger Bewunderung für sein Werk, hinter meinem Cello. Pip Halvorsen mag in vielerlei Hinsicht seine Schwächen haben, aber er ist ein begnadeter Komponist.

»Klingt das einigermaßen, Bo? Ich vertraue auf dein Urteil.«

»Ich bin sicher, dass es ein Riesenerfolg wird«, antwortete ich, und das war ernst gemeint.

»Wirklich nett, dass du das sagst.« Er klappte den Klavierdeckel zu und beugte sich zu mir hinüber. »Weißt du, dass am Konservatorium das Gerücht umgeht, dass du Bo heißt, weil man dich nie ohne Cellobogen sieht. Das stimmt doch nicht, oder?«

Ich lachte lässig auf, damit er mir die Angst nicht anmerkte, die in mir aufwallte. »Ich fürchte, das ist Blödsinn. Obwohl ich natürlich nur deshalb überhaupt zum Bo-gen gegriffen habe. Nomen ist Omen.« Ich beglückwünschte mich zu meiner eleganten Lüge.

»Alles klar. Wer Bo heißt …«

»… muss einen Bo-gen haben«, entgegnete ich.

Pip ließ den Blick durch den holzvertäfelten Probenraum schweifen. »Wusstest du, dass Haake nach Goerdelers Rücktritt unser neuer Bürgermeister werden will? Heute hat er es angekündigt.«

Ich stand auf, packte mein Cello ein und klappte den Instrumentenkoffer zu. »Leider hat Goerdeler es nicht geschafft, dass das Mendelssohn-Denkmal wiederaufgebaut wird. Und Haake hat durch den Abriss seine Haltung zum Judentum unmissverständlich klargemacht.«

Pip seufzte tief. Offensichtlich hatte er sich Beschwichtigungen von mir erhofft. »Ich weiß. Ich versuche mir nur ständig einzureden, dass das alles nicht wirklich passiert. Ich bin im dritten Studienjahr und werde deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach mein Studium noch hier in Leipzig abschließen können. Aber Karine, Elle und du … ihr müsst vielleicht noch vor dem Abschlussjahr fort.«

»Ein kleiner Preis, wenn es um Leib und Leben geht, Pip.«

Kurz hielt er inne und nickte dann. »Ja, ganz richtig.«