XXXIII

Gerade war ein erfolgreiches Geschäftsjahr vorüber, als die BBC am 8. Mai 1945 das siegreiche Ende des Krieges in Europa verkündete. Das ganze Land feierte Deutschlands bedingungslose Kapitulation. Endlich schwiegen die Waffen. Elle und ich tanzten mit den Briten in den Straßen. Und dann, Anfang Juni, fiel ein cremefarbenes Kuvert durch den Briefschlitz der Ladentür von Arthur Morston Books. Der Brief war an »Mr Tanit« adressiert. Ich setzte mich mit dem Umschlag an meinen kleinen Schreibtisch hinten im Laden und riss ihn auf.

Sehr geehrter Mr Tanit,

ich hoffe, dass dieser Brief die Person erreicht hat, für die er bestimmt ist.

Mein Name ist Eric Kohler, und ich bin Anwalt in einer Genfer Kanzlei. Leider ist es meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Großmutter Agatha Tanit vor einiger Zeit, genauer gesagt 1929, im Alter von einundneunzig Jahren verstorben ist. Da mir leider nicht bekannt ist, ob Sie in engem Kontakt zu Ihrer Familie stehen, bedauere ich es sehr, wenn ich mit diesem Schreiben mit der Tür ins Haus gefallen sein sollte, und bitte Sie vielmals um Entschuldigung.

Der Erbe von Agathas Vermögen, Ihr Vater Iapetos Tanit, ist traurigerweise ebenfalls verstorben. Er wurde 1923 in Südossetien an der georgischen Grenze aufgefunden. Als Todesursache wurde Erfrieren festgestellt.

Aufgrund seiner Anstellung bei der russischen Zarenfamilie wurde seine Leiche von den Soldaten, die ihn entdeckt hatten, erkannt. So sprach sich die Nachricht langsam in Europa herum, bis sie schließlich Ihrer Großmutter zu Ohren kam.

Als Agatha vom Tod ihres Sohnes erfuhr, machte sie sich auf die Suche nach ihrem einzigen Enkelkind und investierte hohe Geldsummen und viel Zeit in ihre Nachforschungen. Irgendwann fand sie heraus, dass Sie sich in Sibirien aufhielten. Doch als ihre Vertreter dort ankamen, waren Sie bereits verschwunden.

Inzwischen durchkämme ich seit über einem Jahrzehnt den Kontinent nach einem Mann, der den Namen »T anit« trägt und schätzungsweise in Ihrem Alter ist. Wie ich zugeben muss, habe ich diesen Brief schon einige Male in verschiedenen Versionen geschrieben, hatte jedoch bei den bisherigen Empfängern kein Glück. Im Rahmen meiner monatlichen Nachfragen, die ich im Auftrag Ihrer verstorbenen Großmutter betreibe, bin ich vor Kurzem auf Ihren Namen gestoßen, und zwar in Unterlagen, die Sie als den Geschäftsführer dieses Buchladens in London ausweisen.

Ich hoffe wirklich sehr, Mr Tanit, dass Sie tatsächlich Agathas Enkelsohn und somit der Begünstigte ihres Testaments sind. Um mich davon zu vergewissern, müsste ich Sie darum bitten, in die Schweiz zu reisen, damit ich Sie persönlich kennenlernen und Ihnen einige entscheidende Fragen stellen kann. Selbstverständlich werden die Reisekosten übernommen. Wenn Sie also bitte so freundlich wären, mich über Ihre zeitliche Planung in Kenntnis zu setzen, damit ich alles Nötige für Ihre Reise veranlassen kann.

Mit freundlichen Grüßen,

E. Kohler

Ich legte den Brief auf den Schreibtisch. Im nächsten Moment traten mir unerwartet Tränen in die Augen. Mir war, als strecke sich die Hand meines Vaters nach mir aus.

»Bo? Was ist passiert?«, fragte Elle, die meine Aufgewühltheit bemerkte. Ich reichte ihr den Brief.

Sie las ihn. »Oh, mein Liebling. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, und wage kaum, mir vorzustellen, wie du dich fühlst.« Fest drückte sie mich an sich. »Das mit deinem Vater tut mir sehr leid.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich führe mich albern auf. Natürlich wusste ich es, Elle. Aber es so schwarz auf weiß zu lesen bringt mir alles wieder zu Bewusstsein.« Ich seufzte. »Nach all den Jahren der Ungewissheit steht nun fest, dass er es nur bis Georgien geschafft hat.«

Sanft streichelte Elle mir den Rücken. »Das macht es noch bewundernswerter, dass du überhaupt bis Paris gekommen bist. Aber was ist mit deiner Großmutter Agatha? Wusstest du von ihr?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nein. Als mein Vater sich an diesem folgenschweren Tag 1923 auf den Weg machte, sagte er zu mir, er wolle in die Schweiz, um Hilfe zu holen.« Ich stand auf, ging zur Ladentür und drehte das Schild auf »Geschlossen«. »Ich hatte keine Ahnung, wo er diese Hilfe zu finden hoffte. Offenbar wollte er zu seiner Mutter.« Ich holte tief Luft.

Elles Miene war zweifelnd. »Eines verstehe ich trotzdem nicht. Wenn Iapetos so eine wohlhabende Mutter hatte, warum lebte er dann in Sibirien in derart ärmlichen Verhältnissen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe dir doch erzählt, was für ein Mensch er war. Wie du in dem Brief lesen konntest, wurde er oft in Begleitung der Romanows gesehen. Nach der Revolution musste er sich bedeckt halten, um uns nicht zu gefährden.«

Elle ließ sich in einem der großen Ohrensessel nieder, die wir für die Kundschaft in den Laden gestellt hatten. »Es ist trotzdem kaum zu fassen, dass ihr Anwalt dich aufspüren konnte.«

Da konnte ich ihr nicht widersprechen. »Vermutlich hat Flora irgendwelche amtlichen Formulare weitergeleitet, auf denen unser Name stand.« Ich strich mir nachdenklich übers Kinn und stellte mir die Kette der Ereignisse vor, die zu meiner Entdeckung geführt hatten. »Es muss Schicksal gewesen sein, dass ich Archie Vaughan damals meinen echten Namen genannt habe. Was mir allerdings Sorgen bereitet, ist, dass Mr Kohler uns so mühelos finden konnte. Wie ich dir schon erklärt habe, kann Kreeg nun, da der Krieg vorbei ist, nach Herzenslust durch die Welt reisen.«

»Falls er noch lebt«, wandte Elle ein. »Viele sind ums Leben gekommen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Dieses Glück habe ich ganz sicher nicht.«

Elle lächelte mich mitfühlend an. »Triffst du dich mit Mr Kohler?«, fragte sie.

»Ja«, erwiderte ich entschieden. »Als kleiner Junge habe ich mich durch den Schnee auf den Weg gemacht und wollte in die Schweiz. Es wird allmählich Zeit, dass ich diese Reise beende.«

»Und wann geht es los?«

»Sobald Mr Kohler Zeit für mich hat.« Ich ließ den Blick über die Bücherregale im Laden schweifen. »Keine Ahnung, wie viel Geld Agatha zu vererben hatte. Aber stell dir nur vor, was wir mit einer beträchtlichen Summe alles machen könnten. Ich könnte uns endlich Sicherheit erkaufen.« Einen Moment gestattete ich mir zu träumen. »Wir könnten uns ein abgeschiedenes kleines Haus zulegen, Elle. Mit genügend Geld und einer Portion Geschick …«

»… könnten wir es schaffen, uns Kreeg für immer vom Leib zu halten.«

Nachdem ich einige Nachforschungen angestellt hatte, die ergaben, dass Kohler & Schweikart tatsächlich eine seriöse Anwaltskanzlei war, bestieg ich eine Woche später die Fähre nach Frankreich. Eine dreitägige Zugfahrt brachte mich nach Genf, wo Eric Kohler in einem prachtvollen Gebäude in der Rue du Rhône residierte. In der beeindruckenden Empfangshalle gab es tatsächlich ein Wasserspiel, und ich beobachtete etwa zwanzig Minuten lang sein anmutiges Plätschern, während ich auf den Anwalt wartete. Schließlich öffnete sich eine große Tür aus Walnussholz, und ein makellos gekleideter blonder Mann mit modischer Frisur erschien.

»Mr Robert Tanit?« Als ich nickte, schüttelte er mir die Hand. »Eric Kohler. Bitte folgen Sie mir.« Er ging durch die Walnusstür voran in ein Büro mit beeindruckend hoher Decke. Sein Schreibtisch stand vor gewaltigen Bogenfenstern, die einen malerischen Blick auf den still daliegenden Genfer See boten. »Nehmen Sie Platz.« Er wies auf den mit grünem Leder bezogenen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs.

»Danke.«

Eric Kohler musterte mich, vermutlich um festzustellen, ob ich Agatha ähnlich sah. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise«, sagte er.

»Ja, danke. Ich glaube, dass ich noch nie eine so erholsame Zugfahrt erlebt habe. Ihr Land ist wirklich wunderschön.«

Mr Kohler lächelte. »Das höre ich gern. Klein, aber sehr malerisch.« Er drehte sich um und wies aus dem Fenster. »Mit einem großen See.« Seine offene Art vertrieb meine Nervosität. »Obwohl es mich, wie ich zugeben muss, wundert, dass Sie es als mein Land bezeichnen. Ist es denn nicht auch Ihres?«

»Oh.« Ich überlegte einen Moment. »Vermutlich schon, und zwar in dem Sinne, dass es das Land meines Vaters ist. Aber ich wurde nicht in der Schweiz geboren und bin zum ersten Mal hier.«

Mr Kohler nickte. »Sie sind in Russland zur Welt gekommen, richtig?«

Ich zögerte, da ich mich fragte, wie viel der Anwalt eigentlich wusste. »Ja.«

»Hm.« Mr Kohler lehnte sich zurück. »Wir haben einiges zu besprechen. Doch zuvor muss ich Ihre Identität überprüfen. Haben Sie Ihre Papiere bei sich?«

Wieder zögerte ich. »Meinen britischen Ausweis und einen Pass.«

»Ausgezeichnet!« Der Anwalt klatschte in die Hände.

»Aber ich will Ihnen nichts vormachen, Mr Kohler. Diese Dokumente hat mir Archie Vaughan, mein früherer Arbeitgeber, beschafft. Er hatte Verbindungen in die obersten Kreise des britischen Militärs und deshalb die Möglichkeit, diese Papiere für mich und meine Gefährtin zu besorgen.« Mr Kohlers Blick wurde argwöhnisch. »Damit wollte ich eigentlich sagen, dass Daten wie mein Geburtsort und mein Alter vielleicht nicht mit den Angaben in Ihren Unterlagen übereinstimmen.«

Mr Kohler legte die Handflächen aneinander und beugte sich über den Schreibtisch. »Dürfte ich erfahren, warum Sie keine Originaldokumente besitzen, Mr Tanit?«

»Falls ich je eine Geburtsurkunde besessen habe, ist sie inzwischen unter sibirischem Schnee begraben. Ich musste als kleiner Junge aus Russland fliehen. Mir blieb nichts anderes übrig, Mr Kohler, weil ich um mein Leben fürchtete. Mein Vater war schon seit langer Zeit fort, und ich dachte …«

»… dass es besser wäre zu verschwinden«, unterbrach mich Mr Kohler mit einem wissenden Nicken. Ein verständnisvolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. War ihm etwa bekannt, dass Kreeg Eszu mir nach dem Leben trachtete? »So etwas habe ich mir fast gedacht, Mr Tanit«, fuhr er fort. »Ihre Großmutter hat mich darauf vorbereitet.«

»Verzeihung, Mr Kohler, ich verstehe nicht ganz«, tastete ich mich, gleichzeitig neugierig und ängstlich, vor.

»Es gibt hier keine Geheimnisse, Mr Tanit. Ich weiß alles.« Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. »Ihr Vater Iapetos Tanit gehörte vor der Revolution dem Hofstaat von Zar Nikolaus II. an, richtig?« Ich nickte langsam. »Er unterrichtete den Zarewitsch und seine Schwestern in klassischer Literatur und Musik. Deshalb war er, so wie alle, die in Kontakt zur Zarenfamilie standen, für die Bolschewisten vorbelastet. Darum fürchtete Ihr Vater nach der Oktoberrevolution, im Zuge derer der Zar gestürzt und hingerichtet wurde, um sein Leben und floh. Als er nicht zu Ihnen zurückkehrte, folgten Sie ihm, da Sie ebenfalls damit rechneten, getötet zu werden.« Der Anwalt schien sehr mit sich zufrieden. »Ist das in etwa korrekt?«

Jedes Wort entsprach der Wahrheit. Er hatte lediglich das zentrale Thema, also Kreeg und den Diamanten, ausgelassen. Ich beschloss, ihm nicht zu widersprechen. »Ja, Mr Kohler. Alles, was Sie gesagt haben, trifft zu.«

Er stand auf und ging langsam vor der Fensterfront seines Büros auf und ab wie Poirot, wenn er im Begriff ist, den Mörder zu überführen. »Aus den soeben genannten Gründen sind Sie schon Ihr Leben lang auf der Flucht, getrieben von der Angst, jeden Moment könnte jemand im Auftrag der Sowjetregierung auftauchen und Ihnen die Kehle durchschneiden. Denn schließlich gehörten Sie ja dem Hofstaat des Zaren an.« Er betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Vor lauter Furcht sind Sie kreuz und quer durch Europa gereist und haben dabei immer wieder den Beruf gewechselt. Und auch Ihren Namen.«

Mit seiner Erklärung kam er der Wahrheit ziemlich nah. »Sie sind sehr scharfsinnig, Mr Kohler«, stellte ich fest.

»Ich hatte viel Zeit, die Einzelheiten zu einer Geschichte zusammenzufügen.« Er setzte sich wieder und griff in eine Schublade. »Da nun alles auf dem Tisch ist, fangen wir einmal mit der Bestätigung Ihres Geburtsnamens an, denn wir beide wissen, dass dieser nicht ›Robert‹ lautet.« Ich schwieg. »Ich nehme doch an, dass Sie sich noch daran erinnern«, fügte er in mitfühlendem Ton hinzu.

»Ja«, stammelte ich. »Es ist nur so … Es war in einem anderen Leben.«

»Ich verstehe. Nun, eines kann ich Ihnen jedenfalls versprechen, Mr Tanit: Sie sind absolut sicher vor Verfolgung durch die Sowjets. Die haben die Jagd auf Getreue des Zaren nämlich vor rund zehn Jahren eingestellt. Abgesehen davon, dass sie das Kind eines Lehrers ohnehin nicht interessieren dürfte. Es kann Ihnen nichts geschehen, das versichere ich Ihnen.«

»Das ist eine sehr beruhigende Nachricht. Danke, Mr Kohler«, erwiderte ich.

»Deshalb müssen Sie auch nicht mehr auf der Flucht sein und sich unter falschem Namen verstecken. Sie haben durch Geburt ein Anrecht auf die Schweizer Staatsbürgerschaft. Falls Sie also beschließen sollten, hier Ihren Wohnsitz zu nehmen, sind Sie herzlich willkommen. Und nun nennen Sie mir bitte Ihren Vornamen.«

»Atlas«, murmelte ich.

»Ein ausgezeichneter Anfang!«, verkündete Mr Kohler fröhlich.

Im Lauf der Jahre habe ich die unmöglichsten Verrenkungen unternommen, um bloß meinen recht ungewöhnlichen Namen nicht benutzen zu müssen. Die aufmerksame Leserschaft erinnert sich gewiss noch an mein Zögern, ihn auch nur in diesem Tagebuch zu erwähnen. Und dennoch hatte Kreeg mich aufgespürt.

»Wie ich bereits sagte, Mr Tanit«, sprach Mr Kohler weiter, »hat Ihre Großmutter mich gut vorbereitet. Sie erzählte mir, es habe ihren Sohn während seines Musikstudiums nach Russland verschlagen, wo er in die Dienste des Zaren getreten sei. Sie müssen sich bei ihr für all das hier bedanken, nicht bei mir.«

»Ich … ich wünschte, das wäre möglich«, antwortete ich im Brustton der Überzeugung. »Sie meinten doch gerade, ich sei Schweizer Staatsbürger und könnte hier leben. Aber wie soll das ohne Pass oder Geburtsurkunde gehen?«

Mr Kohler wiegelte ab. »Wenn ich beweisen kann, dass Sie Agatha Tanits Enkel sind, was ich in wenigen Minuten zu tun gedenke, ist der Weg zur Staatsbürgerschaft ziemlich einfach.« Der Anwalt rückte seine Krawatte zurecht. »Mit Unterstützung dieser Kanzlei, die großes Ansehen genießt, würden Sie die Papiere ohne Umstände erhalten. Allerdings dauert das natürlich seine Zeit.«

Die Aussicht auf eine echte Staatsbürgerschaft verschlug mir fast die Sprache. »Du liebe Güte!«

Mr Kohler griff in eine andere Schreibtischschublade und entnahm ihr eine Akte. »Die anderen Mr Tanits, die hier auf diesem Stuhl saßen, konnten alle Ausweispapiere vorlegen. Doch nun kommt der Teil unseres Gesprächs, der Ihre Vorgänger stets in Verlegenheit gebracht hat. Wohl wissend, dass Sie keine amtlichen Abstammungsnachweise besitzen könnten, hat Agatha nämlich eine Liste von Fragen zusammengestellt, die ihr wahrer Enkel ihrer Ansicht nach beantworten können müsste.«

»Wie spannend«, sagte ich und verspürte einen Anflug von Lampenfieber. »Was, wenn ich es nicht kann?«

Mr Kohler sah mich eindringlich an. »In diesem Fall werden sich unsere Wege leider trennen, Mr Tanit. Agatha hat es so verfügt.«

Ich schluckte. »Aha.«

»Es sind nur drei Fragen, Mr Tanit. Darf ich fortfahren?«

Ich rutschte an die Kante meines Stuhls. »Bitte«, stieß ich atemlos hervor.

»Also gut.« Er räusperte sich. »Die erste Frage lautet: Welche Himmelskonstellation bilden die Plejaden zusammen mit dem offenen Sternhaufen der Hyaden?«

»Das Goldene Tor der Ekliptik«, erwiderte ich, ohne nachzudenken.

Ein breites Lächeln erschien auf Mr Kohlers Gesicht. »Richtig. Das ist ja wunderbar, Mr Tanit. Endlich bekomme ich einmal Gelegenheit, Frage zwei zu stellen.« Er beugte sich vor. »Dürfte ich erfahren, woher Sie die Antwort kennen?«

»Mein Vater war sehr an Astronomie interessiert. Mein ganzes Wissen über den nächtlichen Himmel habe ich von ihm.«

Mr Kohler gluckste kurz. »Genau, wie er sein Wissen wiederum von seiner Mutter hatte. Und nun zur zweiten Frage: Von welchem Geigenbauer stammte die Geige von Iapetos Tanit?«

»Giuseppe Guarneri del Gesù, Mr Kohler.«

Ein erfreutes Grinsen. »Ebenfalls korrekt, Mr Tanit. Die Geige war ein Geschenk von Agatha vor seiner Abreise nach Russland. Wussten Sie das?« Ich schüttelte den Kopf. »Nun, aber Sie haben die Frage richtig beantwortet. Also jetzt zur dritten und letzten Frage: Können Sie mir sagen, warum Iapetos Tanit am liebsten auf einer Geige von Guarneri spielte?«

Kopfschüttelnd verzog ich das Gesicht. »Ich fürchte, jetzt haben wir ein Problem. Mein Vater sagte nämlich immer nur, dass er den satteren Klang einer Guarneri eben bevorzuge.«

»Hmmm«, brummelte Mr Kohler, offenbar unsicher, ob er die Antwort gelten lassen sollte. »Also bevorzugte Iapetos eine Guarneri im Vergleich mit einer …«

Ich lachte spöttisch auf. »Einer Stradivari natürlich. Ihm waren Stradivaris ›zu bombastisch‹.« Ich war zwar eindeutig am Ratespiel meiner Großmutter gescheitert, doch die Erinnerung brachte mich zum Lächeln. Mr Kohler starrte mich einen Moment an, bevor er das Blatt Papier in seiner Hand umdrehte und auf einen Satz zeigte: Er sagte, der Klang von Stradivaris sei für seinen Geschmack zu bombastisch , stand da in einer wunderschön geschwungenen Handschrift.

Als Mr Kohler meine Verblüffung bemerkte, ergriff er wieder das Wort. »Offenbar hat sich Ihre Großmutter ihre Fragen sehr gut überlegt. Und dabei habe ich vor fünfzehn Jahren verzweifelt versucht, ihr diese Strategie auszureden. ›Nein, Mr Kohler‹, meinte sie. ›Ganz sicher hat mein Sohn auch in Gegenwart des Jungen ständig darüber gelästert, dass eine Stradivari ihm zu bombastisch klingt. Er redete über nichts anderes mehr!‹«

»Aber … Agatha ist mir doch nie begegnet«, wandte ich, noch immer völlig verdattert, ein.

»Nein, aber sie war eine ungewöhnlich kluge Frau, die ihren Sohn so gut kannte wie kein anderer.«

»Ich bedauere, dass ich sie nie kennengelernt habe.«

»Ja, es ist wirklich schade. Wie dem auch sei, Glückwunsch, Mr Tanit. Es ist schön, Sie endlich leibhaftig vor mir zu haben.« Er schüttelte mir noch einmal die Hand. »Bitte gestatten Sie mir, Ihnen etwas über Ihre Familiengeschichte zu erzählen. Was wissen Sie bereits?«

»Sehr wenig«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Meine Eltern gehörten dem Zarenhof an, und meine Mutter starb bei meiner Geburt. Doch mein Vater hat sehr oft von ihr gesprochen. Außerdem weiß ich, dass mein Vater Schweizer Vorfahren hatte, aber ansonsten … keine Ahnung.«

»Wenn das so ist, habe ich die Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie adeliger Abstammung sind. Die Spur der Familie Tanit lässt sich bis ins Heilige Römische Reich zurückverfolgen. Haben Sie je vom Haus Habsburg gehört?« Ich schüttelte den Kopf. »Diese Adelsfamilie entwickelte sich zu einer der bedeutendsten Dynastien Europas, hat jedoch ihre Wurzeln in der nördlichen Schweiz. Aus ihr gingen die Könige von Spanien, Kroatien, Ungarn und noch vieler weiterer Länder hervor.«

Ich starrte ihn aus großen Augen an. »Mr Kohler, soll das heißen, dass ich ein Habsburger bin?«

Der Anwalt lachte. »Nein, sind Sie nicht.« Ich spürte, wie ich errötete. »Doch historischen Quellen zufolge standen die Tanits seit dem Jahr 1198 in Diensten der Habsburger. Ihre Vorfahren berieten die Familie in astrologischen Dingen und bestimmten, ob die Sterne ihnen gewogen waren. Ihre Familie genoss großes Vertrauen und wurde aus diesem Grund in den Adelsstand erhoben … und außerdem reich entlohnt. Und Sie, Mr Tanit, sind der Letzte in dieser Ahnenreihe. Der letzte Tanit. Deshalb habe ich den Auftrag, Ihnen ein Vermögen von …« – er blätterte in seinen Papieren – »… schätzungsweise fünf Millionen Schweizer Franken zu übergeben. Natürlich erst, wenn Ihre Papiere in Ordnung sind.«

Meine entgeisterte Miene muss ein komischer Anblick gewesen sein. »Fünf … Millionen?«, stammelte ich leise.

Eric nickte. »Korrekt. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich Sie so dringend kontaktieren wollte. Sie sind nicht nur der Erbe eines beträchtlichen Vermögens, sondern auch der letzte überlebende Angehörige einer bedeutenden Schweizer Dynastie.«

Mir hatte es die Sprache verschlagen. Mit diesem Geld konnten Elle und ich uns alle unsere Träume erfüllen. Die Vorstellung war atemberaubend. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Das brauchen Sie auch nicht, Mr Tanit. Ich werde den Verwaltungsvorgang in die Wege leiten, damit Sie offiziell Schweizer Staatsbürger werden. Wie bereits erwähnt, gibt es da wegen des Krieges eine lange Warteschlange, weshalb es eher Jahre als Monate dauern könnte.«

»Das ist mir klar«, antwortete ich. Mir schwirrte der Kopf. Elle und ich würden uns hier niederlassen und eine Familie gründen können. Ich konnte es kaum erwarten, ihr die gute Nachricht zu überbringen. »Dürfte ich fragen, wo ich heute übernachten soll, Mr Kohler? In Agathas Haus?«

»Oh, ich habe Ihnen für die nächsten Nächte ein Hotelzimmer reserviert. Hier ist die Adresse.« Er reichte mir eine Visitenkarte. »Agatha hat ihr großes Stadthaus dem Ehepaar vererbt, das sie im Alter versorgt hat. Nachdem Ihr Vater nach Russland gegangen war, waren die beiden eine Art Ersatzfamilie für sie. Allerdings …« Mr Kohler hob den Finger, denn offenbar war ihm etwas eingefallen. Er beugte sich über die Akte auf seinem Schreibtisch und blätterte wieder darin herum. »Etwa ein Jahr vor ihrem Tod hat Agatha ein großes Grundstück auf einer abgelegenen Halbinsel am See gekauft.« Schließlich entdeckte er das gesuchte Blatt Papier und überflog den Text. »Das gehört nun ebenfalls Ihnen. Hier ist ein Lageplan. Sie können sich jederzeit umschauen.« Ich nahm die Seite entgegen. »Es ist wunderschön dort draußen.« Der Anwalt drehte sich um und blickte aus seinem riesigen Panoramafenster. »Warum fahren Sie nicht heute Nachmittag hin?«

»Vielleicht mache ich das ja«, erwiderte ich. Ich erhob mich mit weichen Knien. »Kann ich draußen ein Taxi anhalten?«

Mr Kohler lachte auf. »Das dürfte schwierig werden. Die Halbinsel ist nur mit dem Boot zu erreichen. Aber am Jachthafen gleich in der Nähe können Sie eines zu einem vernünftigen Preis chartern. Zeigen Sie dem Skipper Ihre Karte. Er wird wissen, wo es ist.«

»Ist es auch möglich, eines zum Selbstfahren zu mieten? Mit Landkarten kenne ich mich ziemlich gut aus.«

»Ja, ich glaube schon, sofern man Ihren Ausweis anerkennt. Oh, fast hätte ich es vergessen!« Er nahm einen kleinen cremefarbenen Umschlag aus der Akte. »Das ist ein Brief von Ihrer Großmutter. Ich hätte nie gedacht, dass ich je Gelegenheit haben würde, ihn tatsächlich jemandem auszuhändigen«, sagte er erfreut. »Schauen Sie!« Er wies auf seine Schläfen. »Die ersten grauen Haare. Als ich Ihre Großmutter kennenlernte, war ich ein junger Mann.« Er erhob sich, reichte mir den Umschlag und verabschiedete sich von mir. »Ich kann Sie wenn nötig ja in Ihrem Hotel erreichen. Sie werden während Ihres Aufenthalts in Genf jede Menge Unterschriften leisten müssen. Auf Wiedersehen, Mr Tanit. Vermutlich bis morgen.«

»Danke, Mr Kohler.«