XXVII

Inverness, Schottland
April 1940 

Wenn ich nun die Seiten lese, auf denen ich die Kreuzfahrt, die Polarlichter und die Wasserfälle schildere, treten mir Tränen in die Augen, denn ich habe auch über unsere allerliebsten Freunde geschrieben, die nun nicht mehr … Verzeihen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ich greife meiner Erzählung vor.

Diesmal brauche ich mich nicht dafür zu entschuldigen, dass mein letzter Eintrag über ein Jahr her ist. Nach unserer Kreuzfahrt Neujahr 1939 fühlte ich mich beschwingt und konnte dank meines stetig heilenden Ellbogens die Seiten bis auf die letzte Zeile mit meinen Erinnerungen füllen. Leider jedoch muss ich Ihnen mitteilen, dass die Geschichte sich wiederholte, weshalb jene Seiten in der Wohnung über dem Seekartenladen in Bergen zurückgeblieben sind. Elle und ich mussten wieder einmal fliehen.

Am 9. April 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht in Norwegen ein. Der Überfall traf das Land völlig überraschend, denn die norwegische Kriegsmarine war damit beschäftigt, den Engländern bei der Blockade des Ärmelkanals beizustehen. Die Schlacht um Bergen war kurz und blutig. Und so war Bergen bald eine besetzte Stadt. Soldaten patrouillierten durch die Straßen, und am Rathaus wehten riesige Hakenkreuzfahnen. Natürlich strichen die neuen Machthaber sämtliche kulturellen Veranstaltungen, so zum Beispiel die Premiere von Pips Heldenkonzert.

In den Wochen vor dem Einmarsch war Karine außer sich vor Angst. Sie flehte Pip an, Europa zu verlassen, doch ihr Mann beharrte darauf, bleiben zu wollen. Einige Male erschien sie in Tränen aufgelöst bei uns.

»Er glaubt, mein neuer Nachname und die protestantische Taufe würden mich schützen. Sosehr ich ihn auch liebe, er kann entsetzlich naiv sein. Die Soldaten brauchen mich doch nur anzuschauen, um Verdacht zu schöpfen. Dann müssen sie bloß noch ein bisschen nachforschen, und dann …« Karine schlug die Hände vors Gesicht. Doch im nächsten Moment zeigte sie auf Elle. »Du solltest auch Angst haben. Deine blonden Haare und blauen Augen werden dich nicht für immer schützen. Wir Juden sind in Europa nicht sicher.«

»Ich weiß, Karine«, erwiderte Elle. »Wir schmieden bereits Pläne.«

»Und damit habt ihr völlig recht, ganz gleich, was Pip sagt. Man darf die Gründlichkeit dieser Leute nicht unterschätzen. Sie werden keine Mühe scheuen, um uns aufzuspüren. Außerdem ist der kleine Felix Halbjude. Was, wenn sie ihn mir wegnehmen?«

Elle umarmte ihre Freundin. »Meine liebste Karine. Ich wage kaum, mir auszumalen, welche Angst du ausstehst. Doch dein Mann würde sein Leben opfern, um seinen Sohn zu retten. Ich bin sicher, dass Pip alles unternehmen wird, um ihn zu schützen.«

Karine brach in Tränen aus. »Ich würde das ja so gern glauben, Elle.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber er denkt nur an das Heldenkonzert. Meine Eltern haben uns angefleht, zu ihnen nach Amerika zu kommen. Sie haben sogar Geld geschickt. Aber Pip schaltet auf stur. Er beharrt darauf, dass er in einem fremden Land nur einer von vielen Möchtegernkomponisten wäre. Hier ist er der große Jens Halvorsen

»Meinst du wirklich, dass ihm seine Berühmtheit wichtiger ist als euer Leben?«

»Ich weiß nicht, was ich sonst denken soll. Er besteht darauf, dass in Norwegen keine Gefahr droht, weil das Land im letzten Krieg neutral geblieben ist. Doch wir kennen diese Leute, Elle. Sie werden niemals Ruhe geben. Ich bin überzeugt, dass sie sich hier breitmachen werden. Und dann müssen wir bereit sein.«

Wir waren bereit. In der Nacht, als die Deutschen kamen, flüchteten Elle und ich uns zusammen mit der gesamten Familie Halvorsen hinauf in die Hügel von Froskehuset. Ich hatte für diesen Moment vorgesorgt, indem ich mir die Dienste eines Fischers namens Karl Olsen gesichert hatte. Karls Schiff lag im Hafen von Bergen, und er war einverstanden, uns ins sichere Großbritannien zu bringen. Er war ein guter, freundlicher Mensch, und ich hatte mich in meiner Zeit bei Scholz und Scholz fast täglich mit ihm unterhalten. Allerdings muss ich hinzufügen, dass Karl nicht nur aus reiner Nächstenliebe handelte, denn ich versorgte ihn schon seit eineinhalb Jahren mit kostenlosen Seekarten.

Am ersten Morgen der Besatzung stand ich früh auf und ging zum Hafen, wo Karl sich gerade an die Arbeit machte. Er versprach mir hoch und heilig, in vierundzwanzig Stunden da zu sein, um uns nach Schottland zu bringen.

Ich erstattete Elle Bericht. »Wir müssen es Pip und Karine sagen«, flehte sie.

Ich zögerte. »Karine, ja. Doch Pip und seine Eltern … je mehr Menschen davon wissen, desto höher die Gefahr, dass man uns schnappt.«

Sie ließ sich nicht überzeugen. »Bo, wir müssen ihnen vorschlagen mitzukommen.«

»Selbstverständlich müssen wir das. Aber du kennst ja Pips Sturkopf. Eine dramatische Szene hätte uns gerade noch gefehlt. Versprich mir, dass du zuerst mit Karine sprichst, um vorzufühlen, was sie von der Sache hält.«

An unserem letzten Abend in Norwegen trafen wir uns mit den Halvorsens. Während ich mit Astrid und Horst plauderte, nahm Elle Karine beiseite. Ich beobachtete ihre Gesichter, als Elle ihr von unserem unmittelbar bevorstehenden Aufbruch erzählte. Mit anzusehen, wie die beiden Freundinnen sich schluchzend zum Abschied umarmten, zerriss mir fast das Herz.

»Was hat Karine gesagt?«, erkundigte ich mich auf dem Weg zu der kleinen Jagdhütte, in der wir vorübergehend untergekommen waren.

»Sie hat mir versprochen, hier auf mich zu warten. Ich soll ihr schreiben, sobald wir in Schottland sind.«

»Sie wollte also nicht mitkommen?«

Elle schüttelte den Kopf. »Sie sagte, für Pip käme es auf keinen Fall infrage, und sie würde lieber sterben, als ihn zu verlassen.« Ich nahm Elles Hand. Schweigend dachten wir darüber nach, zu welchem Schicksal Pip seine Frau verdammte.

Am nächsten Morgen um Punkt fünf trafen Elle und ich uns mit Karl am Hafen. Wir gingen an Bord seines Kutters und brachten die unruhige, aber ansonsten ereignislose Überfahrt nach Inverness in Schottland hinter uns. Während der fast den ganzen Tag dauernden Reise betete ich, dass wir keinem Kriegsschiff begegnen würden. Doch die Plejaden waren uns gewogen, und wir hatten freie Fahrt bis nach Großbritannien. Ich drückte Elle fest an mich, während wir beide uns in Gedanken von unserem alten Leben verabschiedeten. Dass uns das zur traurigen Gewohnheit geworden war, machte es nicht leichter. Mir war klar, wie sehr Elle darunter litt, denn Karine bedeutete ihr viel, und es stand fest, dass wir unsere Freunde in einer gefährlichen Lage zurückließen. Doch die einzige Alternative wäre gewesen, Karine und den kleinen Felix gewaltsam zu entführen.

»Denk dran, dass du uns an einer einsamen Stelle absetzen musst, Karl. Wir haben keine Papiere.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Problem, Bo. Wir finden schon einen menschenleeren Strand. Wenn ich mich recht erinnere, gibt’s in der Gegend eine Menge davon. Aber vergiss nicht, dass ihr ans Ufer waten müsst.« Elle und ich wechselten einen besorgten Blick.

Nach kurzer Suche entdeckte Karl eine passende Stelle und lenkte den Kutter so nah wie möglich ans Ufer.

»Besser geht’s nicht.« Er zuckte mit den Achseln. »Also, rein mit euch ins Nasse.« Ich nickte und kletterte dann widerstrebend über die Bordwand ins eiskalte Wasser, das mir bis zu den Oberschenkeln reichte.

»Du liebe Güte«, stöhnte ich erschrocken auf. »Am besten trage ich dich, Elle. Nimm unsere Sachen.« Sie griff nach der Ledertasche, die alles enthielt, was wir auf die Schnelle hatten einpacken können. Dann half Karl ihr in meine Arme.

»Wenn du kannst, richte Karine bitte aus, dass wir es geschafft haben!«, rief Elle ihm zu. »Ich schreibe ihr!«

Karl reckte den Daumen hoch. »Viel Glück, ihr beiden. Und noch mal danke für die Karten, Bo.«

»Dir auch vielen Dank für alles, Karl. Bist du sicher, dass du nicht auch aussteigen willst?«

Er lachte auf. »Bergen ist meine Heimat. Ich will zurück und etwas dazu beitragen, die ungebetenen Gäste zu vertreiben. Ich bin sicher, dass die Norweger das hinkriegen.« Mit diesen Worten warf er den Motor an und machte sich auf den Rückweg.

Langsam watete ich aus dem Wasser zum hellen Sandstrand, wo ich Elle sacht auf die Füße stellte.

»Danke, mein Liebling«, sagte sie erleichtert.

Der Tag war grau und windig, was zu der kargen Küste passte. Ich ließ die Umgebung auf mich wirken. Im Gegensatz zur norwegischen Landschaft, die malerisch und friedlich war, empfand ich Schottland auf den ersten Blick als felsig und schroff, allerdings als nicht minder schön. Die steinigen Klippen, die mit Gras bewachsenen Hügel und der düstere Himmel waren ziemlich beeindruckend. Wir stiegen auf eine Düne, hinter der wir eine leere Straße erreichten.

»Ich glaube, der Fußmarsch nach Inverness dürfte nicht zu lange dauern«, mutmaßte ich. »Vom Wasser aus betrachtet schienen es höchstens drei Kilometer zu sein.«

Eine knappe Stunde später hatten wir die große Küstenstadt erreicht, die sich selbst als »das Herz der Highlands« bezeichnete. Ich weiß zwar nicht, was ich erwartet hatte, aber die Stadt war praktisch menschenleer. Ich hatte den leisen Verdacht, dass die Wehrpflicht dahintersteckte, die an dem Tag in Kraft getreten war, als der britische Premierminister Neville Chamberlain Deutschland den Krieg erklärt hatte. Voller Bedauern malte ich mir das Schicksal der Familien in Kleinstädten wie dieser aus. Sie hatten die ganze Wucht dieser Entscheidung zu tragen, denn die Einwohnerzahl hatte sich dadurch mehr oder weniger halbiert.

Im Stadtzentrum angekommen, standen wir vor dem Schloss aus rotem Sandstein, das majestätisch am Ufer des Flusses Ness aufragte. Wie ich mich erinnerte, hatte Macbeth in Shakespeares gleichnamigem Stück hier König Duncan getötet. Bei diesem Gedanken lief mir ein leichter Schauder den Rücken hinunter.

Als wir die kopfsteingepflasterte Hauptstraße erreichten, war meine Hose zum Glück getrocknet, auch wenn ich das nicht von meinen Schuhen behaupten konnte. Meine Füße fühlten sich an wie Eisklumpen, weshalb ich so schnell wie möglich ins Warme wollte. Zum Glück entdeckten wir bald ein verwittertes altes Schild, das über uns im kräftigen Wind hin und her schwang. Die Aufschrift lautete:

SHEEP HEID INN

Fremdenzimmer

»Was meinst du?«, fragte ich Elle.

Sie nickte erfreut. »Lass uns reingehen.«

Also öffneten wir die Tür des windschiefen Reihenhauses und traten ein. Drinnen war es eng und dunkel. Nur eine schummerige Glühbirne erleuchtete die Rezeption. Als ich schüchtern auf die Glocke schlug, erschien ein älterer Herr mit Buckel und Brille aus dem Schankraum nebenan.

»Ja?«, wandte er sich an mich.

»Guten Tag, Sir. Haben Sie vielleicht ein freies Zimmer für meine Frau und mich?«

Er beäugte mich argwöhnisch. »Für wie lange?«, erkundigte er sich in starkem Akzent.

»Mindestens für ein paar Nächte, möglicherweise auch länger.«

Der Mann zog die Augenbraue hoch. »Was haben Sie in Inversneckie zu tun?«

»Verzeihung, wo bitte?«

Ich erntete ein Augenrollen. »In Inverness. Weshalb sind Sie in der Stadt? Sie klingen nicht, als wären Sie von hier.«

»Sie haben ein beeindruckendes Gehör. Wir sind Franzosen und wollen unsere kranke schottische Großmutter besuchen.«

»Ach ja. Und wo wohnt diese Großmutter?«, bohrte er weiter.

»Munlochy«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. Auf unserem Fußmarsch hatte ich einen Wegweiser dorthin gesehen und mir den Namen wegen seines hübschen Klangs eingeprägt. Der Wirt schien sich damit zufriedenzugeben.

»Ein Doppelzimmer also. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Mr Chamberlain möchte nämlich, dass wir alle auf fremde Gesichter achten.«

»Und das zu Recht, Sir.«

Er zeigte uns unser Zimmer, das schäbig und beinahe so feucht war wie das Wetter draußen. Die Matratze war grauenhaft dünn, und als ich wagte, mich kurz hinzulegen, um mich auszuruhen, attackierte eine Armee aus Metallfedern meinen Rücken. Zum Glück spiegelte der Preis der Unterkunft den mangelnden Komfort wider, riss dennoch ein beträchtliches Loch in unsere schmale Reisekasse.

»Wir müssen an unserem Akzent arbeiten, mein Liebling«, sagte ich, als Elle sich neben mir auf dem Bett ausstreckte. »Wie wir gerade erfahren haben, klingen wir für die Leute hier fremdartig. Wir wollen auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn uns jemand für Spione hält.«

Sie rollte sich zu mir herum und sah mich an. »Du hast recht. Aber was können wir tun?«

»Wenn wir für längere Zeit hierbleiben wollen, schlage ich vor, dass wir zuerst unsere Namen ändern. Vielleicht nenne ich mich statt Bo …« Ich überlegte kurz. »Bob!«

Elle verzog das Gesicht. »Ich könnte dich niemals mit Bob anreden, ohne zu grinsen anzufangen. Was hältst du von Robert?«

Ich ließ den Vorschlag auf mich wirken. »Gut, dann heiße ich ab jetzt Robert. Und wie findest du Elle … Eleanor?«

Ihre missbilligende Miene wich einem leisen Lächeln. »Gut, dann sind wir ab jetzt Robert und Eleanor. Und was ist mit dem Nachnamen? D’Aplièse ist, gelinde gesagt, etwas ungewöhnlich.«

»Stimmt. Wir dürfen unter gar keinen Umständen auffallen, insbesondere nicht wegen der Wehrpflicht. Ich bin jung, weshalb sich die Leute fragen könnten, warum ich nicht eingezogen wurde.« Verzweifelt seufzte ich auf. Die ständige Unsicherheit machte mich allmählich mutlos.

»Bo, selbst wenn du kämpften wolltest, würden sie dich nicht nehmen. Du kannst ja noch immer kaum einen Cellobogen halten, geschweige denn ein Gewehr«, erinnerte mich Elle. »Das würde dir jeder Arzt sofort bescheinigen.«

Ich lachte bitter. »Tja, einen Vorteil muss die Sache schließlich haben.«

Elle drehte sich wieder auf den Rücken und starrte an die Decke. »Wenn uns jemand nach unserer Vergangenheit oder danach fragt, was wir in Großbritannien wollen, erzählen wir am besten, dass wir jüdische Flüchtlinge sind, die wegen des drohenden Einmarsches der Deutschen aus Frankreich fliehen mussten. Das würde auch unseren Akzent erklären. Und bei einem von uns beiden trifft es ja zu.«

»Du hast recht.« Nachdenklich massierte ich mir die Schläfen. »Wir müssen nur eine abgelegene Gegend auf dem Land finden, wo wir untertauchen können.«

»Und unseren Lebensunterhalt bestreiten«, ergänzte Elle.

»Was ist mit den Highlands? Wir könnten sogar noch weiter nach Norden gehen. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht wie in Bergen weitermachen und als Paar irgendwo anheuern sollten. Vielleicht bekommen wir ja Arbeit in der Landwirtschaft. Dort wird wegen des Krieges sicher jede Hand gebraucht.«

Elle setzte sich auf und blickte durch das schmutzige Fenster hinaus auf die trostlose Straße. »Ich vermisse unsere kleine Wohnung mit Aussicht auf den Hafen von Bergen. Dort hätte ich für immer mit dir bleiben können.«

»Ich auch. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir aus einem bestimmten Grund hier sind. In diesem Land sind wir vermutlich sicher vor den Deutschen. Die britischen Streitkräfte sind gut aufgestellt, und die Bevölkerung ist wehrhaft.« Ich nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Wir kriegen noch unser Happy End, das verspreche ich dir, mein Liebling.«

Während Elle den Nachmittag damit verbrachte, einen Brief an Karine zu schreiben, nutzte ich die Gelegenheit und erkundete die Stadt. Trotz des rauen Klimas hatte Inverness einen idyllischen Charme. Als ich mir die Stadt im Hochsommer und zu Friedenszeiten vorstellte, wenn es in den Highlands von Sommerfrischlern wimmelte, sah ich sie sofort mit anderen Augen. Ich schlenderte den Ness entlang, der die Stadt in zwei Hälften teilt und die Nordsee mit dem berühmten Loch Ness verbindet. Auf dem Rückweg zum Gasthof kam ich an zahllosen kleinen Cafés vorbei, von denen jedes damit warb, das beste schottische Frühstück der Stadt zu servieren. Als ich einen Blick auf die ausgehängten Speisekarten riskierte, stellte ich fest, dass meistens eine Portion Black Pudding dazugehörte, eine Art Blutwurst, wenn ich nicht irre. Die Briten haben wirklich einen eigenartigen Geschmack.

Nachdem Elle und ich den Brief nach Norwegen abgeschickt hatten, ließen wir uns für den Rest des Abends im Schankraum des Sheep Heid Inn nieder. Im Gegensatz zu unserem Zimmer war es in der Gaststube an diesem Abend verhältnismäßig gemütlich. Wir saßen auf einer alten Holzbank und blickten in das hell und kräftig lodernde Kaminfeuer. Als es draußen Nacht wurde und der Barmann anfing, für den Fall eines Luftangriffs Verdunkelungsvorhänge anzubringen, stand ich auf, um ihm zu helfen.

»Danke, Kumpel«, sagte er lächelnd. »Darf ich Ihnen einen Whisky anbieten?«

Ich zögerte. Gewiss erinnert sich die werte Leserschaft an meinen Widerwillen gegen Alkohol. Allerdings hatte ich an diesem Tag schon bis zu den Oberschenkeln in der Nordsee gestanden. Die Kälte steckte mir immer noch in den Knochen, weshalb ich beschloss, wegen der bekanntermaßen wärmenden Wirkung des Getränks eine Ausnahme zu machen.

Die bernsteinfarbene Flüssigkeit brannte, doch ich kann nicht leugnen, dass sie ausgezeichnet schmeckte. Außerdem breitete sich bald eine wohlige Gelassenheit in mir aus. Elle und ich bekamen an diesem Abend verschiedene Sorten Single Malt zu kosten. Hamish, der freundliche Barmann, hatte offenbar seinen Spaß daran, zwei »französische« Flüchtlinge in die höheren Weihen des schottischen Whiskykults einzuführen, eines Getränks, das dem Wein natürlich haushoch überlegen sei. Besorgt stellte ich fest, wie sehr ich den Whisky genoss, und nahm mir vor, in nächster Zeit die Finger davon zu lassen.

Die folgenden Tage verbrachten wir damit, uns in diesem neuen Land einzugewöhnen. Ich stellte fest, dass die Menschen nach einer anfänglichen Auftauphase freundlich, offen und fröhlich waren. Nur das Essen erwies sich als gewaltige Hürde, die es zu überwinden galt. Offenbar ernährten die Briten sich hauptsächlich von Fleisch und Kartoffeln mit brauner Sauce. Es war mir rätselhaft, wie sie so viele berühmte Sportler hervorbringen konnten.

An unserem fünften Abend in Inverness gingen wir in ein Gasthaus – oder Pub, wie die Briten sagten – zum Abendessen, das The Drovers Inn hieß. Es gab in Inverness viele dieser Lokale, die auf den ersten Blick kaum etwas zu unterscheiden schien. Die Einheimischen jedoch waren da ganz anderer Ansicht, was dazu führte, dass jeder seinem Stammlokal die Stange hielt. Das Drovers war uns von Hamish empfohlen worden. Der Pub war zwar nicht sehr groß, dafür aber umso stimmungsvoller. Fast alle Wände waren mit Zaumzeug und den Farben der verschiedenen Clans geschmückt. Hinter der Bar bemerkte ich eine Sammlung Zinnkrüge mit eingravierten Namen, die den Stammgästen gehörten. Natürlich prangte auf einem davon die Aufschrift »Hamish«.

Nachdem ich die Speisekarte studiert hatte, beschloss ich, nun unbedingt herauszufinden, was es mit diesem »Haggis« auf sich hatte. Hamish hatte mir erzählt, dass es sich um das Nationalgericht handelte, doch als ich mich nach den Zutaten erkundigte, hatte er lachend gemeint, ich solle es lieber versuchen als zu fragen. Schließlich trat der Wirt, ein hochgewachsener und kräftig gebauter Mann, an unseren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen.

»Ich würde gern das Haggis versuchen«, verkündete ich forsch, überlegte mir aber schon im nächsten Moment, dass mein Mut nicht für eine Blindverkostung ausreichte. »Dürfte ich fragen, woraus es genau besteht?«

»Der Leber und Lunge eines Lamms«, erwiderte der Wirt.

Ich zuckte leicht zusammen. »Ach, du meine Güte … Wie wird es denn serviert?«, hakte ich nach, da ich befürchtete, dem Anblick dieser Mischung auf dem Teller nicht gewachsen zu sein.

»Keine Bange, das Ganze wird in den Magen des Viehs gewickelt«, antwortete der Wirt leutselig.

Für mich klang das nicht sehr beruhigend. »Und was gibt es für Beilagen?«, fragte ich.

»N eeps und Tatties «, verkündete er.

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz …«

»Steckrüben und Kartoffeln«, ertönte da eine dunkle, sonore Stimme vom Tresen her. Ein Gast im Alter von etwa fünfzig Jahren drehte sich um und lächelte zu unserem Ecktisch hinüber. Sein Haar zeigte zwar die ersten grauen Strähnen, doch er war mit seinen dunklen Augen und dem markanten Kinn ein attraktiver Mann.

»Oh, vielen Dank, Sir.« Ich nickte dem Mann an der Theke zu. »Das würde ich gern bestellen.«

»Und das Gespons?«, fragte der Wirt.

»Wie bitte?«

»Die junge Dame.« Inzwischen schüttete sich der Mann am Tresen aus vor Lachen. Er hatte einen englischen Oberschichtakzent und trug einen flaschengrünen Tweedanzug.

»Ich hätte gern die Suppe, bitte«, wandte sich Elle an den Wirt.

»Wie Sie wünschen.« Der Wirt nickte und trottete in die Küche, um unsere Bestellung durchzugeben.

Der Engländer an der Theke stand auf und steuerte auf unseren Tisch zu. Ich bemerkte, dass er stark hinkte. Nachdem er sein volles Bierglas abgestellt hatte, zog er sich einen Stuhl heran. »Obwohl die Schotten unsere direkten Nachbarn sind, habe selbst ich manchmal Mühe, diesen Akzent zu verstehen!« Er hielt uns die Hand hin. »Ich bin Archie Vaughan. Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Hallo«, erwiderte ich. »Ich heiße Robert, und das ist Eleanor.«

»Schön, Sie kennenzulernen«, fügte Elle hinzu.

Archie bedachte uns mit einem breiten Lächeln. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Entschuldigen Sie, das ist jetzt wahrscheinlich sehr unhöflich von mir, aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich auf ein Glas zu Ihnen setze?«

Ich warf Elle einen Blick zu. Sie blieb ganz ruhig und erwiderte sein Lächeln. »Natürlich nicht«, antwortete sie und hob ihr Glas Portwein mit Zitrone.

»Famos!«, rief Archie aus. »Und nun müssen Sie mir verraten, wie Sie mit diesen so typischen englischen Namen an einen derart ungewöhnlichen Akzent gekommen sind.«

»Wir sind Franzosen und vor dem drohenden Einmarsch der Deutschen geflohen.« Elle hielt inne. »Menschen wie wir sind überall in Gefahr«, fügte sie, wie vereinbart, hinzu.

»Wer, die Franzosen?«, prustete Archie. Seine Verständnislosigkeit war beinahe komisch anzusehen. Als Elle den Kopf schüttelte, fiel offenbar der Groschen, und Archie schloss kurz die Augen. »Ach, du heiliger Strohsack. Ich verstehe. Nun, Sie sind hier herzlich willkommen. Und keine Sorge, ich bin sicher, dass wir mit den Deutschen kurzen Prozess machen werden.« Er streckte die Beine unter dem Tisch aus und verzog kurz das Gesicht. »Und was führt Sie ausgerechnet nach Inverness?«

»Wir suchen Arbeit«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Er gluckste. »Ich sage es Ihnen ja nur ungern, aber dafür sind Sie in der falschen Gegend gelandet. Derjenige, der Ihnen empfohlen hat, nach Schottland zu kommen, hat sich einen Satz heiße Ohren verdient. Wie Sie sicherlich schon bemerkt haben, gibt es hier nichts als Berge und Seen, so weit das Auge reicht.«

»Sind Sie aus dieser Gegend?«, fragte Elle.

»Nein, das muss ich entschieden von mir weisen. Obwohl ich mich hier sehr gut auskenne. Seit meiner Jugend komme ich, wie jetzt gerade auch, übers Wochenende zur Jagd her. Da mir die Royal Air Force eine Woche freigegeben hat, lasse ich mir ein bisschen die Luft der Highlands um die Nase wehen.«

»Wo sind Sie denn stationiert?«, erkundigte ich mich.

Er schwieg einen Moment und legte sich seine Antwort sorgfältig zurecht. »Im Süden von England. Kent, um genau zu sein. Aber das sagt Ihnen vermutlich nicht viel.«

»Die Heimat von Charles Dickens«, stellte ich fest.

Archie war sichtlich überrascht. »Gütiger Himmel, sind Sie auch wirklich Franzose? Hut ab, in britischer Literatur sind Sie ja offenbar bewandert.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Vergessen Sie nicht, dass Mrs Vita Sackville-West auch aus unsere Nachbarschaft stammt.« Elle und ich starrten ihn verständnislos an. »Ja, schon gut, jetzt hab ich es offenbar übertrieben.« Nachdem er noch einen Schluck Bier getrunken hatte, musterte er mich. »Darf ich fragen, wie Sie es geschafft haben, vom Kriegsdienst verschont zu bleiben, Robert?«

Ich blieb gelassen, obwohl mich diese Frage ein wenig nervös machte. »Ich kann nicht kämpfen, weil ich mir den Arm verletzt habe. Wir würden jede Arbeit annehmen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.«

Archie zog die Augenbrauen hoch. »Ach, noch ein Kriegsversehrter. Tut mir leid, das zu hören, alter Junge. Wie Ihnen sicher schon aufgefallen ist, will mein Bein nicht mehr so richtig. Also kann ich auch nicht in den Kampf.« Er klopfte darauf. »Daran sind die Deutschen schuld. Allerdings ist es keine frische Verletzung. Ich habe sie mir im letzten Krieg geholt. Jetzt schiebe ich Schreibtischdienst.«

»Tut mir meinerseits leid, das zu hören.«

Sein Blick war voller Anteilnahme. »Ich weiß, wie schlimm es für einen jungen Mann ist, nicht kämpfen zu können. Mein Sohn ist nur wenig jünger als Sie, Robert. Er heißt Teddy und hat Plattfüße.« Ich schüttelte den Kopf. »Wirklich eine dumme Sache. Nicht, dass er sich besonders zum Soldaten eignen würde.« Archie verdrehte die Augen.

»Was macht er denn beruflich?«, erkundigte sich Elle. »Ist er in der Verwaltung wie Sie?«

Archie lächelte gequält. »Nein. Teddy ist einundzwanzig und der Erbe meiner riesigen Ländereien.« Ich merkte auf. »Sosehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir einfach nicht, ihn für irgendetwas zu interessieren. Und so ist er von Beruf Sohn und bringt sich in Schwierigkeiten, die meine leidgeprüfte Frau Flora dann aus der Welt schaffen muss.«

»Ländereien?«, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf. »Bestimmt haben Sie da jede Menge Beschäftigte.«

Archie lachte leise auf. »Ich fürchte, diese Zeiten sind in High Weald vorbei. Seit dem letzten großen Krieg ist die Lage ein wenig … angespannt. Außerdem sind unsere Angestellten inzwischen entweder an der Front oder in den Rüstungsbetrieben beschäftigt.« Er seufzte. »Der Haushalt lastet mehr oder weniger allein auf Floras Schultern. Es ist ein Jammer. Aber leider bleibt uns im Moment nicht viel anderes übrig.« Archie starrte in sein fast leeres Bierglas. Elle berührte mich am Oberschenkel, eine Aufforderung, nicht lockerzulassen.

»Das muss sehr schwer für Sie sein. Vielleicht könnten wir ja einspringen«, schlug ich vor.

Archie hob den Kopf und wirkte plötzlich verlegen. »Natürlich. Tut mir leid, manchmal bin ich ein bisschen schwer von Begriff. Sie sagten ja, dass Sie Arbeit suchen.« Sein Blick schweifte durch den Raum, während er überlegte, wie er sein Nein formulieren sollte. »Sie scheinen wirklich in Ordnung zu sein, doch wie ich bereits erwähnt habe, sind wir derzeit knapp bei Kasse. High Weald, das Anwesen der Familie Vaughan, verfällt zusehends, und ich stecke buchstäblich jeden Penny, den ich verdiene, in die Renovierung, damit es nicht vollständig einstürzt.« Er rieb sich die Augen. »Das Haus ist schon seit Generationen im Familienbesitz, und ich möchte nicht der Vaughan sein, der es verliert. Um es kurz zu machen: Ich kann Ihnen nur einen Hungerlohn bezahlen.«

Während ich mich bereits mit Archies Absage abgefunden hatte, gab Elle nicht so rasch auf. »Oh, wir sind es gewohnt, von wenig Geld zu leben, Mr Vaughan. In Paris hatten wir nur eine winzige Wohnung.«

»Genau genommen lautet die Anrede Lord Vaughan, wenn wir auf Förmlichkeiten bestehen wollen«, meinte er augenzwinkernd. »Also gut. Dann erzählen Sie mir mal, was Sie in Paris gearbeitet haben.«

»Verzeihung, Lord Vaughan.« Archie tat die Entschuldigung lachend ab. Elle sah mich an. »Robert und ich haben in einem Waisenhaus gearbeitet«, schwindelte sie. »Robert war Hausmeister und Gärtner, und ich habe für die Kinder gekocht und auch ein wenig sauber gemacht. Da Waisenhäuser stets aufs Geld schauen müssen, hat man uns nicht viel bezahlt.« Ich hätte Elle nie für eine so geschickte Lügnerin gehalten.

»War die Einrichtung groß?«, erkundigte sich Lord Vaughan und zog wieder die Augenbrauen hoch.

Elle nickte heftig. »Oh, ja, sehr groß. Sie heißt Apprentis d’Auteuil, falls Sie Erkundigungen einholen wollen. Und eins kann ich Ihnen versichern: Auch ein junger Mann wie Master Teddy kann unmöglich so viel Durcheinander anrichten wie hundert Kinder!«

Archie musterte sie und ließ die Reste seines Biers im Glas kreisen. »Nein, vermutlich kann Sie nach dieser Erfahrung nichts mehr schrecken. Nun, ich möchte nicht leugnen, dass es für Flora eine große Erleichterung wäre, insbesondere deshalb, weil ich auf dem Luftwaffenstützpunkt gebraucht werde.« Er dachte kurz nach. »Hören Sie, ich kann zwar nicht viel Lohn bezahlen, doch auf dem Land von High Weald gibt es einige kleine Häuschen, die derzeit alle unbewohnt sind. Würden Ihnen ein Dach über dem Kopf und so viel Wildbret, wie Sie schießen können, genügen?«

Elle strahlte übers ganze Gesicht. »Oh, Sir, wir wären Ihnen auf ewig dankbar!«

Auch ich war begeistert. »Wirklich, Lord Vaughan, wir stünden tief in Ihrer Schuld.«

»Also gut.« Er klatschte sich auf die Oberschenkel und erhob sich. »Willkommen an Bord!« Er schüttelte uns beiden freundschaftlich die Hand. »Was für ein Glück, dass wir uns begegnet sind.« Er ahnte ja gar nicht, welchen Gefallen er uns tat. »Aber jetzt muss ich zurück in meine Unterkunft. In ein paar Stunden geht der Schlafwagen. Der Nachtzug von Glasgow nach London. Apropos: Wo wohnen Sie momentan? Ich reserviere Fahrkarten für Sie. Könnten Sie nächste Woche anfangen?«

Elle und ich wechselten einen Blick. »Natürlich. Sehr gern«, antwortete ich. »Wir wohnen im Sheep Heid Inn.«

»Ausgezeichnet.« Er rieb sich die Hände. »Ich lasse die Billetts dorthin schicken.«

»Oh, wir bezahlen natürlich …«, begann Elle.

Archie unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Unsinn. Sie sind jetzt bei mir angestellt. Außerdem steht es um meine Finanzen noch nicht so schlecht, dass ich mir die Caledonian Railway nicht mehr leisten könnte.« Er leerte sein Glas. »Verzeihung, aber ich habe vorhin Ihren Nachnamen nicht richtig verstanden.« Er musterte uns fragend. »Robert und Eleanor …«

»Tanit«, nannte ich den ersten Namen, der mir einfiel.

»Prima, dann lasse ich die Fahrkarten auf Mr und Mrs Tanit ausstellen.« Archie Vaughan nickte uns lächelnd zu, nahm seinen langen blauen Mantel vom Haken neben der Tür und ging hinaus.

Elle und ich sahen einander an und brachen in Lachen aus. »Weißt du jetzt, mein Liebling, warum ich trotz allem weiterhin an die Macht des Universums glaube?«, rief ich erfreut.

Sie griff nach meinen Händen. »Allmählich verstehe ich dich. Was für ein glücklicher Zufall.«

»Ganz recht.« Ich wandte die Augen zum Himmel. »Vielleicht ist es ja etwas viel Größeres als Zufall. Das können wir zwei nicht beurteilen.« Eine Weile sahen wir einander schweigend an, konnten es beide kaum fassen, dass sich uns so bald eine neue Chance eröffnet hatte.

Nach einer Weile verzog Elle das Gesicht. »Warum hast du ihm diesen Nachnamen genannt? Was hast du dir dabei gedacht?«

Vor lauter Schreck hatte ich Archie Vaughan meinen wahren Namen angegeben. Den, der auf meiner irgendwo in den Weiten Sibiriens verschollenen Geburtsurkunde steht: Tanit .

Ich fuhr mir durchs Haar. »Ich weiß, dass ich mich verplappert habe. Aber ich hatte einfach keine Zeit zu überlegen. Nach den vielen Fragen wegen unseres Akzents hätte ein Zögern Argwohn erregt. Es war einfach das Erste, was mir in den Sinn kam.«

Elle war zwar nicht sonderlich glücklich darüber, doch sie lächelte. »Also sind wir jetzt Mr und Mrs Tanit.«

»Wenn Kreeg es je bis nach Großbritannien schaffen sollte, wird er ganz sicher nicht erwarten, dass ich meinen echten Namen benutze«, merkte ich an.

Beim Essen sprachen wir darüber, welche Möglichkeiten uns das neue Leben auf einem Landgut eröffnen würde. Wir malten uns das versprochene Häuschen und die üppig grüne englische Landschaft aus. In diesem Moment waren die Bedrohung durch Kreeg und die Deutschen ganz weit weg.

Wir schlenderten die Hauptstraße entlang zurück zu unserem Gasthof, wo der Wirt uns mit einem Brief, adressiert an Bo und Elle, empfing. Zum Glück hatten wir uns unter diesen Namen eingetragen. Elle war überglücklich und eilte damit hinauf in unser Zimmer.

»Bestimmt ist er von Karine!«, rief sie aufgeregt aus. »Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, was heute Abend passiert ist. Sie wird es furchtbar komisch finden.« Stirnrunzelnd begutachtete sie den Umschlag. »Aber die Handschrift sieht gar nicht aus wie die von Karine.«

»Mach ihn auf, dann weißt du mehr«, schlug ich vor.

Elle riss den Umschlag auf und entnahm ihm zwei Bögen Papier. »Einer ist von Horst«, wunderte sie sich.

»Horst? Ist etwas passiert?«

Ich beobachtete Elle beim Lesen. »Ich verstehe das nicht«, murmelte sie.

»Lies vor«, forderte ich sie auf.

»Lieber Bo, liebe Elle …«, begann sie.

Hoffentlich erreicht Euch dieses Kuvert. Ich habe Eure Adresse in Eurem letzten Brief an Karine entdeckt. Entschuldigt, dass ich ihn geöffnet habe, aber Ihr werdet gleich wissen, warum mir nichts anderes übrig geblieben ist. Ich bin froh, dass Ihr wohlbehalten in Schottland angekommen seid, und hoffe, dass die Schrecken dieses sinnlosen Krieges Euch nicht bis dorthin folgen werden. Leider schreibe ich Euch aus einem traurigen Anlass. Doch es ist meine Pflicht, und ich erfülle damit den Wunsch meines geliebten Sohnes.

Ich flehe Euch an, nicht schlecht von ihm zu denken. Er war kein böser Mensch, sondern hat nur einen Fehler gemacht, für den er den höchsten Preis bezahlt hat, den ein Mensch sich vorstellen kann. Danke, dass Ihr meinem Sohn und auch Karine so gute Freunde gewesen seid. Ihr sollt wissen, dass sie Euch beide sehr geliebt haben.

Bitte achtet und liebt Euch und hört aufeinander.

Euer Freund,

Horst Halvorsen

Elle ließ den Brief sinken und sah mich besorgt an.

Eine schreckliche Vorahnung beschlich mich. »Lass mich den anderen Brief lesen.« Sanft nahm ich ihn Elle aus der Hand.

Lieber Bo, liebe Elle,

wenn dieser Brief Euch erreicht (falls überhaupt), werde ich nicht mehr sein. Ich habe die traurige Aufgabe, Euch mitzuteilen, dass die Liebe meines Lebens, Karine Eliana Rosenblum, heute Morgen von deutschen Soldaten erschossen wurde.

Ihr Verbrechen bestand darin, in die Stadt zu gehen, um Brot und Milch zu kaufen.

Wie Ihr beide wisst, war es Karines Wunsch, Norwegen zu verlassen. Doch ich habe nur an mich gedacht und mich geweigert, ihre Warnungen ernst zu nehmen. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Meine Frau war so viel gütiger, klüger und ein BESSERER Mensch als ich, und ich hätte auf sie hören sollen.

Mein Herz ist gebrochen, und es gibt keine Heilung.

Elle, insbesondere Dich muss ich um Verzeihung bitten. Du warst Karines beste Freundin und vielleicht sogar enger mit ihr verbunden, als ich es jemals war. Es ist einzig und allein meine Schuld, dass Du sie niemals wiedersehen wirst.

Meine Freunde, nun überantworte ich mich der Gnade unseres Herrn, auch wenn ich nicht mit Vergebung rechne. Diesen Brief zu schreiben ist das Vorletzte, was ich in meinem Leben tun werde. Danach hole ich das Jagdgewehr meines Vaters aus dem Schuppen und werde in den Wäldern hinter dem Haus meinem Dasein ein Ende machen. Keine Sorge, Felix befindet sich in der Obhut meiner Eltern, die meinen Sohn ebenso mit Liebe überschütten werden wie damals ihren eigenen.

Eigentlich wollte ich nie etwas anderes als die Anerkennung meines musikalischen Talents. Also, meine Freunde, tut mir bitte den Gefallen, Euch nicht an mich zu erinnern – das soll meine ewige Strafe sein.

Doch erinnert Euch an unsere geliebte Karine. Sie war ein Licht in einer Welt voller Dunkelheit und soll für immer leuchten.

Euer

Jens »P ip« Halvorsen

Elle und ich waren fassungslos. Schweigend saßen wir da, bis sie irgendwann am ganzen Körper zu zittern begann und endlich die Tränen flossen. So hielt ich sie stundenlang in den Armen. Irgendwann beruhigte sie sich und schlief, erschöpft von der Wucht dieser niederschmetternden Nachricht, an mich geschmiegt ein.

Endlich kam der Morgen und mit ihm die Fahrkarten für den Schlafwagen der Caledonian Railway für »Mr und Mrs Tanit«. Das führte an der Rezeption zu einiger Verwirrung, denn wir hatten uns schließlich unter dem Namen d’Aplièse eingetragen. Zum Glück schluckte der Wirt meine Erklärung, Tanit sei der Name meiner kranken Großmutter, weshalb es offenbar eine Verwechslung gegeben habe.

Am Abend nahmen wir den Zug von Aberdeen nach Glasgow und bestiegen kurz vor elf Uhr nachts den Schlafwagen. Nachdem wir uns in unserem mit einem eisernen Etagenbett, einem kleinen Waschbecken und einem Klapptisch ausgestatteten Abteil eingerichtet hatten, ließ ich mich neben Elle auf der unteren Matratze nieder und umfasste ihre Hand.

»Die beiden werden uns für den Rest unseres Lebens begleiten«, versicherte ich ihr. »Ihnen zu Ehren werden wir beide glücklich werden«, fügte ich hinzu, als der Zug anrollte.

Elle war noch immer tief erschüttert, was mir ans Herz ging. »Ich muss ständig an den kleinen Felix denken«, schluchzte sie. »Was soll aus ihm werden? Beide Eltern gleichzeitig zu verlieren ist … Nun, ich weiß, wie weh das tut.« Sie blickte mir unverwandt in die Augen. »Ist es nicht unsere Pflicht, zu ihm zurückzukehren?«

Ich dachte über Elles Frage nach. Wenn ich ehrlich mit mir war, lautete die Wahrheit … Ja, wir hatten die Pflicht. Nur, dass wir lebensmüde gewesen wären, in diesen Zeiten wieder nach Bergen zu fahren. »Felix ist bei Horst und Astrid gut aufgehoben. Wir wissen, dass die beiden gute Menschen sind. Nun kann Karine in Frieden ruhen, denn niemand wird in der Lage sein, seine religiösen Wurzeln nachzuvollziehen. Er ist in Sicherheit.«

Elle schlug die Hände vors Gesicht. »Es ist nur, dass wir den beiden so viel verdanken. Wer weiß, wo wir ohne sie heute wären? Und jetzt … können wir uns nicht einmal mehr bei ihnen bedanken.«

Elles Worte wollten mir nicht aus dem Kopf, während der Zug durch die Nacht rumpelte. Nach einer Weile lullten mich das rhythmische Schaukeln und das Rattern der Gleise ein, und so verließen wir Schottland und fuhren einem neuen Leben entgegen.