XXV

Der Hafen von Bergen, Norwegen
Silvester 1938 

Ich bitte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mir mein langes Schweigen zu verzeihen. Während ich diese Zeilen schreibe, kann ich selbst kaum fassen, dass seit meinem letzten Eintrag über eineinhalb Jahre vergangen sind. Für dieses Versäumnis ist einzig und allein mein Arm verantwortlich, denn wie sich herausstellte, hatte ich mir bei meinem »Sturz« in Leipzig nicht nur den Ellbogen ausgekugelt, sondern auch einen komplizierten Bruch zugezogen. Dass ich auf der zweitägigen Reise von Leipzig nach Bergen tapfer einige Seiten zu Papier gebracht habe, war der Genesung offenbar überdies nicht dienlich.

Nach unserer Ankunft in Norwegen kümmerte sich die wundervolle Astrid Halvorsen fürsorglich darum, dass ich sofort im Haukeland-Krankenhaus behandelt wurde. Mein Arm wurde für sechs Wochen in Gips gelegt, und man teilte mir mit, dass die Heilung mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen würde. Obwohl ich jeden Tag winzige Fortschritte mache, erweist sich das Schreiben weiterhin als schwierig. Schon oft habe ich versucht, den Ellbogen zu heben und den Stift anzusetzen, das Vorhaben jedoch wegen zu großer Schmerzen aufgeben müssen. Allerdings bin ich froh, berichten zu können, dass das Brennen und Glühen in meinem Arm inzwischen einem dumpfen Pochen gewichen ist, weshalb ich mich in der Lage sehe, meine Tagebucheinträge fortzusetzen. Was für ein Segen!

Ich werde mich bemühen, alle Ereignisse im Detail zu schildern. Denn da Sie ja weitergelesen haben, kann ich wohl davon ausgehen, dass an meiner Geschichte Interesse besteht.

Nachdem wir das Schiff über die Gangway verlassen hatten, brauchte Astrid nur einen Blick auf meinen Ellbogen zu werfen, um festzustellen, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach operiert werden müsse. Ihre Einschätzung entpuppte sich als richtig, und ich beharrte trotz aller Proteste der hilfsbereiten Familie Halvorsen darauf, die Krankenhauskosten selbst zu übernehmen. Das wiederum bedeutete, dass die Mittel aus dem Prix Blumenthal, den Monsieur Landowski uns vermittelt hatte, endgültig aufgebraucht waren.

Zum Glück kannte die Gastfreundschaft der Halvorsens keine Grenzen. In den Anfangstagen verdankten wir ihnen nicht nur ein Dach über dem Kopf und regelmäßige Mahlzeiten, sondern auch fröhliche Abende, erfüllt von Musik und Lachen. Pip und seine Eltern behandelten Elle und mich wie Familienmitglieder (was natürlich auch für Karine galt).

Pips Vater Horst ist ebenfalls Cellist und spielt im Philharmonischen Orchester Bergen. In meiner Zeit in Norwegen hatte er stets das größte Mitgefühl mit mir, weil ich meinen Streicharm nicht mehr richtig heben kann. Er ist einfach zu steif, weshalb ich nie an den abendlichen Hauskonzerten teilnehmen konnte, die uns bald zur Gewohnheit wurden. Pip spielte Klavier, Karine Oboe, Elle – abhängig vom Stück – Flöte oder Bratsche und Horst das bereits erwähnte Cello. Abgrundtiefe Trauer überkam mich, wann immer ich ihnen beim Spielen lauschte.

Die ersten Monate in Norwegen waren genau das, was wir nach dem überstürzten Aufbruch aus Deutschland brauchten. Hier fühlten Elle und ich uns sicher. Vielleicht ist Norwegen eines der schönsten Länder der Erde. Während meiner kurzen Zeit dort habe ich dunstverschleierte Berge bewundert und mächtige Flüsse bestaunt, die in der endlosen Ferne verschwinden. Im Fjellstrekninger, Bergens Park, zu wandern bereitet mir großes Vergnügen. Dann nehme ich Skizzenbuch und Stifte mit und versuche, etwas von der prachtvollen Natur dieses Landes auf Papier zu bannen – so weit mein Arm das zulässt. Selbst die Luft hier hat etwas Sauberes. Sie ist so frisch, kühl und duftend, dass sie beinahe berauschend wirkt.

Allerdings war mir klar, dass wir den Halvorsens nicht ewig zur Last fallen konnten. Ganz gleich, wie freundlich sie Elle und mich auch aufgenommen hatten, änderte das nichts an der Tatsache, dass wir keine Familienmitglieder, sondern Flüchtlinge waren. In Paris hatte ich mich von Monsieur Landowski durchfüttern lassen, und in Leipzig hatten wir dank des Prix Blumenthal keine Not gelitten. Nun jedoch war ich fest entschlossen, mich und Elle aus eigener Kraft zu ernähren.

Auf meinen Spaziergängen durch das Hafenviertel von Bergen war mir der Seekartenladen aufgefallen, der den Namen Scholz und Scholz trug. Ich wusste aus meinen Gesprächen mit Horst, dass der Besitzer schon älter und Deutscher war. Sein Sohn hatte Norwegen vor Kurzem verlassen, um sich in Deutschland der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen, was den alten Herrn sehr bedrückte. Ich war ziemlich sicher, dass er mich unter diesen Umständen trotz meines verletzten Arms als Gehilfen einstellen würde. Schließlich ist mein Wissen über die Sterne, um mich einmal selbst zu loben, unübertroffen.

Zu meiner Freude entpuppte sich meine Vermutung als richtig, sodass ich nun bei Herrn Scholz beschäftigt bin. Der Kartograf ist ein netter älterer Herr, dessen Frau die schwarze Magie des Pumpernickelbackens beherrscht. Offen gestanden habe ich nicht viel zu tun. Ich bin nicht für das Zeichnen der Karten verantwortlich, sondern arbeite Herrn Scholz nur zu. Das Gehalt ist entsprechend gering, doch da ich mich als angenehmer Zeitgenosse erwiesen habe, haben er und seine Frau mir die früher von seinem Sohn bewohnte kleine Wohnung über dem Laden angeboten, als sie von meinen Verhältnissen erfuhren. Natürlich habe ich sofort zugegriffen und gefragt, ob »meine Frau« auch einziehen dürfe. Sie waren einverstanden, unter der Bedingung, dass Elle Frau Scholz beim Saubermachen hilft.

Anfangs befürchtete Elle, Karine könnte neidisch werden. Sie und Pip haben einige Monate nach der Ankunft in Bergen ihre Heiratspläne bekannt gegeben und wollen so schnell wie möglich bei den Halvorsens ausziehen.

»Sie wollen endlich miteinander allein sein.« Elle seufzte.

»Sicher ist es bald so weit«, erwiderte ich. »Wenn Pip das Vorspielen besteht, wird er wie Horst mit den Philharmonikern auftreten. Dann wird es nicht lange dauern, bis das Geld für ein eigenes Haus reicht.«

»Bestimmt hast du recht.« Sie nahm meine Hand. »Meinst du, wir könnten eines Tages auch …?« Elle zögerte. Seit der Verlobung unserer Freunde schien sie es zu bedauern, dass nicht auch wir in den Hafen der Ehe einlaufen würden, obwohl sie es nie direkt ansprach.

Ich griff nach ihren Händen. »Mein Liebling, die einzige Gewissheit in unserem Leben ist, dass wir für immer zusammenbleiben werden. Wir heiraten, sobald wir genügend Geld haben und wirklich in Sicherheit sind, das verspreche ich dir.«

Und so leben Elle und ich nun schon seit eineinhalb Jahren zusammen wie »Mann und Frau«. Glückseligkeit ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Die Abende verbringen wir in unserer kleinen Wohnung, wo wir uns vor dem Holzofen aneinanderkuscheln und über das Meer bis zu den Häuschen auf dem Hügel schauen. Nachts schimmern die Fenster warm und so gelb wie geschmolzene Butter. In unserem Nest und weitab vom Rest der Welt ist es leicht zu vergessen, wovor wir geflohen sind.

Ich gebe mir Mühe, in der Gegenwart zu leben, ebenso wie unsere Freunde Pip und Karine. Sie haben vor einem Jahr am Heiligabend 1937 geheiratet. Karine ist zum Protestantismus konvertiert, weil Pip der evangelischen Kirche angehört. Als sie diesen Schritt mit Elle besprach, meinte sie nur: »Ein paar Tropfen Wasser und ein Kreuz auf der Stirn machen mich im Herzen noch lange nicht zur Christin.« Dennoch werden ihr neuer Nachname und die Papiere sie schützen, falls die Nazis irgendwann an Norwegens Küste landen sollten, was weiterhin möglich scheint.

Pip war beim Vorspielen erfolgreich. Jetzt spielt er mit seinem Vater im Philharmonischen Orchester Bergen. Wann immer ich einen Anflug von Neid verspüre, halte ich mir vor Augen, dass er mir das Leben gerettet hat. Ganz zu schweigen davon, dass er genau der Richtige für diese Stelle ist. Neben seiner Tätigkeit bei den Philharmonikern arbeitet er wie ein Besessener an seinem Konzertdebüt und will die Partitur niemandem zeigen, bevor die Komposition nicht fertig ist. Er sagt, er werde das Stück seiner Frau widmen. Ich bezweifle nicht, dass mein Freund ein Meisterwerk schaffen wird.

Im Frühling 1938 konnten Pip und Karine genug Geld zusammenkratzen, um ein Haus in Teatergaten, nur einen Katzensprung entfernt vom Konzertgebäude, zu mieten. Als Karine mich bat, ein Klavier fürs Wohnzimmer auszusuchen, habe ich mir größte Mühe gegeben, um das beste Instrument aufzutreiben, das ihr Budget hergab. Das Einweihungsgeschenk, das Elle und ich den beiden überreichten, war ein wenig bescheidener: ein handgearbeiteter Hocker für das neue Klavier. Ich habe ihn trotz meiner Einschränkung selbst geschnitzt, und Elle hat den Sitz gepolstert. Es ist zwar kein teures Stück, aber mit viel Liebe gemacht.

Kurz darauf verkündete Karine, dass sie ein Kind erwartete, und im November wurde der kleine Felix Halvorsen geboren. Als wir das Baby zum ersten Mal sahen, bemerkte ich, dass ein sehnsüchtiger Blick in Elles Augen trat. Ich nahm ihre Hand.

»Eines Tages«, versprach ich ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Wir sind beide nicht so naiv zu glauben, dass wir hier für immer vor Kreeg und den Nazis sicher sein werden. Wie sollten wir auch, nach allem, was wir durchgemacht haben? Jeden Moment kann die Katastrophe über uns hereinbrechen. Entweder in Form eines Krieges oder eines Mannes, der mir den Tod wünscht. Vielleicht tritt beides ein.

Die Zeitungen zu lesen bereitet derzeit ziemlich wenig Vergnügen, denn die Spannungen in Europa steigern sich von Tag zu Tag. Im März kam es zum Anschluss Österreichs an Deutschland. Im September gab es einen Hoffnungsschimmer, dass sich ein bewaffneter Konflikt noch abwenden ließe. Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien unterzeichneten das Münchner Abkommen, in dem das eigentlich tschechische Sudetenland dem deutschen Reich zugeschlagen wurde. Dafür versprach Hitler, keine weiteren Gebietsansprüche zu stellen. Inzwischen aber, nur drei Monate später, glaubt niemand, dass dieses Abkommen Bestand haben wird.

Da wir weiterhin versuchen, einzig im Hier und Jetzt zu leben, haben Pip, Karine, Elle und ich eine Reise auf einem Hurtigruten-Schiff gebucht, die uns entlang der prachtvollen Westküste Norwegens führen wird, um an Bord den Anbruch des Jahres 1939 zu feiern. Der Vorschlag kam von mir, denn wir werden unterwegs atemberaubende Naturschauspiele zu sehen bekommen. Das beeindruckendste von ihnen ergießt sich über die Felsen in den Geirangerfjord: die Wasserfälle namens Die Sieben Schwestern.