Bald waren die Alarmzeichen nicht mehr zu übersehen. Das Mendelssohn-Denkmal wurde nie wiederaufgebaut.
Ich muss mich für meine Handschrift entschuldigen, die, wie meiner werten Leserschaft sicher nicht entgangen ist, seit dem letzten Eintrag beträchtlich gelitten hat. Leider habe ich mir eine Verletzung am rechten Arm zugezogen, sodass es schmerzhaft ist, diesen auf den Schreibtisch zu heben. Bei jeder neuen Zeile schießt mir ein Stechen durch den Ellbogen bis hinauf in die Schulter und steigert sich im Genick zum Crescendo. Offenbar soll ich daran erinnert werden, dass der menschliche Körper aus einem kompliziert angelegten Nervengeflecht besteht. Derzeit trage ich eine improvisierte Schlinge, die Elle aus ihrem Schal gebastelt hat. Sie muss mir mehrmals am Tag helfen, sie an- und wieder abzulegen. Und zu allem Überfluss hat mein Gesicht dieselbe Farbe wie der Glühwein, den wir an kalten Winterabenden getrunken haben, um uns zu wärmen.
Ich sollte hinzufügen, dass ich mich derzeit in der Kabine einer klapprigen alten Fähre befinde, die mich und Elle in ein uns beiden unbekanntes Land bringt. Trotz der Ereignisse bin ich voll Vorfreude auf dieses neue grüne Stück Erde. An Bord der Fähre befinden sich auch Pip und Karine, denen Elle und ich vermutlich unser Leben verdanken. Pip hat sich selbstlos bereit erklärt, nicht nur Karine, sondern auch mich und Elle ins Haus seiner Familie in Norwegen mitzunehmen. Die zweitägige Reise ist für mich eine willkommene Gelegenheit, Tagebuch zu schreiben. Und so will ich die Ereignisse schildern, die zu unserer Abreise aus Leipzig geführt haben.
In den letzten Monaten waren wir stets auf der Hut, insbesondere Elle, die damit rechnete, dass Kreeg jeden Moment wieder in der Stadt auftauchen würde. Doch obwohl er sich nicht mehr blicken ließ, hielten Elle und ich im Mai den Zeitpunkt für gekommen, uns von Leipzig zu verabschieden. Wir hatten uns darauf geeinigt, bis zum Ende des Semesters zu warten, um unsere Prüfungen ablegen zu können, und danach unsere Zelte abzubrechen. Da Goerdeler nun fort war, konnten die Nazis nach Gutdünken Vorschriften gegen die jüdische Bevölkerung erlassen, weshalb es einfach zu gefährlich wurde zu bleiben. Elle war es schließlich gelungen, Karine zu überreden, Deutschland – Pip hin oder her – zu verlassen. Doch dieser hatte inzwischen verstanden, was auf dem Spiel stand, und bat Karine, ihn nach Norwegen zu begleiten, sobald das Semester vorbei war.
Elle und ich überlegten, ob wir in die Vereinigten Staaten gehen sollten. Unser Geld reichte gerade für die Schiffspassage. Ich hatte mir gedacht, dass ich ja die Familie Blumenthal aufsuchen konnte, um mich für die Rettung meines Lebens zu bedanken. Anschließend wollte ich mir Arbeit suchen.
Nachdem alles entschieden war, empfand ich es nur als passend, dass die Aufführung von Pips Abschlusskomposition mein Abschiedskonzert von Leipzig sein würde. Es war ein heller Frühsommerabend, und vor dem Gewandhaus hatten sich Hunderte von Studenten versammelt, um die Aufführung der Abschlusskompositionen zu hören. Trotz der Abwesenheit von Herrn Mendelssohn wirkte der Platz vor dem Konservatorium idyllisch. Die Studenten – viele von ihnen für ihren Auftritt festlich gekleidet – schlenderten umher, nippten an ihren Weingläsern, diskutierten über Musik und plauderten gut gelaunt. Scheinwerfer verbreiteten ein gelbliches Licht, und wenn jemand in diesem Moment mit einem Fallschirm vom Himmel herabgeschwebt wäre, ohne etwas von den schrecklichen Zuständen in dieser Stadt zu ahnen, er hätte vermutlich geglaubt, am friedlichsten Fleckchen der Welt gelandet zu sein.
Ich glaube, so möchte ich das Konservatorium bis ans Ende meiner Tage im Gedächtnis behalten. Als strahlenden Leuchtturm der Kreativität, in dessen Licht ich als Musiker und als Mensch gewachsen bin.
»Du siehst hinreißend aus, Bo. Der Frack steht dir«, sagte Elle und hakte mich unter.
»Danke, mein Liebling. Doch ein Frack steht jedem Mann. Wir haben es da leicht, während du und deine Geschlechtsgenossinnen nach eurem modischen Geschmack beurteilt werdet. Eigentlich ist das ja albern, aber …«
»Kommt jetzt endlich das Kompliment, oder muss ich mir Sorgen machen?«, schäkerte Elle.
»Entschuldige. Du weißt doch, dass du immer anbetungswürdig aussiehst. Insbesondere heute Abend.« Das war nicht übertrieben. Elle trug ein schulterfreies dunkelblaues Abendkleid, das sich eng an ihren Oberkörper schmiegte und sich unterhalb der Hüften zu Rüschen aufbauschte.
»Danke, Bo. Was die Damenmode anbelangt, muss ich dir recht geben. Wahrscheinlich wird sich die arme Karine den ganzen Abend gehässige Kommentare gefallen lassen müssen.«
Natürlich hatte sich unsere Freundin gegen ein Kleid und stattdessen für einen schwarzen Anzug entschieden, der von einer überdimensionalen weißen Fliege abgerundet wurde.
»Ich finde, sie sieht großartig aus«, meinte ich.
»Ich auch. Sie ist so … in sich selbst ruhend. Etwas, das du und ich vermutlich niemals hinkriegen werden.«
Ich schmunzelte. »Da kann ich nicht widersprechen. Pass auf, am besten besetzt du jetzt unsere Plätze. Es gibt heute keine nummerierten Eintrittskarten, und du willst sicher nicht leer ausgehen.«
Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Viel Glück. Gib dein Bestes, um Pips Karriere nicht zu ruinieren.« Mit diesen Worten schlenderte Elle zu Karine hinüber, und die beiden gingen ins Gewandhaus.
Pip war sichtlich nervös, und das mit gutem Grund. Über sein Stück wurde bereits viel geredet, und das Konzert war besser besucht als gewöhnlich. Während das Publikum seine Plätze einnahm, lief er aufgeregt im Foyer hin und her.
»Keine Angst, mein Freund«, beruhigte ich ihn. »Wir werden uns heute Abend Mühe geben, deinem wunderbaren Stück gerecht zu werden.«
»Danke, Bo. Mit deinem Cello wirst du viel dazu beitragen.«
Ich drückte ihm leicht die Schulter. »Ich muss an meinen Platz. Viel Glück, Pip.«
Nachdem ich meinen Platz auf der Bühne eingenommen hatte, beobachtete ich, wie Rektor Walther Davisson Pip und die anderen fünf Komponisten hineinführte, deren Werke heute zur Aufführung kommen sollten. Blass vor Anspannung setzten sie sich im Großen Saal in die erste Reihe. Dann betrat Rektor Davisson die Bühne und wurde von freundlichem Applaus empfangen. Wie früher Goerdeler war er in diesen unruhigen Zeiten für uns ein Fels in der Brandung geworden. Wir Studenten am Konservatorium wussten, dass er unser Beschützer und Fürsprecher war.
»Danke. Ich danke Ihnen.« Als er die Hand hob, verstummte der Beifall. »Willkommen im Gewandhaus zu unserem jährlichen Abschlusskonzert. Sicher sind Sie alle schon gespannt auf die Früchte des Fleißes und der Hingabe Ihrer Kommilitonen, weshalb ich mich kurzfassen werde. Ich möchte allen, die heute Abend hier zusammengekommen sind, für ihre Standhaftigkeit und ihr Durchhaltevermögen in diesem unglaublichen Jahr danken. Die meisten von Ihnen kennen vermutlich schon meinen Ratschlag, die imaginären Scheuklappen aufzusetzen und sich von den Vorgängen rings umher nicht ablenken zu lassen. Heute Abend feiern wir nicht nur die sechs jungen Komponisten, deren Arbeiten Sie jetzt hören werden, sondern auch die Leistungen von Ihnen allen in diesem Jahr. Ich bin unbeschreiblich stolz darauf, Ihr Rektor zu sein, und bitte um Applaus für die Anwesenden.« Das Publikum tat ihm den Gefallen, und bald erfüllten Klatschen und Jubelrufe den Raum. »In den folgenden Jahren werden die Menschen sich auf der Suche nach Trost, Glück und kleinen Fluchten an Sie wenden. Und Sie verfügen über alle nötigen Fähigkeiten, um ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Also tun Sie es auch.« Stille entstand, als das Publikum über seine Worte nachdachte. »Und nun möchte ich Ihnen die erste Komponistin des Abends vorstellen: Petra Weber. Fräulein Webers Stück trägt den Titel ›Der Hoffnung Himmelfahrt‹ …«
Während Davisson weitersprach, schaute ich hinüber zu Pip, dessen Blick unruhig durch den Zuschauerraum huschte. Leider war er der Letzte im Programm und würde etwa eineinhalb Stunden warten müssen, bis sein Beitrag an der Reihe war – eine schreckliche Aussicht.
Nach fünf erfolgreich aufgeführten Werken durfte er endlich auf die Bühne. Ich bemerkte, dass seine Beine beim Auftritt ein wenig zitterten. Er verbeugte sich knapp und nahm am Klavier Platz. Der Dirigent hob den Taktstock. Wir setzten ein.
Pip hätte sich das Lampenfieber sparen können. Sobald die Lichter gedämpft wurden, versetzte seine Musik das Publikum ins Reich der Verzückung. Die fein ziselierten Harmonien und anschwellenden Crescendi von Pips Komposition verfehlten ihre Wirkung nicht. Das Stück bebte von pulsierender Lebenskraft und spiegelte die Liebe zur Musik wider, die das gesamte Konservatorium beseelte. Es war ein erhebendes Gefühl, dazuzugehören. Als der letzte Takt – zart perlende Harfentöne – verklang, herrschte kurz Schweigen. Gefolgt von donnerndem Applaus. Das Publikum spendete stehend Beifall. Diesmal fiel Pips Verbeugung um einiges schwungvoller aus.
Anschließend wurde im Foyer des Gewandhauses ausgelassen gefeiert. Ich war ein wenig gerührt, als ich sah, wie Mitstudenten und Professoren Pip anerkennend auf die Schulter klopften. Sogar ein Reporter von einer Zeitung war gekommen und bat ihn um ein Interview. Nun hatte sich die harte Arbeit der vergangenen Monate ausgezahlt, und Pip hatte sich das Lob redlich verdient. Ich stellte fest, dass Karine sich durch die Menschenmenge einen Weg zu ihm bahnte und ihm um den Hals fiel. »Mein Grieg!«, rief sie aus. »C héri , das war der Beginn einer glanzvollen Karriere.« Ich konnte ihr da nicht widersprechen.
Das Konservatorium ließ Unmengen an Sekt auffahren, und offenbar hatte man in diesem Jahr keine Kosten gescheut. Die Getränke flossen in Strömen, sodass die meisten Gäste bald ziemlich beschwipst waren. Man konnte es niemandem verübeln, denn alle hatten Grund zu feiern. Auch mir wurde Glas um Glas angeboten, doch ich lehnte jedes Mal ab.
Im Lauf vieler Jahre habe ich mich allmählich ein kleines Stück geöffnet. Ich erzähle anderen sogar meine Geschichte, etwas, woran ich früher noch nicht mal im Traum gedacht hätte. Doch Alkohol lockert die Zunge und betäubt die Sinne, weshalb ich es für ratsam halte, den Stoff zu meiden, der für viele der süßeste Nektar der Welt ist. Schon ziemlich früh am Abend wurde mir klar, dass ich mich mit dieser Haltung in der Minderheit befand, und so beschloss ich, froh, aber nüchtern, den Heimweg anzutreten.
Ich ging, um mich bei Elle abzumelden. »Ich glaube, Karine und ich bleiben noch ein bisschen«, erwiderte sie.
»Wie du möchtest, mein Liebling. Treffen wir uns morgen früh zum Kaffeetrinken?«
»Prima Idee«, sagte sie und küsste mich auf die Wange.
Ich wandte mich an ihre Zimmergenossin. »Gute Nacht, Karine. Bitte richte Pip noch einmal aus, welche Freude es für mich war, heute Abend sein Stück zu spielen.«
»Das werde ich, Bo. Danke! Und gute Nacht.«
Als ich das Gewandhaus verließ, war es kurz vor Mitternacht, weshalb keine Straßenbahnen mehr fuhren. Also machte ich mich zu Fuß auf den zwanzigminütigen Heimweg. Tagsüber war es ein angenehmer Spaziergang, doch inzwischen war es Nacht und deshalb ziemlich kühl geworden. Ich schlug den Jackenkragen hoch. Die Straße, die vom Gewandhaus zur Johannisgasse führte, war lang und um diese späte Stunde menschenleer. Sie wurde von gewaltigen Fichten gesäumt. Etwa alle fünfzehn Meter verbreitete eine Gaslaterne ihr dämmriges Licht. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich gewaltige Wiesen, wo die Einwohner Leipzigs Sport trieben oder ihre Hunde ausführten. Nachts herrschte hier eine unheimliche Atmosphäre, und ich fühlte mich, als balancierte ich auf einer Schwebebrücke über einen tiefen Abgrund.
Ich war seit zehn Minuten unterwegs, als ich hinter mir einen Zweig knacken hörte. Ich drehte mich um und rechnete eigentlich mit einem Fuchs oder einem Reh, die auf dem Weg von einer Wiese zur anderen die Straße überqueren wollten. Doch zu meinem Erstaunen war nichts zu sehen. Ich spähte in die Dunkelheit, um festzustellen, ob sich dort etwas bewegte. Da ich nichts erkennen konnte, ging ich weiter. Ich war erst wenige Meter weit gekommen, als ich sicher war, Schritte zu hören, die von der anderen Seite der Baumreihe kamen. Wieder wirbelte ich herum.
»Hallo?«, rief ich. »Ist da jemand?« Erneut erntete ich nur Schweigen.
Inzwischen war mir mulmig zumute, und ich ging schneller. Und wie erwartet waren da wieder die Schritte zu hören, diesmal lauter, weil der Unbekannte bei dieser Geschwindigkeit nicht mehr schleichen konnte. Also schmiedete ich einen Plan. Wohl wissend, dass Angriff die beste Verteidigung ist, machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte auf die Bäume zu, woher das Geräusch gekommen war.
»Warum verfolgen Sie mich? Zeigen Sie sich. Seien Sie kein Feigling. Wenn Sie mir was zu sagen haben, möchte ich es hören!« Ich rannte zwischen den Bäumen hin und her, um denjenigen zu erwischen, der mir da auflauerte. Da ich niemanden entdecken konnte, marschierte ich weiter in die Wiese hinein, wo ich in der Dunkelheit angespannt verharrte und die Ohren spitzte. Nach einer Weile waren tatsächlich wieder Schritte zu hören, ein schmatzendes Geräusch, das den geheimnisvollen Verfolger verriet. Allerdings entfernten sich diese Schritte von mir und verklangen in der Dunkelheit. Überzeugt, den Menschen durch mein resolutes Auftreten verscheucht zu haben, kehrte ich zurück zur Straße. Den Rest des Weges absolvierte ich im Laufschritt.
Außer Atem und ein wenig verängstigt erreichte ich schließlich meine Haustür. Ich holte den Schlüsselbund aus der Tasche, nestelte jedoch so ungeschickt daran herum, dass ich ihn fallen ließ. Er landete hinter mir auf dem Boden, und als ich mich danach umdrehte, bemerkte ich eine schemenhafte Gestalt, die sich rasch hinter das Haus an der Straßenecke duckte.
War er wieder in Leipzig? Wusste er, wer ich war?
Ich ging in Gedanken meine verschiedenen – ziemlich begrenzten – Möglichkeiten durch. Falls es sich bei dem geheimnisvollen Unbekannten tatsächlich um Kreeg handelte, wäre es Wahnsinn gewesen, ihn zur Rede stellen zu wollen. Wahrscheinlich war er bewaffnet und würde mich ohne viel Federlesen über den Haufen schießen. Mein erster Gedanke war, dass ich Elle beschützen musste. Doch wenn ich zum Gewandhaus zurücklief, würde ich Kreeg auf direktem Wege zu ihr führen und nicht nur meine Liebste, sondern auch unsere Freunde in Gefahr bringen. Also blieb mir nur übrig, ins Haus zu gehen. Ich schloss auf und eilte hinauf in mein Zimmer, wo ich die Tür verriegelte und kein Licht einschaltete. Stattdessen schlich ich zum Fenster, um einen Blick auf die Straße zu werfen und Ausschau nach der dunklen Gestalt zu halten. Die Luft schien rein zu sein.
Dennoch hielt ich es für ratsam, Vorkehrungen zu treffen. Nachdem ich mein Taschenmesser aus der Nachttischschublade genommen hatte, bezog ich wieder meinen Beobachtungsposten am Fenster. Diesmal schloss ich die Vorhänge bis auf einen kleinen Spalt, um hindurchzuspähen. So konnte ich gerade noch die Ecke des Hauses ausmachen, in dem Elle wohnte. Nun würde ich wenigstens wissen, ob sie und Karine wohlbehalten nach Hause gekommen waren.
Mir stand eine lange Nacht bevor.
Ich rückte mir einen Stuhl zurecht und schob mir ein Kissen in den Nacken. Zumindest hatte ich nun ein paar Stunden Zeit, um mir zu überlegen, wie ich Kreeg entkommen konnte. Falls er es tatsächlich war. Aufmerksam saß ich da und beobachtete die menschenleere Straße unter mir. Die Zeit verging ohne ein Anzeichen des Menschen, der mich verfolgt hatte. Oder? War ich wirklich sicher? Vielleicht hatte mein Verstand mir ja einen Streich gespielt. Schließlich stand ich seit einiger Zeit unter starkem Druck. Womöglich ging ja meine Fantasie mit mir durch.
Da das Zimmer in der obersten Etage lag, war es warm, was eine einschläfernde Wirkung auf mich hatte. Ich spürte, wie mir die Augen zufielen. Um mich wach zu halten, öffnete ich das Fenster einen Spalt weit, sodass kühle Nachtluft hereinströmte. Eine Weile blieb ich standhaft, doch bald fügte sich mein Körper ins Unvermeidliche: Ich schlief ein.
Ich wurde von meinem eigenen Husten geweckt und schlug die Augen auf. Doch ich konnte nichts sehen. Also sprang ich auf und machte blind ein paar Schritte vorwärts, bis ich mit dem Fuß an einem Tischbein hängen blieb, stolperte und hinfiel. Der Sturz war zwar schmerzhaft, doch ich konnte plötzlich wieder klar sehen. Als ich mich auf den Rücken rollte, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass schwarzer, stechender Qualm mein Zimmer erfüllte.
Von Panik ergriffen rappelte ich mich auf. Als ich dabei einen Schwall Rauch einatmete, bekam ich wieder einen Hustenanfall. Auf allen vieren kroch ich weiter, bis ich die Tür erreichte. Dort angekommen, stellte ich jedoch zu meinem Schrecken fest, dass der Qualm aus dem Flur hereinwaberte. Wenn ich es bis nach unten schaffen wollte, stand mir einiges bevor. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich hielt den Atem an, streckte die Hand nach dem Türknauf aus und zog mich hoch. Der Riegel war glühend heiß. Ich biss die Zähne zusammen und zerrte mit Leibeskräften daran. Zu meiner Erleichterung ließ er sich bewegen. Dann ging ich hinter der Tür in Deckung und riss sie auf. Sofort leckten riesige orangefarbene Flammen ins Zimmer wie die gewaltige Zunge einer zornigen Schlange. Dieser Fluchtweg war mir also versperrt.
Ich schloss die Tür wieder. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Flammen auch sie in Brand setzen würden, und ich fragte mich, ob ich wohl dem Feuer oder zuerst dem Rauch zum Opfer fallen würde. Ich sank zu Boden und legte mich auf den Bauch.
»Es tut mir leid!«, rief ich aus, obwohl ich nicht ganz sicher war, wem diese Entschuldigung eigentlich galt. Vielleicht Elle, weil ich sie in Leipzig und in großer Gefahr allein ließ. Oder meinem Vater, den ich nicht gefunden hatte. Möglicherweise auch den Landowskis, Evelyn, Monsieur Ivan und an all den anderen, die an mich geglaubt hatten, als ich ein Niemand gewesen war. Ja, und sogar Kreeg Eszu, des Missverständnisses wegen, das zu so viel Elend und Leid geführt hatte.
Und jetzt ließ er mich dafür büßen.
Ich hatte zahlreiche Länder durchquert und Hunger und Kälte getrotzt. Trotz aller Widrigkeiten hatte ich eine Frau gefunden, die mein Leben lebenswert machte. Und jetzt sollte das alles enden? Einfach so, in einer Rauchwolke?
Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Als ich ein kleiner Junge gewesen war, hatte mein Vater mit mir stets Entspannungsübungen nach dem Theaterlehrer Konstantin Stanislawski gemacht, damit ich besser einschlafen konnte. Ich rief mir seine Stimme ins Gedächtnis: Der Herrscher über deine Muskeln sitzt gerade in deinem kleinen Zeh. Er muss nämlich am kleinsten Teil deines Körpers beginnen … und dann schaltet er den Muskel ab. Als Nächstes wandert er zum nächsten Zeh und zum übernächsten … und jetzt hat er deine Fußsohle erreicht. Herrje, da ist ja alles völlig verspannt, denn schließlich muss sie den ganzen Tag das Gewicht deines Körpers tragen. Aber für den Herrscher über deine Muskeln ist das kein Problem. Er knipst sie genauso aus wie einen Lichtschalter. Und jetzt wandert er weiter zu deinem Knöchel …
Mein Vater existierte zwar im Moment nur in meiner Fantasie, doch er sprach zu mir, bis mich der Schlaf übermannte. Allerdings war jetzt vermutlich eher der Qualm schuld daran. Die nächsten Ereignisse habe ich wahrscheinlich nur geträumt.
Ich sah über mir Sterne.
Wie ich mich erinnere, war ich froh, dass sie in meinen letzten Minuten für mich da waren. Die Konstellation der Sieben Schwestern funkelte und glitzerte vor meinen Augen. Sie waren meine Leitsterne, meine Beschützerinnen. Und dann begannen die Sterne sich neu zu ordnen. Sie nahmen die Gestalt von sieben Frauengesichtern an, die ich nicht kannte. Jedes von ihnen verströmte eine unglaubliche Wärme und Liebe. In diesem Moment fühlte ich mich friedlich. Ich war bereit.
Und da hörte ich eine Stimme.
»Nicht jetzt, Atlas. Es gibt noch viel zu tun.«
Die sieben Gesichter lösten sich auf, und wieder veränderten die Sterne ihre Positionen, sodass eine einzige Gestalt entstand. Sie hatte langes Haar und trug ein fließendes Kleid, das sich hinter ihr auszudehnen schien bis in die Unendlichkeit. Im nächsten Moment verblassten die Sterne, und die Frau stand vor mir wie in Technicolor. Ihr Kleid hatte einen satten Rotton, und sie war mit Girlanden aus weißen und blauen Blumen geschmückt. Ihr rotblond schimmerndes Haar war rings um ihr herzförmiges Gesicht zu einer eleganten Frisur geformt. Sie hatte strahlend blaue Augen, die zu glitzern und zu funkeln schienen. Ich war wie hypnotisiert. Wieder sprach sie mich an.
»Der Junge, der die Welt auf seinen Schultern trägt. Du musst sie noch ein wenig länger tragen. Andere Menschen brauchen dich.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte ich atemlos. »Wer bist du?«
»Dein Schicksal hat sich noch nicht erfüllt. Du brauchst noch nicht durch diese Tür zu gehen.«
»Welche Tür? Wovon redest du?«
Die Frau lächelte. »Du betrachtest mich durch ein Fenster, Atlas. Ich habe festgestellt, dass sie den Türen vorzuziehen sind, denn man kann den Weg sehen, ehe man aufbricht.«
Ich verstand ihre Botschaft. »Das Fenster also. Aber ich bin im dritten Stock. Diesen Sturz überlebe ich nicht.«
»Hier drin überlebst du genauso wenig. Hab Vertrauen und spring.«
Dann löste die Frau sich auf, verschlungen vom schwarzen Qualm, der mich in dichten Schwaden umwaberte.
Ich drehte mich auf den Bauch und robbte zum Fenster. Auf dem Weg dorthin streifte meine Hand einen langen schmalen Gegenstand auf dem Boden. Mein Cellobogen. Ich griff danach. Ich konnte durch den Rauch gerade noch das Licht vor dem Fenster erkennen, das einen Spalt weit offen stand und die Nachtluft hereinließ.
Mühsam zog ich mich am Vorhang hoch und schob das schwere Fenster auf. Der Rauch um mich herum ließ ein wenig nach, nur um mich im nächsten Moment umso dichter einzuhüllen. Als ich hinabschaute, sah ich unter mir Frau Schneider und einige andere, die der Feuersbrunst entronnen waren. Sie bemerkten mich oben am Fenster.
»Er lebt! Mein Gott!«, schrie Frau Schneider. »Halten Sie durch, junger Mann! Die Feuerwehr wurde schon alarmiert. Wir retten Sie!«
Da ertönte hinter mir ein unheilverkündendes Krachen. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Tür und Türrahmen Feuer gefangen hatten. Die Flammen waren hungrig. Sie wollten mich verschlingen. Nun hatte ich wirklich keine andere Wahl mehr. In letzter Minute rettete ich noch mein Tagebuch, das ich schemenhaft auf dem Schreibtisch ausmachen konnte. Dann kletterte ich aufs Fensterbrett.
»Nicht! Bleiben Sie sitzen!«, rief Frau Schneider mir zu.
Bis zum Boden unter mir waren es geschätzte fünfzehn Meter. Ich steckte Cellobogen und Tagebuch in den Bund meiner Hose. Dann umfasste ich das Fensterbrett und ließ mich herunter, bis meine Beine über der Kante baumelten. Jeder Zentimeter weniger konnte entscheidend sein. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.
»Das Blumenbeet! Das Blumenbeet!«, rief Frau Schneider. »Ich habe es erst heute Abend gegossen!«
Ich ließ mit der linken Hand los, sodass ich nur noch am rechten Arm hing und nach unten schauen konnte. Trotz der Dunkelheit leuchteten die weißen und blauen Blumen wie die Begrenzungsscheinwerfer einer Landebahn. Wenn ich es schaffte, mich ein wenig zur Seite zu wenden und im weichen Morast aufzukommen, hatte ich vielleicht eine Chance. Wieder erklang in meinem Zimmer ein lautes Krachen. Jetzt oder nie! Ich griff mit der linken Hand nach dem Fensterbrett, pendelte hin und her, um Schwung zu holen, und ließ los.
Meine Landung hätte zwar sanfter ausfallen können, lief aber angesichts der Umstände recht glimpflich ab. Wie ich gehofft hatte, landete ich mit den Füßen im Blumenbeet. Beim Aufprall beugte ich die Knie und rollte mich ab. Die wahre Wucht des Sturzes spürte ich erst, als mein rechter Arm, gefolgt von meinem Gesicht, auf der Beetumrandung aufschlug.
Ich stieß einen Schmerzensschrei aus.
»Mein Junge, mein Junge!« Eine aufgeregte Frau Schneider beugte sich über mich. »Sind Sie verletzt? Können Sie Ihre Beine spüren? Und mit den Zehen wackeln?«
»Ja«, erwiderte ich. »Es hat meinen Arm erwischt.« Als ich mit meiner unversehrten Hand den Ärmel hochkrempelte, bot sich mir ein entsetzlicher Anblick. Offenbar hatte ich mir den Ellbogen ausgekugelt. Der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen.
»Wir müssen ihn vom Haus wegbringen. Helfen Sie mir!« Sofort kamen ein paar meiner Mitbewohner herbei und packten mich an den Armen, um mich fortzuziehen.
»Nein!«, rief ich aus, aber es war zu spät. Als die Männer mich hochwuchteten, gab mein rechter Arm ein Knacken von sich, bei dem sich mir der Magen umdrehte. Darauf folgte eine glühend heiße Schmerzwelle, die im Ellbogen begann, sich jedoch in meinem gesamten Körper ausbreitete. Sosehr ich auch schrie, meine Retter ließen sich nicht beirren und zerrten mich weg von den Flammen. Als ich endlich in Sicherheit war, rollte ich mich zu einer Kugel zusammen und ließ die Schmerzwellen über mich hinwegbranden.
»Tief durchatmen, junger Mann. Nur Mut«, sagte Frau Schneider, die nun neben mir saß und mir über den Kopf streichelte. »Sie haben überlebt.«
»Konnten sich alle retten?«, stieß ich schließlich hervor.
»Wir wissen, wo sie sich aufhalten. Zum Glück waren die meisten nicht zu Hause. Wegen des Konzerts heute Abend sind fast alle noch in der Stadt unterwegs. Was mit den übrigen Häusern ist, kann ich leider nicht sagen.«
»Den übrigen Häusern?«, wiederholte ich.
»Ich fürchte, dieses Haus war nicht das einzige, junger Mann. Jetzt hat es richtig angefangen. Ohne mich wäre das alles nie passiert. Hinter mir waren sie her.«
Verdattert verzog ich das Gesicht. »Ich verstehe kein Wort, Frau Schneider.«
»Ich bin Jüdin. Sie haben mir das Haus angesteckt, um mich zu ruinieren und mir zu zeigen, dass ich hier unerwünscht bin. Und ihr Plan ist bedauerlicherweise aufgegangen.«
Meine Gedanken überschlugen sich. »Das tut mir leid, Frau Schneider.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Schließlich hätten Sie heute Nacht ums Leben kommen können. Und das wäre dann meine Schuld gewesen.« Sie senkte den Kopf.
»Nein, Frau Schneider«, protestierte ich. »Ganz sicher nicht.« Die Angst saß mir wie ein Stein im Magen. »Sie haben ›die übrigen Häuser‹ gesagt. Also haben die Brandstifter auch noch anderen Häusern, in denen Juden leben, einen Besuch abgestattet?«
»Ich fürchte, ja.«
Mühsam rappelte ich mich auf. Als erneut ein scharfer Schmerz meinen Arm durchzuckte, fuhr ich zusammen und schnappte nach Luft.
»Vorsicht! Ich hole einen Arzt«, rief Frau Schneider.
Als ich in Richtung des Cafés hastete, kam Elles Haus in Sicht, das zum Glück unversehrt war. Meine Erleichterung vertrieb den Schmerz besser, als Morphium es je vermocht hätte. »Ich brauche keinen Arzt«, meinte ich zu Frau Schneider, die mir gefolgt war. »Alles ist gut, vielen Dank. Jetzt muss ich Elle suchen.«
Frau Schneider nickte. »Ich habe sie nicht gesehen. Sie müssen sich umhören …« Plötzlich schlug sie die Hand vor den Mund und brach in Tränen aus. Offenbar waren die Ereignisse dieser Nacht zu viel für sie gewesen.
Ich legte ihr den heilen Arm um die Schultern. »Es ist so ungerecht, Frau Schneider. Es tut mir so leid.«
»Danke«, schniefte sie. »Allerdings frage ich mich, warum sie sich ausgerechnet an mich gehalten haben. Schließlich hänge ich, im Gegensatz zu vielen anderen in dieser Stadt, meinen Glauben nicht an die große Glocke.«
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn ich wusste, dass Frau Schneider nicht das eigentliche Ziel gewesen war. Sondern ich.
»Bo!« Als ich Frau Schneider über die Schulter schaute, bemerkte ich, dass Elle, gefolgt von Karine, auf mich zugelaufen kam. Ich wollte sie umarmen, doch wieder fuhr mir der Schmerz in den Arm, und ich verzog das Gesicht. »Mein Liebling. Was, um Himmels willen, ist passiert? Bist du verletzt?«
»Oh, Bo«, fügte Karine hinzu.
Ich wies auf das qualmende Haus. »Ich musste springen. Sie zünden die Häuser von Juden an. Aber Elle … er war es. Er weiß Bescheid. Wir müssen noch heute Nacht fort.«
»Wer ist er ?«, hakte Karine nach.
»Er meint diesen ganz besonders unangenehmen SS-Offizier, dem wir immer wieder in der Stadt begegnen«, antwortete Elle ihrer Freundin. »Richtig, Bo?«
»Ja«, bekräftigte ich, erleichtert, weil Elle offenbar geistesgegenwärtiger war als ich. »Der Kerl ist ein richtiger Schlägertyp. Frau Schneider, meine Zimmerwirtin, ist Jüdin. Also standen wir heute Nacht offenbar auf der Liste der Brandstifter. Wo ist Pip?«
»Noch in der Stadt unterwegs. Er feiert seinen Erfolg«, erwiderte Karine. »Konnten sich alle retten?«
»Offenbar. Doch jetzt sind wir alle hier nicht mehr sicher. Wir müssen uns sofort einen Fluchtplan überlegen.« Als ich den linken Arm um Elle legte, schmiegte sie den Kopf an meine Brust. Ich blickte zurück zum Haus, wo sich das Geräusch von Feuerwehrsirenen näherte, und spürte den Cellobogen an meinem Bein. In meinem Leben schien sich ständig dasselbe Muster zu wiederholen. Wieder hatte ich alles verloren. Nur, dass ich diesmal Elle an meiner Seite wusste.
»Wo wollt ihr hin?«, erkundigte sich Karine.
»So weit weg wie möglich. Amerika, hoffen wir.«
»Wir werden dich vermissen, Karine«, fügte Elle unter Tränen hinzu. »Du bist wie eine Schwester für mich.«
»Du für mich auch, Elle.« Karine biss sich auf die Lippe. »Was, wenn es eine Möglichkeit gäbe, damit wir zusammenbleiben können? Wärt ihr daran interessiert?«
Elle und ich sahen einander an. »Aber ja doch, Karine«, erwiderte sie. »Wir würden uns sehr freuen, wenn du mitkämst. Vielleicht können wir ja zusammen nach Amerika gehen.«
»Eigentlich hatte ich mir das eher umgekehrt gedacht. Wie ihr wisst, hat Pip mir angeboten, mich nach Norwegen mitzunehmen. Nach dem Vorfall von heute Nacht ist er sicher gern bereit, euch in diese Einladung einzuschließen. Was haltet ihr davon?«
»Ja. Oh, ja!«, rief Elle, bevor ich Gelegenheit hatte, den Vorschlag auf mich wirken zu lassen. Sie blickte mich an. »Bo, das ist ein ausgezeichneter Plan.«
Ich nickte, immer noch benommen. »Wenn Pip einverstanden ist, kommen wir sehr gern mit. Danke, Karine. Du ahnst ja gar nicht, wie viel uns das bedeutet.«
»Also abgemacht. Das Semester ist in wenigen Tagen zu Ende. Dann können wir ein Schiff nach Norwegen nehmen.«
»Nein«, widersprach ich mit Nachdruck. »Es war mein voller Ernst, dass Elle und ich bis morgen Abend verschwunden sein müssen. Für unsere … für Elles Sicherheit ist es von höchster Dringlichkeit, dass wir Leipzig sofort verlassen.« Ich warf einen vielsagenden Blick auf das Haus, in dem ich gerade noch gewohnt hatte.
»Ich verstehe«, meinte Karine. »Gleich morgen früh spreche ich mit Pip. Ihm ging es nur darum, sein Stück zur Aufführung zu bringen, und dieses Ziel hat er erreicht. Bestimmt schaffen wir es, Leipzig noch heute den Rücken zu kehren.«
»Bis dahin musst du irgendwo unterkommen, Bo«, fügte Elle hinzu. »Sicher hat Frau Fischer angesichts der Umstände nichts dagegen, wenn du in unserem Zimmer auf dem Boden schläfst. Einverstanden, Karine?«
»Natürlich.«
Zum Glück wurde das genehmigt. In Elle und Karines Zimmer nahm ich einen Holzstuhl und stellte ihn ans Fenster, fest entschlossen, mein Versäumnis von dieser Nacht wiedergutzumachen. Wäre ich nur aufmerksamer gewesen, wäre uns die Katastrophe erspart geblieben. Ich war fest entschlossen, nicht noch einmal einzuschlafen. Und so hielt ich die Stellung, bis kurz vor fünf Uhr die Dämmerung einsetzte. Erst dann legte ich mich auf den Boden, um mich ein wenig auszuruhen, denn ich war sicher, dass Kreeg am helllichten Tag keinen zweiten Anschlag unternehmen würde. Um sieben hörte ich, dass Karine losging, um mit Pip zu sprechen.
Einige Stunden später kehrte sie zurück und versicherte uns, die Familie würde uns in ihrem Haus aufnehmen. Pip sei gerade in Rektor Davissons Büro, um seine Eltern in Bergen anzurufen und sie wenigstens vorzuwarnen.
Den restlichen Tag verbrachten wir damit, in aller Eile zu packen. Ich half Elle dabei und verspürte eine eigenartige Erleichterung, weil mir diese Arbeit erspart blieb. Mein gesamtes Hab und Gut hatte sich in einen Haufen Asche verwandelt. Nur mein Cello hatte überlebt, denn ich hatte es am Vorabend im Gewandhaus gelassen. Allerdings würde ich keine Gelegenheit haben, es abzuholen, denn das war einfach zu riskant. Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich mich in Gedanken von meinen Instrumenten verabschiedete. Aber wenigstens hatte der Diamant alles heil überstanden. Als ich den Arm hob, um wie so oft danach zu tasten, schoss mir ein scharfer Schmerz durch den Ellbogen. Ich stieß einen Schrei aus.
»Oh, Bo, du musst zum Arzt«, sagte Elle. »Hier.« Sie nahm einen ihrer Schals, band ihn zu einer provisorischen Schlinge und hängte mir diese um den Hals. Danach küsste sie mich auf die Wange und streichelte mein zerschrammtes Gesicht. »Mein armer Liebling. Bald wirst du dieselbe Farbe haben wie rote Beete.«
»Und in einer Woche bin ich dann senfgelb«, erwiderte ich.
»Ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass Astrid, Pips Mutter, Krankenschwester ist«, unterbrach Karine. »Sie wird deinen Arm versorgen.«
»Schau, Bo.« Elle lächelte mühsam. »Jetzt sehen die Dinge doch schon viel rosiger aus.«
Trotz der Ereignisse des letzten halben Jahres war ich ein wenig traurig, mich so jäh und unfreiwillig aus Leipzig verabschieden zu müssen. Als Elle und ich hier eingetroffen waren, hatte ich zu träumen gewagt, dass wir nun endlich die Möglichkeit hätten, ein gemeinsames Leben zu führen. Als Musiker. Und frei von der Bürde der Vergangenheit. Allerdings hatte diese Vergangenheit mich nun wie immer eingeholt und sich offenbar mit der Gegenwart verschworen, um nicht nur mir, sondern auch Elle zu schaden.
Um meiner selbst willen schicke ich das Stoßgebet zum Himmel, dass Norwegen weit genug weg sein möge, damit Kreeg mir nichts mehr anhaben kann.