XXXI

High Weald, Kent, England

Es ist mir rätselhaft, warum die Vaughans unbedingt in ihrer baufälligen alten Villa wohnen wollen, obwohl es auf dem Gut Bilderbuchhäuschen wie das gibt, in dem Elle und ich jetzt leben. Unser neues Heim verfügt über einen Holzofen, dicke, frei liegende Deckenbalken und eine Aussicht über die geschwungenen grünen Hügel des »Gartens von England«. Ich bin begeistert.

Was die Arbeit angeht, finden Elle und ich Erfüllung in unseren täglichen Pflichten. Elle kocht für dankbare Esser, und ich versorge das traumhafte Grundstück, auf dem High Weald steht. Hin und wieder arbeiten wir auch Hand in Hand, denn Elle verwendet das Gemüse, das ich im Nutzgarten anbaue. Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir innerlich unruhig und unzufrieden sein würden, da uns beiden die Möglichkeit verwehrt ist, unsere Gefühle als Musiker in einem Symphonieorchester auszudrücken – aber das friedliche Landleben ist, wie soll ich es sagen? Vorzuziehen? Nie im Leben habe ich mich so geborgen und geerdet gefühlt. Außerdem haben meine Landschaftsskizzen eindeutig Fortschritte gemacht, sodass Elle mir sogar erlaubt hat, ein paar davon im Wohnzimmer aufzuhängen.

Abends machen wir es uns vor dem Feuer gemütlich und lesen Bücher. Hin und wieder schalten wir das Radio ein, um uns zu vergewissern, dass die Alliierten die Achsenmächte weiter in Schach halten. Doch offen gestanden scheint der Krieg viele Millionen Kilometer weit weg von der ländlichen Idylle zu sein, in der wir nun leben. Da die Kampfhandlungen weiter voranschreiten, muss Archie Vaughan immer mehr Zeit auf dem Luftwaffenstützpunkt in Ashford verbringen. Dennoch ist er stets guter Dinge. Seine Frau Flora ist ebenfalls sehr liebenswert. Viele Stunden arbeitet sie Seite an Seite mit mir im Garten. Die Beschäftigung mit den Blumen scheint ihre Seele zu beruhigen und sie in eine andere Welt zu versetzen. Für so etwas habe ich einen Blick, weil es bei mir mit der Musik das Gleiche ist.

Flora, die rasch festgestellt hat, dass ich kein ausgebildeter Gärtner bin, hat unglaublich viel Geduld mit mir. Jeden Tag lerne ich etwas Neues von ihr, und inzwischen weiß ich die unverfälschte Schönheit der Natur zu schätzen. In ihr ist alles auf eine fein verästelte Weise miteinander vernetzt, und ihre Harmonie hat etwas Majestätisches. Während der langen Nachmittage, die wir das Immergrün stutzen und Büsche beschneiden, hat Flora mir ihre Geschichte erzählt. Ich muss sagen, dass ihr Schicksal dem meinen an Dramatik kaum nachsteht. Ein Glück, dass sie und Archie einander schließlich gefunden haben.

»Viele Jahre habe ich mich gegen die Liebe gesträubt, Mr Tanit«, beichtete sie mir. »Aber mittlerweile habe ich erkannt, dass sie eine Macht ist, der ein Mensch mit seinen bescheidenen Mitteln nicht Einhalt gebieten kann.«

Ich lächelte. »Da haben Sie recht, Lady Vaughan.«

»Ich weiß, dass ich recht habe.« Flora knipste eine braun gewordene Blüte von einem Busch weißer Rosen. »Und jetzt müssen Sie mir verraten, wie Sie Eleanor kennengelernt haben, Mr Tanit.«

Ich antwortete nicht sofort, sondern grub zuerst ein hartnäckiges Unkraut aus, um Zeit zu gewinnen. »Wir sind einander als Waisen in Paris begegnet, Lady Vaughan.«

Flora stemmte die Hände in die Hüften. »Ach, du meine Güte! Ich ahnte ja gar nicht, dass Sie beide elternlos sind.« Sie hielt inne. »Wissen Sie, Teddy …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls finde ich, dass Sie ausgezeichnet zusammenpassen.« Sie untersuchte ein zartes weißes Blütenblatt. »Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass die Liebe einfach in den Sternen geschrieben steht.«

Ich hob den Kopf und blickte sie an. »Ganz richtig, Lady Vaughan. Davon bin ich überzeugt.«

Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Bitte, Mr Tanit, ich weiß nicht, wie oft ich Sie noch bitten soll, mich Flora zu nennen.«

»Tut mir leid, Flora. Bitte nennen Sie mich Bo … Bob. Robert.«

Sie kicherte. »Also gut, dann Bo-Bob-Robert.«

Kopfschüttelnd beugte ich mich über das nächste Unkraut. »Entschuldigen Sie, manchmal verwirrt es mich, mich auf Englisch anstatt auf Französisch zu äußern«, erklärte ich.

»Schon gut. Ich wage gar nicht, mir auszumalen, was Sie beide durchgemacht haben. Es freut mich so sehr, dass Sie einander haben. Wenn Sie sich ansehen, geht ein Zauber von Ihnen aus. Seit wann sind Sie denn verheiratet?«

Ich war froh, mich mit dem schlammigen Boden vor mir beschäftigen zu können. »Oh, das sind jetzt auch schon ein paar Jahre, kurz bevor wir Frankreich verlassen haben. Es war keine große Hochzeit.«

Flora seufzte wehmütig auf. »Das ist auch besser so. Schließlich geht es dabei nur um die beiden Beteiligten, nicht um das, was die anderen sagen.«

Archie und Flora haben eine Tochter, die charmante und kluge Louise. Sie ist freundlich und einfühlsam und leitet einen Trupp »Women’s Land Army«, das sind junge Frauen, die sogenannten Land Girls, die im Krieg Freiwilligendienst in der Landwirtschaft leisten. Unter ihrem Kommando geht ihren Schützlingen, die sie alle vergöttern, die Arbeit leicht von der Hand.

Erst vor Kurzem haben wir Louises Verlobung mit Rupert Forbes gefeiert, einem sanftmütigen und belesenen jungen Mann, der wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht zum Frontdienst einberufen wurde. Dank seiner überragenden Intelligenz und seines selbstbewussten Auftretens hat der britische Geheimdienst ihn prompt rekrutiert, und Archie ist sehr stolz auf ihn.

Das junge Paar ist in die Home Farm, gleich gegenüber dem Haupthaus von High Weald, gezogen, die leer stand, seit der Gutsverwalter seinen Einberufungsbescheid bekommen hat. Ich halte gern im Garten einen Plausch mit den beiden, und es ist immer wieder schön, wenn sie uns zum Abendessen beehren, was sie schon mehrere Male getan haben.

Der Sohn der Vaughans, Teddy, ist das einzige Mitglied der Familie, mit dem ich einfach nicht warm werde. Vor einiger Zeit hat ihn die Universität Oxford aus mir unbekannten Gründen vor die Tür gesetzt. Danach hat er sein Glück bei der Home Guard, der Bürgerwehr, versucht, vergebliche Liebesmüh, weil Teddy einfach nicht in der Lage ist, Befehle zu befolgen. Seine Eltern hatten ihm sogar eine Weile die Leitung der Farm von High Weald übertragen. Doch wegen seiner Schlamperei fiel der jährliche Ertrag unter seiner kurzen Ägide um fast vierzig Prozent. In seiner Verzweiflung hat Archie ihm einen Posten beim Luftfahrtministerium besorgt, aber auch da hielt er nur ein paar Wochen durch.

Oft hören Elle und ich, wie er frühmorgens in seinem Sportwagen an unserem Häuschen vorbeibraust, nachdem er sich in der Stadt die Nacht um die Ohren geschlagen hat. Zumeist ist er in Begleitung wechselnder Frauen, die in seiner Gegenwart unerklärlicherweise dahinschmelzen. Der Himmel weiß, was sie an ihm finden. Mich behandelt er wie ein Stück Dreck an einem seiner teuren Schuhe. Doch ich lasse mich von der Großmannssucht des Jungen nicht weiter stören. Verglichen mit Kreeg Eszu, der an einen bissigen Rottweiler erinnert, ist Teddy Vaughan nur ein jämmerlicher Pinscher.

Allerdings hat dieser Pinscher vor einiger Zeit ein wenig zu heftig nach meiner Ferse geschnappt. Sein Vergehen bestand darin, dass er Elle gegenüber ein paar anzügliche Bemerkungen fallen ließ, die sie sehr bestürzten. Mich kann Teddy meinetwegen nach Herzenslust beleidigen, aber wenn er Elle zu nahe tritt, kriegt er es mit mir zu tun.

»Den knöpf ich mir vor!«, tobte ich, als Elle mir von seinem schmutzigen Mundwerk erzählte. Ich sprang auf, packte meine Jacke und wollte zur Tür stürmen.

»Nein, Bo!« (Wenn wir unter uns sind, sprechen wir uns weiter mit »Bo« und »Elle« an.) Sie hielt mich am Arm fest und sah mich flehend an. »Wir dürfen unsere Stellung hier nicht aufs Spiel setzen. Es ist einfach zu schön hier. Außerdem ist er ja nicht handgreiflich geworden.«

»Das ist mir egal. Er hat etwas gesagt, das dir unangenehm war, und das kann ich nicht dulden.«

Elle nahm mich an der Hand und führte mich zurück zu unserem altersschwachen rosafarbenen Sofa, das mitten im Wohnzimmer stand. »Du darfst unsere Position nicht vergessen. Die Vaughans sind unsere Arbeitgeber, und wir müssen ihnen gegenüber stets höflich und zuvorkommend sein.«

Sosehr ich auch vor Wut kochte, musste ich ihr recht geben. »Aber wenn er dich je anfasst, dann …« Ich beendete den Satz lieber nicht.

»Ja.« Elle nickte.

»Es wird gemunkelt, dass er sich durch sämtliche Betten schläft. Einige Land Girls haben darüber geredet. Offenbar kriegt eines der Mädchen ein Kind von ihm.«

Seufzend lehnte Elle sich auf dem Sofa zurück. »Ja. Tessie Smith. Die Gerüchte stimmen. Allmählich sieht man es ihr an. Und noch schlimmer ist, dass sie einen Verlobten hat, der in Frankreich kämpft.«

Ich schüttelte den Kopf. »Gütiger Himmel. Was sich der Landadel so alles herausnimmt! Daran werde ich mich nie gewöhnen.«

»Ich stecke ihr heimlich ein paar Lebensmittel zu«, fuhr Elle fort. »Schließlich muss sie für zwei essen, und die ausgeteilten Rationen sind einfach jämmerlich.«

Elles Hilfsbereitschaft sorgte dafür, dass mein Ärger verrauchte. Ich nahm sie in die Arme.

In den letzten Monaten sind Teddys Avancen jedoch immer dreister geworden. Elle erzählt mir von seinen widerwärtigen Sprüchen und seinen grapschenden Händen. Erst vorgestern hat er gewagt, den Arm um sie zu legen, obwohl sich sogar Flora in der Küche befand. Dieser Mensch kennt keine Grenzen.

Vor zwei Abenden war ich im Gemüsegarten damit beschäftigt, die Pflanzen, die allnächtlich von hungrigen Kaninchen heimgesucht werden, mit Maschendraht zu schützen. Gerade schnitt ich mir ein Stück zurecht, als ich das vertraute Motorengeräusch eines Autos hörte, das die lange mit Kies bestreute Auffahrt von High Weald entlangfuhr. Bestimmt kehrte Teddy von einem seiner Ausflüge in die Pubs zurück. Doch anstatt den Weg bis zum Haupthaus fortzusetzen, hielt er vor unserem Häuschen. Ich beobachtete, wie er ausstieg und torkelnd hinter dem Wagen verschwand. Überzeugt, dass da etwas im Argen lag, ließ ich das Werkzeug fallen und rannte hin. Bei meiner Ankunft stand unsere Haustür offen. Auf unserem Sofa war Teddy Vaughan über Elle hergefallen.

»Hab dich nicht so, dein Mann braucht es ja nicht zu wissen«, lallte er.

»Bitte lassen Sie mich!«, flehte Elle.

In blinder Wut packte ich Teddy am Kragen und zerrte ihn weg. Elle suchte hinter mir Schutz.

»Er ist einfach reingekommen und hat mich angegriffen«, schluchzte sie.

Teddy erhob sich auf unsicheren Beinen, wankte auf mich zu und holte mit der Faust aus. Doch ich duckte mich weg, sodass mich der Schlag weit verfehlte.

»Verschwinden Sie aus unserem Haus!«, brüllte ich. »Aber schnell!«

»Wassollasheißen, DEIN Haus? Dassis MEIN Haus«, protestierte er mit schwerer Zunge.

»Das ist es ganz bestimmt nicht, Sie widerlicher verwöhnter Bengel. Das Haus gehört Ihren Eltern.«

»Ja, aber irgendwann sind sie tot, und du arbeitest für mich.« Er glotzte Elle lüstern an. »Und dann nehme ich mir, was ich will.«

»Niemals werden wir für Sie arbeiten. Und jetzt raus hier. Sie sind ja betrunken.«

»Ja, bin ich.« Taumelnd kam er näher. »Ich mag betrunken sein, aber wenigstens bin ich kein Lügner.« Er bohrte mir den Zeigefinger in die Brust.

Mir wurde ganz flau, und vor Angst krampfte sich mir das Herz zusammen. »Wovon, zum Teufel, reden Sie?«

»Du bist gar kein Franzose. Ich hatte in Oxford mal einen französischen Mitbewohner, der klang ganz anders als du. Du bist ein kleiner Betrüger, Tanit.« Er torkelte rückwärts und riss die Arme hoch. »Vielleicht bist du ja ein Spion! Ich sollte dich beim Kriegsministerium anzeigen.«

Ich ließ mich nicht einschüchtern. »Und was genau sollte ich Ihrer Ansicht nach in High Weald ausspionieren? Kartoffeln?«

»Mein Vater ist ein sehr wichtiger Mann. Vielleicht willst du ja rauskriegen, was er auf dem Luftwaffenstützpunkt so treibt. Oder?« Er drohte mir mit dem Finger. »Ein Anruf genügt, und die Polizei ist hier. Das würde dir gar nicht gefallen, richtig, Tanit? Die stochern dann rum und stellen alle möglichen unangenehmen Fragen. Vielleicht sperren sie dich ja ein. Aber keine Angst, ich passe gut auf deine Frau auf …« Er grinste Elle anzüglich zu. Ich schnappte mir Teddy am Kragen und schleifte ihn zur Tür. »He, Finger weg von mir! Du bist doch nichts weiter als ein Dienstbote. Und mehr wirst du auch nie sein …« Nachdem ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt hatte, drehte ich mich zu Elle um.

»Ist dir etwas passiert?«

»Nein. Ich habe gerade gelesen. Da ist er einfach reingestürmt, und … Ich wusste nicht, ob du noch rechtzeitig kommst.« Sie brach in Tränen aus.

»Ich werde dich immer beschützen, Elle.« Fest drückte ich sie an mich. »Ich weiß, dass er oft im Pub ist, aber so betrunken habe ich ihn noch nie erlebt. Der Mann war völlig außer sich.« Elle begann zu zittern. »Komm und setz dich, mein Liebling. Ich mache dir einen Tee mit viel Zucker.«

Ich führte sie zum Sofa und ging in unsere gemütliche Küche, wo ich den kleinen Kupferkessel füllte und auf den Herd stellte. Als ich den Blick durch unser behagliches Häuschen schweifen ließ, wurde mir schwer ums Herz. Denn ich ahnte, worauf es unweigerlich hinauslaufen würde.

»Ich glaube, ich weiß, warum Teddy so betrunken war«, sagte Elle schniefend. »Offenbar hat Lady Vaughan vorhin ein ernstes Wort wegen Tessie Smith mit ihm geredet. Das erzählen wenigstens die Mädchen.«

Ich seufzte. »Das wäre eine mögliche Erklärung.« Ich setzte mich zu ihr aufs Sofa. »Gleich morgen früh müssen wir bei Flora kündigen.«

Elle senkte den Kopf. »Nein.«

Ich legte den Arm um sie. »Ich verstehe dich, mein Liebling. Doch da gibt es kein Wenn und Aber. Wir sind hier nicht mehr sicher. Teddy darf nicht in deine Nähe kommen. Außerdem kann ich nicht riskieren, dass er die Behörden informiert. Wir haben keine andere Wahl«, verkündete ich ernst.

Elle blickte mich an. »Traust du Teddy so etwas wirklich zu?«

Ich zuckte traurig mit den Achseln. »Wer kann das schon wissen? Gut, er war betrunken. Doch das Risiko ist einfach zu hoch.«

»Aber Bo. Wir waren hier so glücklich!«, protestierte Elle. »Ich bin nicht sicher, ob ich es wieder schaffe, noch einmal bei null anzufangen. Es ist zu viel.«

Der Teekessel pfiff, und ich stand auf. »Ich wäre so gern für immer geblieben. Doch wenn wir zusammen sein wollen, müssen wir fort, Elle.« Ich goss heißes Wasser in eine Tasse und seihte die Teeblätter ab.

»Würdest du das schaffen, Bo? Wieder ganz von vorne beginnen? Alles hinter dir zu lassen, was wir uns hier aufgebaut haben?«

Ich reichte ihr die dampfende Tasse und nahm wieder Platz. »Elle, als ich ein kleiner Junge war, dachte ich, ein Zuhause bedeute Schutz, Geborgenheit und regelmäßige Mahlzeiten.« Ich griff nach ihrer freien Hand. »Doch du hast mir gezeigt, dass ein Zuhause kein Ort ist, sondern unser Gefühl für den Menschen, den wir lieben. Solange ich bei dir bin, bin ich zu Hause.«

Eine Weile saßen wir Hand in Hand da, wie benommen von der Erkenntnis, dass wir schon wieder gezwungen waren, alles aufzugeben.

Schließlich ergriff Elle das Wort. »Wohin gehen wir diesmal?«

Ich stützte den Kopf in die Hände. Inzwischen war der Adrenalinstoß wegen meiner Auseinandersetzung mit Teddy abgeflaut, und ich empfand eine abgrundtiefe Erschöpfung. »Was hältst du von London?«, fragte ich. »Dort gibt es sicher Arbeit genug.«

»Etwa in einer Munitionsfabrik?« Erschrocken fuhr Elle zurück.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, mein Liebling. Laut Archie kann die Befreiung Frankreichs jeden Moment beginnen. Er sprach von der Landung gewaltiger Streitkräfte an der normannischen Küste. Ich glaube, in London kann uns nichts geschehen.«

Elle nippte an ihrem Tee. Mittlerweile hatte sie wieder etwas Farbe im Gesicht. »Bestimmt ist dir klar, was ein Ende des Krieges für dich bedeutet. Ich wäre dann zwar vor Verfolgung sicher, aber Kreeg Eszu hätte die Freiheit zu reisen, wohin er will. Wenn er herausfindet, wo wir sind …«

»Ich weiß«, unterbrach ich sie. »Umso mehr Grund weiterzuziehen.«

Am nächsten Morgen erwartete ich Flora Vaughan in der riesigen Küche von High Weald, während Elle in unserem Häuschen unsere Sachen packte. Die Pracht des Herrenhauses machte mir nur umso schmerzlicher bewusst, was wir hinter uns lassen würden.

»Guten Morgen, Mr Tanit!« Flora lächelte strahlend und freute sich sichtlich, mich zu sehen. »Wir treffen uns nur selten hier in der Küche.« Sie blickte mich besorgt an. »Fühlt Mrs Tanit sich nicht wohl?«

»Doch, doch, es geht ihr blendend. Danke, Lady Vaughan.«

Sie verdrehte in gespieltem Tadel die Augen. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich für Sie Flora bin, Mr Tanit?«

»Danke, Lady Vaughan«, erwiderte ich, wobei ich die Anrede mit Bedacht wählte. »Leider habe ich eine schlechte Nachricht für Sie. Mrs Tanit und ich haben uns entschieden, High Weald noch heute zu verlassen.«

Flora starrte mich verständnislos an. »Was soll das heißen, Mr Tanit? Dürfte ich den Grund erfahren?«

Ich zögerte. Einerseits musste sie über Teddys Verhalten Bescheid wissen, andererseits machte ihr die Sache mit Tessie vermutlich schon genug zu schaffen. »Ich möchte den Grund nicht weiter ausführen, Lady Vaughan«, entgegnete ich deshalb. »Aber wir wollen Ihnen aus tiefstem Herzen für alles danken, was Sie für uns getan haben. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass wir einige der glücklichsten Jahre unseres Lebens hier in High Weald verbracht haben.«

Flora schüttelte fassungslos den Kopf. »Eine grundlose Kündigung kann ich nicht akzeptieren, Mr Tanit. Ich glaube, mindestens das sind Sie mir schuldig.«

Ihr Einwand hatte etwas für sich. »Es ist das Beste so, Ma’am«, antwortete ich und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Mrs Tanit fühlt sich in High Weald unbehaglich.«

Flora schloss langsam die Augen und atmete tief durch. »Teddy«, stellte sie fest.

»Wie ich schon sagte, Lady Vaughan, möchte ich den Grund nicht weiter ausführen.«

Flora rieb sich die Schläfen. »Es tut mir wirklich leid, Mr Tanit. Der Junge ist außer Rand und Band.« Sie blickte aus dem Fenster hinaus in den Gemüsegarten, den wir so viele Stunden lang mit vereinten Kräften gepflegt hatten. »Mir werden unsere Gespräche fehlen, in denen wir die Probleme dieser Welt gelöst haben.« Sie drehte sich wieder zu mir um. »Ganz zu schweigen von Ihrem grünen Daumen.«

»Das habe ich nur von Ihnen gelernt, Lady … Flora.«

Sie schenkte mir ein trauriges Lächeln. »Ich verlange von Eleanor nicht, dass sie noch einmal ins Haus kommt, aber richten Sie ihr vielen, vielen Dank von mir aus und auch, dass ich sie ebenfalls sehr vermissen werde.« Flora musterte mich mit nachdenklicher Miene. »Ich kann mich inzwischen kaum noch daran erinnern, wie es in High Weald ohne Sie beide war.«

»Wie freundlich von Ihnen, das zu sagen«, erwiderte ich, und das war mein Ernst.

»Wohin geht es als Nächstes?«, erkundigte sie sich.

»Eigentlich wollten wir nach London. Dort finden wir am schnellsten Arbeit.«

»Kommen Sie finanziell zurecht? Ihnen soll es an nichts fehlen. Schließlich ist der Rüpel, den ich zum Sohn habe, der Grund für Ihren Aufbruch.«

»Ich habe nie gesagt, dass Ihr Sohn …«

»Das brauchen Sie auch nicht, Mr Tanit.« Plötzlich leuchteten Floras Augen auf. »Könnten Sie einen Moment warten? Ich habe da etwas, das ich Ihnen gern geben würde.« Ehe ich Gelegenheit zu einer Antwort hatte, war Flora schon aus dem Raum und die Treppe hinauf gehastet. Als sie zurückkam, hatte sie eine kleine blaue Schachtel in der Hand. »Das hier ist mein Geschenk an Sie. Ohne prahlerisch klingen zu wollen, möchte ich hinzufügen, dass es ausgesprochen wertvoll ist. Wenn Sie es verkaufen, haben Sie genug Geld für einen Neuanfang.«

Ich erschrak. »Oh, Flora, das kann ich niemals …«

»Sie wissen ja noch gar nicht, was es ist!« Vorsichtig öffnete sie die Schachtel, sodass ein kleiner Panther aus Onyx zum Vorschein kam. »Auf den ersten Blick macht er nicht viel her, aber er wurde von einer Firma namens Fabergé angefertigt. Solche Stücke sind unglaublich kostbar.«

Flora konnte nicht ahnen, dass mir das Unternehmen Fabergé wohlbekannt war. Mein Vater hatte mir oft von den wertvollen Arbeiten erzählt. »Bitte, Flora, ich weiß, wie viel dieses Stück gekostet haben muss, und dass ich es annehme, kommt überhaupt nicht infrage. Vielen Dank, aber ich kann nicht.«

Flora ließ sich nicht beirren. »Mr Tanit, der Mann, der mir diesen Panther geschenkt hat, mein Vater, weilt nicht mehr unter uns. Wahrscheinlich hat er ihn mir deshalb gegeben, damit ich mich mit seiner Hilfe nötigenfalls aus einer misslichen Lage befreie.« Einen Moment schien sie den Tränen nah. »Nach dem Tod meines Vaters ist Archie wieder in mein Leben getreten. Jetzt lebe ich hier in High Weald in Glück und Wohlstand. Ich brauche diesen Panther nicht, den ich in einer Schublade aufbewahre und schon seit Jahren nicht angesehen habe. Ganz gewiss hätte mein Vater gewollt, dass Sie ihn bekommen.« Sie drückte ihn mir in die Hand. »Von einem guten Menschen an einen anderen.«

»Flora, es ist ein Familienerbstück.«

Sie grinste spöttisch. »Nun, er ist wirklich ein Familienerbstück, allerdings nicht im üblichen Sinne, Mr Tanit. Ich versichere Ihnen, dass ich mich gern davon trenne. Falls Sie keine praktische Verwendung dafür haben, behalten Sie ihn bitte als Erinnerung an Ihre Zeit hier in High Weald.«

Jeder Widerspruch war zwecklos, Flora wollte, dass ich den Panther bekam. »Also gut. Ich bewahre ihn auf. Danke für alles.« Zu meiner Überraschung umarmte sie mich fest. Ich erwiderte die Geste.

»Danke, Mr Tanit«, sagte sie noch einmal, als ich mich zum Gehen wandte. »Und Sie wollen High Weald wirklich noch heute Abend verlassen?«

»Ja.« Auf keinen Fall wollte ich Teddy noch einmal begegnen. »Es muss sein.«

»Wo wollen Sie wohnen? London ist eine teure Stadt.«

Ich atmete tief durch. »Das weiß ich noch nicht, aber wir werden schon etwas finden«, beteuerte ich.

Flora überlegte. »Vielleicht brauchen Sie das ja gar nicht. Ich habe doch meine Freundin Beatrix Potter erwähnt, richtig, Mr Tanit?«

»Ja, natürlich«, antwortete ich. Ich hatte großen Spaß an ihren Geschichten über die Kinderbuchautorin gehabt und erinnerte mich an Floras Trauer, als diese letztes Jahr um die Weihnachtszeit gestorben war.

»Habe ich auch erwähnt, dass sie mir ihren Buchladen vermacht hat?«

Ich überlegte kurz. »Ich glaube nicht.«

»Er liegt sehr zentral in Kensington«, fuhr sie aufgeregt fort. »Eigentlich wollte ich ihn Louise und Rupert zur Hochzeit schenken, doch bis es so weit ist, kann ich frei darüber verfügen. Das sage ich deshalb, weil es über dem Laden eine kleine Wohnung gibt. Bitte haben Sie keine Hemmungen, sie zu benutzen, bis Sie eine dauerhafte Bleibe gefunden haben.«

Mir fehlten die Worte. »Flora, sind Sie sicher?«

Sie lächelte mich an. »Absolut sicher. Moment, ich schreibe Ihnen die Adresse auf.« Sie nahm Bleistift und Papier aus einer Küchenschublade. »Wahrscheinlich befindet sich die Wohnung in keinem sehr guten Zustand. Aber sie ist hoffentlich bewohnbar.« Sie reichte mir den Zettel.

Arthur Morston Books

190 Kensington Church Street

London W8 4DS

»Flora … danke«, stammelte ich gerührt.

»Das ist doch wohl das Mindeste, Mr Tanit. Ich hole Ihnen den Schlüssel.«

Danach verließ ich die Küche und machte mich auf den Fußmarsch zu unserem Häuschen. Auf halbem Wege drehte ich mich noch einmal zum Haupthaus um. Trotz des an manchen Stellen bröckelnden Mauerwerks und der zum Teil morschen Fenster bot es einen beeindruckenden Anblick. So viele Jahre lang hatte es durchgehalten und zahlreiche Veränderungen und viele Generationen von Vaughans überdauert. Und dennoch ragte es noch immer massiv und ehrfurchtgebietend in den Himmel.

Ich wandte mich rasch ab und ging weiter. Hinein in eine neue Zukunft.