XXX

Um elf versammelten sich fünf der sechs d’Aplièse-Schwestern auf den breiten, bequemen Sofas im großen Salon. Die meisten hatten sich Saft und frisch gebackene Croissants vom Frühstücksbüfett mitgebracht, denn sie waren nach einer langen, mit Lesen verbrachten Nacht erst spät aufgestanden.

»Ich konnte das Tagebuch gar nicht mehr weglegen«, sagte Tiggy.

»Ich auch nicht«, stimmte Maia zu. »Wisst ihr, welche Stelle ich am spannendsten fand? Die, als Pa im Feuer gefangen ist und ihm die Frau im roten Kleid erscheint.«

»Ja, echt beachtlich, was ein bisschen eingeatmeter Rauch mit dem Verstand so anstellt«, spöttelte Elektra und steckte ein Gebäckstück in den Mund.

»Ach, da wäre ich nicht so sicher, Elektra.« Tiggy schenkte ihr ein geheimnisvolles Lächeln, woraufhin die jüngere Schwester die Augen verdrehte.

»Ich glaube, euch allen ist das Wichtigste entgangen.« CeCe verzog finster das Gesicht. »Dieser Schweinehund Kreeg hat versucht, Pa bei lebendigem Leib zu verbrennen. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin stinksauer!«

»Ich kann dich verstehen, CeCe«, antwortete Star tröstend. »Das Seltsame ist, dass er immer wieder gescheitert ist. Kreeg ist es nie geglückt, Pa zu töten. Sie sind beide als alte Männer gestorben. Könnte Kreeg die Verfolgung aufgegeben haben? Oder haben sie sich gar miteinander versöhnt?« Schweigen senkte sich über den Raum, als jede der Schwestern sich fragte, wie wohl die Wahrheit aussah.

Die Stille wurde unterbrochen, als Ally, gefolgt von Jack, in den Salon trat.

»Guten Morgen allerseits«, sagte sie.

»Ja, guten Morgen, die Damen.« Verlegen rückte Jack ein Stück von Ally ab. Offenbar war er noch unsicher, wie nah er ihr in Gegenwart anderer kommen durfte.

Ally klatschte kurz in die Hände. »Ich schließe aus dem angeregten Gespräch, dass alle weiter in Pas Tagebuch gelesen haben.« Allgemeines Nicken. »Wo ist Merry?«

»Sie ist schon auf«, erwiderte Star. »Ich glaube, sie ist im Whirlpool und möchte in Ruhe nachdenken. Alles in Ordnung, Ally?«, fuhr sie zögernd fort. »Es war schrecklich, das von deinen Großeltern zu lesen.«

Ally zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »Alles gut. Schließlich war es für mich nicht neu.«

Plötzlich schrie Maia auf. »O mein Gott!«

Die älteste der Schwestern wies auf den Fernseher in der Ecke des Raums, wo gerade der BBC-Nachrichtensender ohne Ton lief. Alle Anwesenden blickten Zed Eszu direkt ins Gesicht.

»Oh, Scheiße, was hat dieses Schwein denn im Fernsehen zu suchen? Entschuldige, Maia. Könnte jemand ausschalten?«, rief Elektra rasch.

»Nein!«, widersprach Maia. »Ich will es hören. Lasst uns den Ton anmachen.«

CeCe griff nach der Fernbedienung und drückte heftig auf den Lautstärke-Knopf.

»… und im Rahmen unserer Themenwoche Börse haben wir nun Zed Eszu, den CEO von Lightning Communications, bei uns zu Gast, der über seine Pläne zum Ausbau des Glasfasernetzes sprechen wird. Mr Eszu, ich begrüße Sie hier in unserer Sendung.«

»Vielen Dank«, erwiderte Zed mit seinem typischen gekünstelten Grinsen. Er trug wie immer einen seiner scheußlichen Anzüge aus glänzendem Stoff, hatte aber auf die Krawatte verzichtet. Stattdessen hatte er die Hemdknöpfe weit genug geöffnet, um den Zuschauern einen Blick auf seine muskulöse Brust zu gestatten. Das schwarze Haar hatte er zurückgekämmt. Kurz gesagt: ein Schmierling vom Scheitel bis zur Sohle.

»O nein, schaut ihn euch nur an!«, rief Elektra aus. »Der scheint sich ja prächtig zu amüsieren.«

»Schsch«, zischte Maia.

»Zunächst möchte ich Ihnen von Herzen mein Beileid zum Tod Ihres Vaters Kreeg, dem langjährigen Leiter von Lightning, aussprechen«, begann der Moderator.

»Ja, er hat das Unternehmen fast dreißig Jahre lang geführt«, erwiderte Zed.

Der Moderator nickte anteilnehmend. »In dieser Zeit hat er viel erreicht und dazu beigetragen, dass Privathaushalte auf der ganzen Welt mit einem Internetanschluss versorgt werden können. Wodurch er natürlich auch zu großem Wohlstand gekommen ist.«

Zed lachte gekünstelt, ein Geräusch, das Maia Gänsehaut verursachte. »Geld war meinem Vater nicht wichtig.« In einer allumfassenden Geste breitete er die Hände aus. »Ihm ging es nur darum, den Menschen zu helfen. Das war seine wahre Leidenschaft.«

»Was labert der da für einen Schwachsinn?«, schimpfte Elektra.

»Schsch, seid still«, sagte Maia.

»Mein Vater liebte die Menschen. Er wollte uns allen das Leben erleichtern und uns besser miteinander vernetzen.« Mit bedeutungsvoller Miene blickte Zed in die Kamera. »Damit wir nie den Kontakt zu den Menschen verlieren, die wir lieben.«

Der Moderator verschränkte die Arme und ließ Zeds Antwort auf sich wirken. »Glauben Sie, dass das sein wichtigstes Anliegen war?«

Zed lehnte sich zurück und setzte wieder ein ekelhaft süßliches Grinsen auf. »Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass jemand einfach in der Versenkung verschwinden könnte. Jeder habe ein Recht darauf, mit anderen in Verbindung zu bleiben. Ich glaube, das hat ihn so an der digitalen Kommunikation und am Internet fasziniert.«

»Eine Geschichte, die Mut macht. Sie selbst führen das Unternehmen nun seit einem Jahr und wurden nach dem Tod Ihres Vaters zum Direktor ernannt. War es immer der Plan, dass Sie eines Tages das Kommando übernehmen?«

»Ja, selbstverständlich. Mein Vater war ein sehr gewissenhafter Mensch. Bei ihm war alles stets … bis ins kleinste Detail durchdacht.« Er machte ein besorgtes Gesicht und nickte.

»Der Typ ist gruselig«, stellte Tiggy fest. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass er uns direkt anspricht?«

»Ich weiß, was du meinst«, antwortete Ally leise.

Der Moderator fuhr fort. »Nun, im Rahmen unserer Themenwoche Zukunftstechnologie sind Sie hier, um über Ihre Expansionspläne für Lightning zu sprechen. Werden wir bald schnelleres Internet bekommen?«

»Ganz richtig, vielen Dank.« Zed legte die Fingerspitzen aneinander und nahm die Pose eines nachdenklichen Geschäftsmannes ein. Natürlich war das alles nur Theater, nichts als Show, was die Schwestern sehr wohl wussten. »Ich freue mich, Ihnen ankündigen zu können, dass Lightning Communications die Absicht hat, unser veraltetes Satellitensystem durch ein hochmodernes Glasfasernetz zu ersetzen, das unsere Kontinente viel zuverlässiger miteinander verbinden wird, als es mit weltraumgestützter Technologie möglich wäre.«

Der Moderator schien nicht ganz zu verstehen. »Kabel? Ist das verglichen mit Satellitentechnik nicht ein Rückschritt?«

»Ausgezeichnete Frage. Danke, dass Sie sie gestellt haben.« Zed grinste.

»Kotzwürg!«, murmelte CeCe.

»Meine Glasfaserkabel ermöglichen eine größere Bandbreite und damit eine beträchtlich schnellere Datenübertragung. Mir ist klar, dass einige unserer Zuschauer das vielleicht ein wenig verwirrend finden.« Er lächelte gönnerhaft. »Diese Kabel übertragen Informationen in Form von Lichtimpulsen, die entlang durchsichtiger Glasröhren wandern. Es ist Zauberei.« Er lachte leise. »Also bin ich so etwas wie ein Zauberkünstler.«

»Ein Zauberkünstler mit einer Visage zum Reinschlagen«, höhnte Jack.

Der Moderator setzte das Interview fort. »Werden diese Kabel wie Telefonleitungen an Hochmasten angebracht?«

»Ach, du lieber Himmel, Sie sprudeln heute ja geradezu über vor spannenden Fragen.« Trotz seiner Versuche, aufrichtig interessiert zu klingen, wirkte Zed zunehmend genervt. »Diese Kabel werden in unseren Ozeanen verlegt. Stellen Sie es sich nur vor … der Meeresboden wird voll von Technologie sein.«

»Das ist ein sehr ambitioniertes Vorhaben, Mr Eszu. Selbstverständlich möchte ich auch auf die ökologischen Gesichtspunkte zu sprechen kommen. Wird es Ihnen gelingen, Ihren Plan zu verwirklichen, ohne das Leben im Meer aus dem Gleichgewicht zu bringen?«

Kurz ließ Zed seine Maske fallen und verzog unwillig das Gesicht. »Dieses neue Netzwerk wird die Grundlage der globalen Kommunikation für die gesamte Menschheit bilden. Falls uns ein paar Fische im Weg sein sollten, werden die Menschen dieses Opfer sicher gern bringen.«

»Nun, diese Ansicht teilen bestimmt nicht …«

»Es ist alles eine Frage der Risiko- und Nutzenabwägung«, fiel Zed dem Moderator ins Wort. »Wo gehobelt wird, fallen nun mal Späne.« Er nahm sich zusammen und setzte erneut sein widerliches Lächeln auf. »Natürlich werden wir von Lightning alles Menschenmögliche tun, um zu verhindern, dass Nemo und seinen kleinen schuppigen Freunden ein Leid geschieht.«

»Diese Nachricht wird viele unserer Zuschauer sicherlich freuen«, entgegnete der inzwischen leicht verärgerte Moderator. »Eigentlich wollte ich fragen …«

Wieder wurde er von Zed unterbrochen. »Wissen Sie, eigentlich ist mein Vater nicht wirklich tot. Er lebt in diesem Projekt weiter. Und wenn alles nach Plan läuft, wird er ewig leben. Der Name Eszu wird nie in Vergessenheit geraten.«

»So etwas nenne ich … äh … wahren Idealismus. Aber um zu unserem Thema zurückzukehren: Es handelt sich um eine gewaltige Aufgabe, oder nicht?«

»Ganz recht.« Zed zuckte bescheiden mit den Achseln. »Doch ich kann Ihnen die freudige Mitteilung machen, dass Lightning Communications eine Geschäftspartnerschaft mit der Berners Bank eingehen wird, um die Finanzierung des Projekts zu gewährleisten.« Zed Eszu schien sehr mit sich zufrieden zu sein.

»Also wird Berners Ihre Rechnungen bezahlen?«, hakte der Moderator nach.

»So drastisch hätte ich es nicht ausgedrückt, aber ja. Der CEO David Rutter ist ein persönlicher Freund und ein wunderbarer Mensch, der meine Visionen für die Zukunft teilt.«

»David Rutter …«, flüsterte CeCe. »Wo habe ich diesen Namen schon mal gehört?«

»Es muss recht praktisch sein, David Rutters Nummer im privaten Telefonbuch stehen zu haben«, erwiderte der Moderator launig.

Zed zog die makellos gezupften Augenbrauen hoch. »Da muss ich Ihnen zustimmen.«

»Wann werden Sie dieses gewaltige Projekt in Angriff nehmen?«

»Zunächst werden wir Australien mit Neuseeland verbinden. Das ist unser kleiner Versuchsballon auf der anderen Seite der Erdhalbkugel.« Er lachte. »Wir werden uns mit einer Armada von Grabenfräsen unter dem Tasmanischen Meer durchwühlen.«

Der Moderator nickte Zed zu. »Wir werden Ihre Fortschritte mit großem Interesse verfolgen, Mr Eszu. Sie müssen uns versprechen, wieder in unsere Sendung zu kommen und uns über die Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.«

»Oh, das wäre mir ein Vergnügen, vielen Dank.« Er bleckte die gebleichten Zähne. »Aber bevor ich mich verabschiede, wollte ich noch sagen, dass wir bei Lightning großen Wert aufs Branding legen. Soll ich Ihnen den Namen dieses Projekts verraten?«

Wieder hatte Zed den Moderator überrumpelt. »Aber gern«, stieß dieser zähneknirschend hervor.

»Tja, da wir zum Wohle der Menschen einiges zu stemmen haben werden, gibt es dafür nur einen passenden Namen: Atlas.«

Elektra griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ab. Im Salon herrschte Stille. »Also, meine Lieben. Bestimmt weiß er, dass wir uns auf dieser Reise befinden. Und sicher ist er auch über Pas und Kreegs Vergangenheit bestens im Bilde.« Sie wies auf den Fernseher. »Dieser Kotzbrocken will uns herausfordern. Aber diesen Gefallen tun wir ihm nicht, richtig?«

CeCe erhob sich. »Das ist so was wie seine letzte Rache. Die ganze Welt wird von seinem Kabelprojekt erfahren. Und er benutzt Pas Namen dafür.«

»Sorry, aber wer genau war denn dieser Typ?«, raunte Jack Ally zu.

»Kreeg Eszus Sohn«, erwiderte diese.

»O Mann, ich kann seine Pomade bis hierher riechen.« Da er spürte, dass sich die Stimmung im Raum verändert hatte, hielt er inne. »Ich glaube, ich geh mal Kaffee holen. Die Damen können bestimmt auch einen Schluck gebrauchen, oder?«

»Könntest du vielleicht noch was von dem Rosé mitbringen, Jack?«, bat Star.

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, antwortete er und steuerte auf die Tür des Salons zu.

»Mein Gott, mir ist schlecht. Er hat einfach …« Maia brachte den Satz nicht zu Ende.

»Ich weiß, Liebes«, tröstete Elektra sie und nahm die Hand ihrer Schwester. »Aber wir wollen die Ruhe bewahren und gemeinsam nachdenken. Was hätte Pa jetzt getan? Er hätte innegehalten und sich alles gründlich überlegt. Was hat er immer zum Thema Schach gesagt?«

»Wählt eure Züge mit Bedacht«, flüsterte Star.

»Genau. Ich glaube, er meinte damit, dass man sich nicht Hals über Kopf in jede Auseinandersetzung stürzen darf. Und in diesem Fall können wir momentan nicht viel machen«, fuhr Elektra fort. »Natürlich ist das Timing kein Zufall. Er will uns diese Reise im Gedenken an Pa vermiesen. Und deshalb lassen wir das einfach nicht zu.«

***

Ally trat hinaus aufs Achterdeck. Ihr schwirrte der Kopf. Es war ein bewegter Vormittag gewesen. Zuerst hatte sie den schrecklichen Tod ihrer Großeltern noch einmal durchleben müssen. Anschließend war Zed Eszu wie eine allmächtige und bösartige Gottheit auf den Fernsehbildschirmen an Bord der Titan erschienen. Und dann war da auch noch Jack. Als sie daran dachte, wie sie sich vorhin geküsst hatten, machte ihr Herz einen Satz. Sie hoffte verzweifelt, dass die beklommene Stimmung zwischen ihnen nun endgültig der Vergangenheit angehörte. Vielleicht hatten sie ja eine Chance. Ally ging weiter zum Heck der Jacht, um Ma zu suchen und ihr Bär abzunehmen.

Auf ihrem Weg hatte sie plötzlich Georg Hoffman vor sich. Mit der einen Hand umklammerte der Anwalt sein Handy, während er sich mit der anderen durchs Haar fuhr und, begleitet von heftigem Kopfschütteln, hin und her lief. Ally traute ihren Augen nicht, als Georg nach dem Telefonat auf die Knie sank und anfing, die Deckplanken aus Teakholz mit den Fäusten zu bearbeiten. Sie eilte auf ihn zu. »Georg! Was ist denn passiert?«

Erschrocken fuhr er zusammen und sprang hastig auf. »Verzeihung, Ally. Ich dachte, ich wäre allein.«

»Was ist los? Mit wem haben Sie geredet?«

»Oh«, stammelte er. »Es war nur meine Schwester. Sie hatte eine … unangenehme Nachricht.«

»Das tut mir sehr leid, Georg. Wenn sich jemand mit unangenehmen Nachrichten auskennt, dann bin ich das. Möchten Sie darüber reden?«

Er lief feuerrot an. »Oh, nein. Aber vielen Dank. Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen. Es ist sonst wirklich nicht meine Art, mich dermaßen gehen zu lassen.«

»Kein Problem, Georg«, meinte Ally beschwichtigend. »Die Zeiten sind für uns alle nicht leicht. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht besser fühlen, nachdem Sie mir Ihr Herz ausgeschüttet haben?«

Er holte tief Luft. »Eigentlich ist es nicht weiter weltbewegend. Claudia hat mir nur das Neueste in einer privaten Angelegenheit mitgeteilt, in der mir momentan die Hände gebunden sind. Dabei ist das Finden von Lösungen mein Beruf, Ally. Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht in der Lage bin, jemandem zu helfen, an dem mir sehr viel liegt.«

Ally sah ihn erstaunt an. »Verzeihung, Georg, aber sagten Sie gerade Claudia? Unsere Claudia in Atlantis? Ich dachte, Sie hätten mit Ihrer Schwester telefoniert.«

Georg blieb kurz der Mund offen. »Ähm, tut mir leid. Ja, ich habe mich versprochen. Nein, auch nicht richtig«, verbesserte er sich. »Meine Schwester heißt nämlich ebenfalls Claudia. Also haben wir es mit zwei Claudias zu tun.«

»Haben Sie sich wirklich versprochen, Georg? Oder haben Sie ausnahmsweise einmal die ungefilterte Wahrheit gesagt?«

Georg Hoffman schlug die Hände vors Gesicht. »Wie weit sind Sie in dem Tagebuch?«

»Bei Pas Zeit in High Weald.«

Er überlegte kurz. »Ja, Ally. Wir haben das aus diversen Gründen immer geheim gehalten, aber Claudia ist meine jüngere Schwester. Die Umstände, unter denen wir Ihrem Vater begegnet sind, werden im Tagebuch geschildert. Ich möchte, dass Sie es in Pa Salts eigenen Worten lesen.«

Ally verschlug es die Sprache. »Georg, warum um alles in der Welt durfte das niemand wissen?«

Offenbar am Ende seines Lateins angelangt, zuckte Georg mit den Achseln. »Ihr Vater hat das getan, was er am besten konnte, nämlich uns zu schützen. Lesen Sie weiter, dann werden Sie es verstehen.«

Und dabei hatte Ally gedacht, dass dieser Tag nicht noch mehr Aufregung bereithalten könnte. Der Anblick von Georg in diesem aufgelösten Zustand hatte sie tief beunruhigt. Es war ein wenig, als sähe man den kleinen Mann hinter dem Vorhang in Der Zauberer von Oz , wie er hektisch die komplizierte Maschinerie bedient, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Allys Bedürfnis, endlich für Klarheit zu sorgen, wurde übermächtig. »Jetzt sagen Sie schon, Georg: Was hatte Claudia Ihnen mitzuteilen? Was war das für eine Nachricht, wegen der Sie vor Wut mit den Fäusten auf den Boden getrommelt haben?«

Georg rang hilflos die Hände. »Wirklich, Ally, es hat nichts mit …«

Nun riss Ally endgültig der Geduldsfaden, und sie packte Georg an den Aufschlägen seines Leinensakkos. »Georg Hoffman, zum ersten Mal in Ihrem Leben werden Sie mir jetzt haarklein erzählen, was da los ist. Ich will wissen, was Claudia Ihnen gesagt hat, und auch, warum Sie deshalb so zornig geworden sind. Außerdem interessiert mich, wieso Sie im letzten Monat so viele mysteriöse Telefonate geführt haben. Weshalb fing das an, sobald Claudia in Atlantis Urlaub genommen hatte? Vergessen Sie nicht, Georg, dass Sie für meine Schwestern und mich arbeiten. Und wir fordern Antworten. Keine Widerrede.«

Georg ließ die Schultern hängen. Ally blickte tief in seine Augen, in denen sich Tränen bildeten.

»Gut, Ally, ich tue, was Sie verlangen. Aber bitte geben Sie mir nicht die Schuld. Sie müssen mir glauben, dass ich mein Möglichstes unternommen habe.« Georg schluchzte leise in sich hinein.

»Daran zweifle ich keine Sekunde, Georg. Doch wir sind jetzt bereit, endlich die Wahrheit zu erfahren.« Sie ließ ihn los und sah ihn eindringlich an.

»Ja. Das sind Sie«, erwiderte er mit Nachdruck.