XXVI

Es ist unmöglich, die überwältigenden Eindrücke, die ich an Bord des Kreuzfahrtschiffs genießen durfte, in die richtigen Worte zu fassen. Die feierliche Ruhe und Pracht der Wasserfälle und die überwältigende Anmut der sich darin spiegelnden Lichtfunken angemessen beschreiben zu wollen übersteigt das menschliche Sprachvermögen. Dennoch kann ich nicht anders, als mein Tagebuch aufzuschlagen, um meiner Leserschaft wenigstens einen Hauch des Staunens zu vermitteln, das ich derzeit empfinde.

Gegen elf Uhr vormittags umrundete das Schiff die Biegung des Geirangerfjords, und die Sieben Schwestern kamen in Sicht. Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich vor kindlicher Vorfreude Schmetterlinge im Bauch hatte, als das Schiff sich immer näher an die Wasserfälle heranschob, bis ich dicht vor dem beeindruckendsten Naturschauspiel stand, das ich je gesehen habe. An der felsigen Klippe des Fjords führten sieben schimmernde Pfade aus weißem Eis nach oben, aus denen sich dünne Verästelungen bis in die Unendlichkeit verzweigten. Etwas Derartiges hatte ich noch nie zuvor erblickt. Die gefrorenen Wasserläufe schienen mir den seidigen Locken der Schwestern zu gleichen, die in einem kosmischen Wind wehten. Elle, die spürte, wie überwältigt ich war, griff nach meiner Hand.

»Es ist wirklich atemberaubend, Liebling«, meinte Karine zu Pip und umarmte ihn, bevor sie sich an uns wandte. »Warum nennt man die Wasserfälle ›Die Sieben Schwestern‹?«

»Das kann Bo dir beantworten«, erwiderte Elle und lächelte mir zu.

»Ja, natürlich«, sagte ich. »Der Legende zufolge tänzeln die sieben Wasserläufe – die Schwestern – den Berg hinunter und ›flirten‹ dabei mit dem Wasserfall dort drüben.« Ich wies auf einen einzelnen Wasserfall auf der anderen Seite des Fjords. »Man nennt ihn den ›Freier‹. Wie ich gestehen muss, gehört diese Legende, die sich um die Sieben Schwestern rankt, nicht zu meinen Lieblingsgeschichten. Doch ihr Aussehen, das sämtliche Zeiten und Kulturen überdauert, fasziniert mich trotz allem.«

»Bitte erzähl weiter, Bo«, forderte Pip mich mit offenbar ehrlichem Interesse auf.

»Jede Kultur hat ihre eigenen Sagen. Seit Jahrtausenden sind uns die Sieben Schwestern nun schon in Form einer berühmten Sternenkonstellation gegenwärtig, die auf der ganzen Welt bewundert und bestaunt wird. Geschichten über die Sieben Schwestern wurden durch mündliche Überlieferung, Gedichte, Kunstwerke, Musik und Gebäude weitergegeben. Sie sind in jede Facette unserer Welt eingebettet.«

»Weißt du was, Bo d’Aplièse?«, meinte Pip. »In den drei Jahren, die ich dich jetzt kenne, habe ich dich noch nie so viel am Stück reden gehört!« Damit lag er nicht falsch, und wir alle fingen an zu lachen.

Auf der Überfahrt von Tromsø wurde die See irgendwann so rau, dass Karine beschloss, in ihre Kabine zu gehen. Elle erbot sich, sie zu begleiten. Da man hier laut Aussage des Stewards den besten Blick auf die Nordlichter hatte, blieben Pip und ich noch eine Weile an Deck.

»Du hast vorhin so begeistert von den Sieben Schwestern erzählt. Woher kennst du dich eigentlich so gut mit den Sternen aus?«, fragte er.

»Mein Vater war Lehrer.«

»Ach, wirklich? Was hat er denn unterrichtet?«

Ich hielt es für ungefährlich, Pips Neugier zu befriedigen. »Musik und klassisches Altertum. Dazu gehörten Philosophie, Anthropologie, Kunst, Geschichte und außerdem Astrologie und Mythologie. Das Verhältnis zwischen den letzten beiden Fachgebieten hat ihn besonders fasziniert.« Ich musste lächeln, als ich daran dachte. »Und natürlich hat er dieses Interesse an mich weitergegeben.«

»War das in Paris?«, hakte Pip nach.

»Äh, ja, in Paris. Er hat als Privatlehrer … wohlhabende Schüler unterrichtet.« Der Zusatz war nicht einmal gelogen.

Pip grinste mich an. »Das erklärt, warum du so schlau bist, Bo. Ich muss dir neidlos zugestehen, dass du viel klüger bist als ich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Mein Freund, ich bin derjenige, der dich beneidet! Schau dir doch nur dein Leben mit ein bisschen Abstand an. Du spielst bei den Bergener Philharmonikern! Dein Heldenkonzert wird ein unfassbarer Erfolg werden. Und außerdem hast du eine wundervolle Familie«, widersprach ich mit Nachdruck. »Der kleine Felix vermisst euch heute bestimmt.«

Pip lehnte sich an die Reling. »Bestimmt fühlt er sich bei bestemor und bestefar pudelwohl. Danke für deine wohlwollenden Worte, Bo. Auch wenn wir beide wissen, dass wir miteinander im Orchestergraben spielen würden, wenn dein verdammter Arm nicht wäre.«

Ich lächelte. »Vielleicht in einem anderen Leben.«

Wehmütig schaute Pip über das schwarze Wasser. »Ich liebe Karine so sehr, Bo. Ich fühle mich wie der größte Glückspilz auf Erden.« Er griff in die Tasche und holte ein winziges Figürchen heraus. »Als ich nach Leipzig ans Konservatorium ging, hat mein Vater mir das hier gegeben.«

»Was ist das?«, fragte ich.

»Das, mein Freund, ist ein Glücksfrosch. Behauptet wenigstens mein Vater. Angeblich hatte Edvard Grieg diese Frösche überall in seinem Haus stehen, damit sie ihm Glück bringen. Er soll meiner Großmutter Anna gehört haben. Hier.« Er reichte ihn mir. »Ich schenke ihn dir.«

»Mein Gott, Pip, das kann ich unmöglich annehmen. Es ist ein Familienerbstück.«

»Bo, der Frosch hat mir alles Glück der Welt gebracht. Also ist es nur recht und billig, wenn ich ihn weitergebe, damit ein anderer etwas davon hat.« Er hielt einen Moment inne. »Ich wünsche dir und Elle ein angstfreies Leben.«

Ich war tief gerührt. »Pip, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke.«

»Gern geschehen. Aber jetzt sollte ich wirklich zu Karine gehen. Sie ist entsetzlich seekrank. Bleibst du noch hier draußen?«, fragte er.

»Die ganze Nacht, wenn es sein muss, um die Nordlichter zu sehen.«

Pip klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und ging unter Deck.

Gebannt starrte ich in den kristallklaren nächtlichen Himmel. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Wahrscheinlich waren es einige Stunden, die ich im Licht der Sterne badete und mit meinen funkelnden Beschützerinnen Zwiesprache hielt.

Nach einer Weile waren die Plejaden nicht mehr zu sehen. Ich blinzelte heftig, und als ich die Augen wieder aufschlug, war der Himmel über mir mit einer schimmernden und schillernden Schicht bedeckt, die dort oben zuckte und tanzte. Ehrfürchtig verharrte ich in ihrem gleißenden Schein und bestaunte das Leuchten und Strahlen. Was für ein Privileg es doch war, der gewaltigen kosmischen Schönheit unseres Universums gewahr werden zu dürfen, das so viel größer war als jedes von Menschenhand erschaffene Kunstwerk und Gebäude.

Nach einigen Minuten verschwand das Polarlicht so schnell und geheimnisvoll, wie es gekommen war. Ich konnte gar nicht anders als vor Verzückung in lautes Lachen ausbrechen. Ich riss sogar die Arme hoch und rief »DANKE!«, womit ich einigen sterneninteressierten Mitreisenden an Deck einen ziemlichen Schrecken einjagte.

Bald würden wir umkehren und zurück nach Bergen fahren. Nach einer Weile ging ich unter Deck, um Elle zu wecken und ihr zu erzählen, was ich gesehen hatte. Der Weg zu unserer Kabine führte mich durch den Speisesaal, wo Pip und Karine sich gerade an den Frühstückstisch setzten. Ich lief zu ihnen hinüber.

»Mein Freund, ich habe sie gesehen! Ich habe das Wunder gesehen! Die majestätische Pracht genügt, um auch den eingefleischtesten Zweifler davon zu überzeugen, dass es eine höhere Macht geben muss. Die Farben … Grün, Gelb, Blau … der ganze Himmel hat gestrahlt!« Meine Worte überschlugen sich. Bevor ich die Sprache wiederfand, streckte ich die Arme nach Pip aus und drückte ihn fest an mich, was ihn vermutlich sehr überraschte. »Danke«, sagte ich. »Danke.«

Ich fühlte mich wie schwerelos, als ich beschwingten Schrittes nach unten in meine Kabine lief, wo Elle friedlich schlafend im Bett lag.

Niemals werde ich die Nacht vergessen, als der Himmel für mich tanzte.