Schließlich erreichten Elle und ich mit unseren zwei Koffern den Buchladen Arthur Morston Books in der Kensington Church Street. Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür aufschob, klingelte ein Glöckchen. Ich tastete nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Elle und mir bot sich ein überwältigender Anblick. Riesige Eichenholzregale voll mit Büchern der verschiedensten Genres bedeckten die Wände. Außerdem waren da noch einige Verkaufstische, auf denen sich ein wildes Sammelsurium verschiedener Bände türmte, so als hätte jemand auf den Tausenden von Seiten einen ganz bestimmten Absatz gesucht.
»Wundervoll!«, rief Elle aus.
Wir streiften durch den Laden und schnupperten den zarten Vanilleduft, der unerklärlicherweise von alten Büchern auszugehen schien. Nach einer Weile entdeckten wir hinter der Kasse eine Tür, die in die ein wenig schäbige Wohnung führte. Obwohl die sich wellende grüne Tapete und der kläglich dünne Teppich nach der antiquarischen Pracht im Laden einen ziemlichen Schock bedeuteten, war die Wohnung ein Geschenk des Himmels. Nachdem wir ausgepackt hatten, gingen wir wieder nach unten und durchstöberten begeistert wie Kinder in einem Süßwarenladen die Regale von Arthur Morston Books.
Die Bücher eigneten sich großartig dazu, uns von unserer Wehmut abzulenken, denn schließlich hatten wir gerade ein idyllisches Leben hinter uns gelassen. »Wir würden Jahre brauchen, um das alles zu lesen«, meinte ich lachend zu Elle.
»Stimmt. Ich finde es fantastisch, über einer Buchhandlung zu wohnen.«
Ich ging durch den Laden zu ihr hinüber. »Ich glaube, wir werden uns in London wohlfühlen. Wir können wieder Konzerte und Theateraufführungen besuchen und an der Themse spazieren gehen, so wie wir es als Kinder in Paris an der Seine gemacht haben.«
Seufzend stellte sie den Gedichtband, in dem sie gelesen hatte, zurück ins Regal. »Du hast recht, ich werde mir Mühe geben, diesen Schritt positiv zu sehen, aber …« Sie zögerte. »Ich hätte mir wirklich vorstellen können, für immer in High Weald zu bleiben. Ich dachte, wir könnten irgendwann heiraten und Kinder bekommen. Und jetzt frage ich mich, ob das wohl je passieren wird.«
Ich gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. »Bitte glaub mir, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche. Eines Tages, wenn wir in Sicherheit sind, heiraten wir.«
Elle ließ den Kopf hängen. »Ich weiß, ein Trauschein ist nur ein Stück Papier.«
»Aber ein wichtiges«, ergänzte ich und streichelte ihr übers Haar. »Und sobald das erledigt ist, kriegen wir tausend Kinder, Ehrenwort.«
»Tausend?« Sie kicherte.
»Ach, mindestens«, bestätigte ich. »Schließlich müssen wir uns ja irgendwie beschäftigen, wenn wir sesshaft geworden sind.«
»Warum fangen wir nicht erst mal mit einem an und schauen, wie es klappt?«
»Wie du möchtest, Elle. Und wenn wir uns zunächst mit einem begnügen, was hättest du dann lieber? Einen Jungen oder ein Mädchen?«, fragte ich.
Sie überlegte einen Moment. »Solange das Kind zur Hälfte ist wie du, werde ich es auf jeden Fall lieben.« Sie lehnte den Kopf an meine Schulter.
Die nächsten Tage verbrachten Elle und ich damit, die Tausende von Büchern im Laden zu ordnen und zu katalogisieren. So waren wir wenigstens beschäftigt, und wieder spielte sich zwischen uns rasch ein Arbeitsablauf ein.
»Meinst du, Flora erlaubt uns, einen Teil der Bücher für sie zu verkaufen? Es ist ein Jammer, dieses wundervolle Sortiment in den Regalen verstauben zu lassen«, sagte Elle. »Das Geld, das wir einnehmen, könnte High Weald zugute kommen.« Ihre Idee schien sie zu begeistern. »Wir könnten sogar neue Bücher bestellen, falls es Flora recht ist. Natürlich nur, bis Louise und Rupert hier sind.«
Ich dachte über ihren Vorschlag nach. »Am besten fragen wir sie einfach«, erwiderte ich.
Also schrieben wir an Flora, erhielten jedoch über zehn Tage lang keine Antwort. Als der Umschlag endlich durch den Briefschlitz der Ladentür rutschte, war Arthur Morston Books blitzblank und bereit für die Kundschaft. Leider lieferte uns der traurige Inhalt des Briefs die Erklärung für Floras Schweigen.
Liebe Mrs Tanit, lieber Mr Tanit,
ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass mein Mann in der auf Ihre Abreise folgenden Nacht verstorben ist. Er wurde zusammen mit vierzehn seiner Kameraden auf dem Luftwaffenstützpunkt Ashford getötet, als eine Bombe das Zelt traf, in dem er schlief. Unmittelbar danach sind High Weald und das gesamte Vermögen seines Vaters an seinen einzigen Sohn Teddy übergegangen, wie es das Gesetz vorsieht.
Doch keine Sorge, Arthur Morston Books bleibt mein Eigentum, das Teddy mir nicht wegnehmen kann. Ich beabsichtige auch weiterhin, den Laden im Sommer nach der Hochzeit meiner Tochter und ihrem Mann zu schenken. Bis dahin gestatte ich Ihnen nur zu gern, die Bücher zu verkaufen und die Lagerbestände aufzufüllen. Falls Sie als Buchhändler erfolgreich sind, wären Louise und Rupert vielleicht bereit, Ihnen die Führung der Geschäfte zu übertragen. Doch diese Entscheidung liegt natürlich bei den beiden.
Leider kann ich nicht mehr lange im Haupthaus von High Weald wohnen bleiben, da Teddy sich mit Heiratsplänen trägt, weshalb ich ins Witwenhäuschen übersiedeln werde. Ich schreibe Ihnen die genaueren Einzelheiten, sobald ich sie selbst kenne. Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, dass Sie die Erlöse aus dem Laden nach High Weald schicken wollen. Aber ich muss darauf bestehen, dass Sie sämtliche Gewinne selbst behalten.
Liebe Grüße,
Flora V.
»Er wirft seine eigene Mutter aus dem Haus! Eine Frechheit!«, schimpfte Elle.
Die Nachricht hatte uns beide erschüttert. »Die arme Flora. Ihr über alles geliebter Mann stirbt, und der Nichtsnutz von einem Sohn kriegt alles. Wie entsetzlich ungerecht.«
»Denkst du, es liegt an uns, Bo?«, fragte Elle. »Lastet vielleicht ein Fluch auf uns? Wir scheinen eine Spur aus Leid und Elend hinter uns her zu ziehen.«
Den restlichen Abend sprachen wir über Archie Vaughan und die vielen guten Dinge, die wir ihm verdankten.
Drei Tage später feierte Arthur Morston Books Eröffnung. Wie wir bald feststellen konnten, machten wir glänzende Umsätze, denn nach den dunklen Tagen des Londoner Blitzkriegs wünschten sich die Menschen Geschichten, die sie in eine andere Welt entführten.