Merry
Angesichts der Umstände habe ich letzte Nacht verhältnismäßig gut geschlafen. Vielleicht habe ich das meinem Gespräch mit Ambrose zu verdanken. Ich hatte ihn am Telefon erwischt, als er gerade im Begriff war, zum Abendessen auszugehen, und als ich seine freundliche Stimme mit dem vertrauten kultivierten Akzent hörte, fühlte ich mich sofort viel ruhiger. Ich hatte ihm versprochen, ihn heute am frühen Morgen noch einmal anzurufen, um ihm von den neuesten Entwicklungen zu berichten. Gähnend ließ ich den Blick durch meine Kabine schweifen. Durch das Bullauge strömte das erste Morgenlicht herein und tauchte den Raum in einen angenehm orangefarbenen Schein.
Aus dem Bauch des Schiffs ertönte ein mir wohlbekanntes Grollen, als Kapitän Hans die Motoren für einen weiteren gemächlichen Reisetag anwarf. Ich war froh, den Luxus und Komfort an Bord der Titan genießen zu können, und außerdem erleichtert, dass ich nicht wie meine Eltern an Bord eines Fischkutters die raue Nordsee überqueren musste. Inzwischen hatte ich mich in ihre Geschichte eingelesen und war tief bewegt. Wenn wir den Kranz für Atlas ins Meer warfen, würde ich vermutlich ebenso in Tränen aufgelöst sein wie seine anderen Töchter.
Sie alle sprachen so überaus liebevoll von ihrem Pa Salt. Insgeheim beneidete ich sie ein wenig, da ich trotz meiner Blutsverwandtschaft nie seine Zuneigung hatte erleben dürfen.
Mein Wecker läutete – ich hätte ihn gar nicht gebraucht –, und ich setzte mich im Bett auf. Dann griff ich nach dem Satellitentelefon, das mir ein freundliches junges Mitglied der Crew aufs Nachtkästchen gelegt hatte, und tippte Ambroses Nummer ein. Er meldete sich nach kurzem Läuten.
»Darf ich annehmen, dass ich die Seejungfrau des Mittelmeers in der Leitung habe?«
»Guten Morgen, Ambrose.« Ich lachte. »Hattest du einen schönen Abend?«
»Sehr amüsant, danke! Ein ehemaliger Student hat mich zum Abendessen ins Drury Building eingeladen. Wir hatten ein nettes Schwätzchen, wie man so schön sagt …« Er hielt inne, eine großzügige Geste für Ambrose, der keine Mühe gehabt hätte, noch stundenlang ohne Punkt und Komma weiterzureden. »Jetzt aber genug von mir. Ich bestehe darauf, dass du mir alles erzählst!«
Ich lehnte mich zurück ins Kopfkissen. »Ich muss mich bei dir bedanken, weil du mich überredet hast hierherzukommen, Ambrose. Irgendwie habe ich so ein Gefühl, dass sich mein Leben dadurch verändern wird.«
»Weißt du was, mein Liebes? Das denke ich auch. Und jetzt schieß los. Ich will alle pikanten Details hören, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.«
»In Ordnung. Sitzt du gut?« Ich berichtete ihm, was ich bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte.
Ambrose traute seinen Ohren nicht. »Herrje, Merry. Was für ein Kuddelmuddel, wenn du mir die abgedroschene Bemerkung verzeihst.«
»Und das war noch lange nicht alles«, sprach ich weiter. »Im Tagebuch wird Atlas von einem Freund aus Kindertagen, der sich zum Feind gewandelt hat, durch die ganze Welt verfolgt. Vielleicht sagt dir der Name ja etwas. Es ist Kreeg Eszu, der Hightech-Millionär, der vor einem Jahr Selbstmord begangen hat.«
Schweigen entstand, als Ambrose in seinem Gedächtnis kramte. »Oh, ja … wie sonderbar! Wenn ich mich recht entsinne, ist sein Unternehmen mein Internetprovider. Ein Saftladen.«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Schätze, es wird alle an Bord der Titan freuen, das zu hören. Kreeg und sein Sohn Zed sind, gelinde gesagt, nicht sonderlich beliebt.«
»Das wundert mich nicht«, erwiderte Ambrose. »Soweit ich weiß, hatte der Mann überall seine Finger mit im Spiel. Breitband, Mobilfunknetze, ich glaube, er hatte sogar ein Mitspracherecht bei einigen Fernsehsendern.«
Ich schwang die Füße über die Bettkante und stand auf. »Offenbar ja. Nach Kreegs Tod hat Zed die Unternehmensleitung übernommen.«
Ambrose schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Tja, falls du ihm zufällig über den Weg laufen solltest, schick ihn bitte nach Dublin, damit ich endlich eine schnellere Datenübertragung kriege.«
Amüsiert schüttelte ich den Kopf. »Wird gemacht, Ambrose.«
»Danke.« Er gluckste. »Und bist du der Antwort auf die Frage, wie du in West Cork und vor Father O’Briens Tür gelandet bist, ein Stück näher gekommen?«
Seufzend blickte ich aus dem Bullauge und betrachtete die aufgehende Sonne. »Noch nicht. Obwohl es da eine geheimnisvolle Sache gibt, die ich noch gar nicht erwähnt habe.«
»Wunderbar! Ich liebe Geheimnisse.«
»Du erinnerst dich doch noch daran, dass Jack ein paar Recherchen zum Thema Argideen House unternommen hat. Wie sich herausstellte, war der letzte offizielle Eigentümer kein Geringerer als dieser Kreeg Eszu.«
»Hmmm …«, brummelte Ambrose nachdenklich. »Was für ein interessanter Zufall. Falls es sich überhaupt um einen solchen handelt …«
»Genau. Du weißt nicht etwa, was genau nach den Fünfzigerjahren mit dem Haus geschehen ist, Ambrose?«
Er seufzte, offenbar über sich selbst ungehalten. »Das muss ich leider verneinen. Ich hatte bei meinen Besuchen in West Cork kaum etwas mit Argideen House zu tun. Aber im Tagebuch müssen sich doch Antworten finden lassen.«
»Laut Mr Hoffman anscheinend nicht. Obwohl ich nicht sicher bin, ob ich ihm das glauben soll. Ich könnte schwören, dass er uns nicht die ganze Wahrheit sagt.«
Ambrose klang amüsiert. »Das pflegen Anwälte gemeinhin nicht zu tun. Aber ich werde gern ein paar Nachforschungen anstellen, falls dir das weiterhilft. Ich habe in West Cork noch gute Kontakte. Du weißt ja, wie ländlich es hier ist. Bestimmt gibt es jemanden, der sich an diese Zeit erinnert.«
»Danke, Ambrose, das wäre wirklich großartig von dir.« Seine Hilfsbereitschaft brachte mich zum Lächeln.
»Keine Ursache, Merry. Wie du weißt, habe ich schon immer damit geliebäugelt, Privatdetektiv zu werden.«
»Poirot zittert sicher schon vor Angst«, spöttelte ich.
»Dazu hat er auch allen Grund. Also abgemacht. Ich ziehe ein paar Erkundigungen ein und schaue, was ich über die früheren Bewohner von Argideen House herausfinden kann.«
»Danke, Ambrose. Ich rufe dich morgen vor der Gedenkfeier an.«
»Großartig. Genieß das Meer und erfreu dich an der abenteuerlichen Geschichte deiner wahren Herkunft.«
»Tschüss, Ambrose.« Ich legte das Satellitentelefon weg, streckte mich und machte mich auf den Weg unter die Dusche.