XXXIV

Vierzig Minuten später tuckerte ich in einem altersschwachen kleinen Shepherd-Motorflitzer über den Genfer See und konnte trotz meines wackeligen Gefährts den Blick nicht von den hohen Bergen ringsherum abwenden. Ich schloss die Augen und genoss die Brise auf der Haut. Es war so schön hier draußen auf dem Wasser, ganz allein mit der sauberen Luft und mit meinen Gedanken.

Die Fahrt vom Anlegeplatz an der Rue du Rhône dauerte mit dem Motorboot gute zwanzig Minuten, was mir bestätigte, dass Agathas Halbinsel wirklich sehr abgeschieden lag. Endlich kam die auf der Karte verzeichnete Landzunge in Sicht. Ich musterte das menschenleere Fleckchen Erde, hinter dem sich halbmondförmig ein beeindruckend steil ansteigendes Gelände erhob.

Ich schaltete den Motor ab, und das Boot glitt langsam in Richtung Ufer. Es herrschte absolute Stille, und ich bewunderte ehrfürchtig die märchenhafte Landschaft, die sich im glasklaren Wasser spiegelte. Bald berührte der Rumpf weichen Boden. Ich griff nach der Leine, sprang an Land, zog den Bug des Flitzers auf den Strand und band das Boot an einem großen Felsen fest. Dann atmete ich tief durch und nahm Agathas Brief aus der Tasche.

Lieber Atlas,

mein geliebter Enkelsohn. Wenn Du das liest, hat Eric Kohler sein Versprechen gehalten und Dich ausfindig gemacht, etwas, das mir selbst leider versagt geblieben ist.

Ich schreibe Dir diese Zeilen, wohl wissend, dass meine Tage auf Erden gezählt sind. Doch falls Dir jetzt eine Träne in die Augen tritt, vergieße sie bitte nicht, denn so werde ich bald mit meinem geliebten Sohn, Deinem Vater, vereint sein.

Trotz der dem Beruf Deines Vaters geschuldeten räumlichen Entfernung schrieb er mir regelmäßig, was mir die Möglichkeit gab, Deine Entwicklungsschritte mitzuverfolgen. Er hat mit so viel Stolz von Dir gesprochen, Atlas, und meinte oft, Du seist für Dein Alter erstaunlich weise und verfügtest über Fähigkeiten, die er nicht für menschenmöglich gehalten hätte. Doch was wäre von einem Tanit auch anderes zu erwarten?

In diesem Zusammenhang schrieb mir Iapetos auch von Deiner Begabung an der Geige und Deinem großen Interesse für die Sterne – auch das ist angesichts Deiner Familiengeschichte nicht weiter verwunderlich. Vielleicht hat Mr Kohler Dir ja ein wenig davon erzählt. Es ist eine faszinierende Geschichte, allerdings so lang, dass es meine Kräfte übersteigen würde, sie hier niederzuschreiben.

Wie sehr bedauere ich es, dass wir uns nie kennengelernt haben, um gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen und den stillen Himmel über meinem geliebten Genfer See zu betrachten. Apropos: Gewiss hat man Dir inzwischen mitgeteilt, dass Du nun der Eigentümer eines abgelegenen Seegrundstücks bist.

Ich habe es eigens für Dich gekauft, mein Enkelsohn. Die Lage habe ich mit Bedacht gewählt. Wie Du feststellen wirst, ist das Grundstück vor neugierigen Blicken geschützt und kann nur per Boot erreicht werden.

Ich habe gespürt, dass Du Dein eigenes Fleckchen Erde brauchst, Atlas, einen friedlichen und sicheren Ort. Und so hoffe ich, dass dieses Stück Land diesen Zweck für Dich erfüllt und zur Heimat zukünftiger Generationen von Tanits wird.

Vielleicht irre ich mich ja, und Du hast für das Geschenk gar keine Verwendung. In diesem Fall hast Du meinen Segen, das Land zu verkaufen.

Ich spüre, wie meine Kräfte schwinden, weshalb ich leider nicht viel mehr schreiben kann. Geh klug mit Deinem Vermögen um, aber vergiss dabei nicht, wie schrecklich kurz das Leben ist. Es ist mein tief empfundener Wunsch, dass Du das Geld nutzt, um meinen Urenkeln und den zukünftigen Generationen, die sie hervorbringen werden, ein angenehmes Leben zu ermöglichen.

Ich freue mich schon darauf, Dich dereinst in unserem nächsten Leben kennenzulernen. Bis dahin findest Du mich, Atlas, wann immer Du hinauf zu den Sternen blickst.

In Liebe,

Deine Großmutter Agatha

Der Brief rührte mich zutiefst, sodass mir wieder Tränen in den Augen brannten. Ich schaute in den Himmel.

»Danke«, flüsterte ich.

Einen wahnwitzigen Moment lang schien es, als antworte mir das Universum tatsächlich, denn ich hörte hinter mir das Knacken eines Zweiges. Als ich herumwirbelte, war jedoch keine Menschenseele zu sehen.

»Hallo?«, rief ich. In der Vermutung, dass es wahrscheinlich ein Tier gewesen war, steuerte ich auf die Bäume zu. Im nächsten Moment drang das Geräusch hastiger Schritte an mein Ohr. »Hallo, ist da jemand?«

Als ich tiefer in den Wald kam, stieß ich auf eine Plane und die Überreste eines hastig gelöschten Feuers. Der dazugehörige Wassereimer lag daneben.

Die Schritte entfernten sich eilig im Unterholz. Ich lief hinterher. »Bitte bleiben Sie stehen. Ich bin der Besitzer dieses Grundstücks. Ich will Ihnen nichts tun!« Nach einem kurzen Sprint blieb ich stehen und lauschte angestrengt. Doch da waren keine Schritte, nur das Zwitschern der Vögel. Die Hände in die Hüften gestemmt, ließ ich den Blick über die unberührte Landschaft schweifen.

Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in der linken Kniekehle. Mit einem Aufschrei fiel ich zu Boden. Als ich aufschaute, sah ich einen kleinen Jungen, der einen großen Knüppel schwang. Er holte aus, offenbar um mir damit ins Gesicht zu schlagen. Schützend hob ich den Arm.

»Hör auf!«, erklang da eine Stimme aus den Bäumen hinter mir. Ein kleines Mädchen erschien. Sie war jünger als ihr Begleiter. »Bitte tu das nicht.«

»Was wollen Sie?«, rief der Junge, den Stock noch immer hoch über dem Kopf erhoben.

Ich stellte fest, dass die beiden Deutsch sprachen. »Das ist mein Land«, erwiderte ich in derselben Sprache. »Nun, wenigstens wird es das bald sein. Bitte glaubt mir, ich will euch nichts tun. Ich wusste nicht, dass ihr hier seid.«

Der Junge warf dem Mädchen einen Blick zu und wandte sich dann wieder an mich. »Sind Sie Deutscher?«, fragte er. »Sie haben doch vorhin Französisch gesprochen.«

»Das liegt daran, dass ich Schweizer bin«, antwortete ich der Einfachheit halber.

»Woher können Sie Deutsch?«, hakte der Junge nach.

»Ich habe dort gelebt. In Leipzig. Vor dem Krieg.«

»Claudia, komm her.« Das kleine Mädchen gehorchte und stellte sich hinter den Jungen, der den Stock sinken ließ. »Tut mir leid, dass wir Ihr Grundstück betreten haben. Wir packen unsere Sachen und gehen.«

»Ich verstehe nicht ganz. Warum hast du mich angegriffen?«, fragte ich, während ich mich mühsam aufrappelte. »Ihr könnt gern hier zelten. Aber ihr dürft nicht gewalttätig gegen fremde Leute werden.«

»Schau, ich hab’s dir doch gleich gesagt!«, zischte die Kleine dem Jungen zu. »Ich entschuldige mich für meinen Bruder. Ich habe ihm gesagt, dass Sie uns nichts tun wollen.«

»Verzeihung«, fügte der Junge hinzu. »Wir gehen jetzt.«

Nun fiel mir auf, dass die Kinder zerrissene und unglaublich schmutzige Kleidung trugen. Außerdem waren die Sachen viel zu groß, weil sie eigentlich für Erwachsene bestimmt und die Kinder nur noch Haut und Knochen waren. »Wie gesagt, Ihr könnt gern hier campieren. Ihr zeltet doch, oder?«, fragte ich.

»Ja, wir zelten«, bestätigte der Junge.

»Offenbar seid ihr schon sehr lange hier«, stellte ich fest.

»Stimmt. Aber nun ziehen wir weiter.«

»In die Berge? Ich habe kein Boot gesehen. Ist das Klettern nicht zu gefährlich? Die Felsen scheinen ziemlich steil zu sein.«

»Wir schaffen das schon«, entgegnete der Junge.

»Bitte, Monsieur«, flehte das Mädchen. »Verraten Sie niemandem, dass Sie uns gesehen haben. Ich will nicht, dass sie uns wieder verfolgen.«

»Claudia!«, schimpfte der Junge.

»Schon gut«, beruhigte ich die beiden. »Heißt du Claudia?« Das Mädchen nickte schüchtern. »Das ist ein sehr hübscher Name.« Ich wandte mich an den Jungen. »Darf ich auch deinen Namen erfahren, junger Mann?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Wie du meinst. Ich heiße Atlas. Könntet ihr mir bitte erklären, was ›dass sie uns wieder verfolgen‹ bedeutet? Wer sind ›sie‹?«

»Die bösen Männer«, antwortete Claudia.

»Die bösen Männer«, wiederholte ich. »Meinst du Soldaten?« Claudia nickte. Allmählich ging mir ein Licht auf. »Kommt ihr aus Deutschland?«

»Ja«, erwiderte der Junge.

Ich betrachtete ihn voller Mitgefühl. »Wart ihr in einem dieser Lager?« Der Junge nickte. Ich ging vor ihm in die Hocke. »Ich versichere euch, dass ich nicht zu denen gehöre. Ehrenwort. Ich bin ein Freund.« Der Junge nickte seufzend. »Wie alt bist du?«

»Ich bin elf«, verkündete er. »Meine Schwester ist sieben.«

»Das ist aber noch sehr jung, um ohne Erwachsene unterwegs zu sein. Glaubt mir, ich habe Erfahrung darin. Wie lange seid ihr denn schon allein?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht genau. Inzwischen müssen es fast fünfzig Nächte sein. Außerdem sind wir nicht allein.« Mit trotziger Miene legte er den Arm um seine Schwester. »Wir haben einander.«

»Natürlich«, sagte ich. »Und das ist wundervoll.« Da ich wusste, dass diese beiden arglosen Kinder vermutlich unbeschreibliche Gräuel durchgemacht hatten, drückte ich mich so zartfühlend wie möglich aus. »Darf ich fragen, wie ihr hierhergekommen seid?«

Der Junge blickte zu Boden, worauf seine Schwester liebevoll nach seiner Hand griff. »Unsere Mutter hat einen der Wachmänner abgelenkt. Dann sind wir unter dem Zaun durchgeschlüpft. Wir …« Da dem Jungen vor Rührung die Stimme stockte, sprach seine Schwester weiter.

»Wir wollten nicht weg, aber Mutter hat gesagt, dass es sein muss«, murmelte sie. »Weil sie Papa wehgetan haben.«

Das Leid dieser Kinder zerriss mir das Herz. Sie hatten in ihrem kurzen Leben in menschliche Abgründe geblickt. Ich kannte dieses Gefühl nur allzu gut aus eigener Erfahrung. »Da ihr schon so lange weg seid, wisst ihr es wahrscheinlich noch gar nicht, aber ich habe Neuigkeiten für euch. Der Krieg ist vorbei. Die Lager, auch das, aus dem ihr geflohen seid, werden gerade befreit. Ich kann euch helfen, eure Mutter wiederzufinden«, erklärte ich ihnen mit sanfter Stimme.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, Monsieur, das können Sie nicht. Sie hat ihr Leben für uns geopfert. Als wir unter dem Zaun durchgekrochen sind, haben wir die Schüsse gehört. Dann sind wir gerannt. Mutter wollte, dass wir in die Schweiz gehen, weil es dort sicher ist. Also habe ich Claudia genommen und mein Bestes getan.« Inzwischen schluchzte er.

Ganz vorsichtig legte ich ihm die Hand auf die Schulter. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Ich habe auch als Kind meine Eltern verloren. Aber vergiss nicht, dass sie stets da drin lebendig sind.« Ich tippte mir auf die Brust. Der Junge sah mir in die Augen. »Du hast deine Schwester beschützt. Deine Mutter ist sehr stolz auf dich, ganz gleich, wo sie jetzt sein mag.« Mir kam ein Gedanke. »Bestimmt habt ihr großen Hunger.« Ich zog ein von der Zugfahrt übrig gebliebenes Päckchen Erdnüsse aus der Hosentasche. »Hier.« Der Junge nahm das Tütchen dankbar entgegen und teilte den Inhalt mit seiner Schwester. »Wie seid ihr auf dieser Halbinsel gelandet?«, erkundigte ich mich.

»Wir haben am anderen Seeufer ein Boot gestohlen und sind bis hierher getrieben«, antwortete er kauend. »Dann sind wir mit unseren Sachen ausgestiegen, und am nächsten Morgen war das Boot weggeschwommen.«

Ich starrte ihn entsetzt an. »Also seid ihr gestrandet? Wie schrecklich.«

Wieder zuckte der Junge mit den Achseln. »Es kommen oft Boote vorbei. Aber wir haben uns nicht getraut zu winken, weil wir Angst hatten, dass man uns zurück ins Lager bringt.«

Das Ausmaß des Unglücks, das diese Kinder hatten erleben müssen, machte mich fassungslos. »Ich verstehe. Und was habt ihr gegessen?«

Der Junge kippte den restlichen Inhalt aus dem Tütchen und gab den Großteil davon seiner Schwester. »Ich kann zwar angeln, aber ich erwische nicht sehr viel. Außerdem haben wir viele Beeren durchprobiert. Von einer Sorte sind wir ziemlich krank geworden.«

Ich wusste, dass ich die zwei auf schnellstem Wege zurück in die Zivilisation bringen musste. Sie brauchten ärztliche Hilfe und ein warmes Bett. »Wir kennen uns zwar noch nicht lange«, tastete ich mich vor, »aber was haltet ihr davon, bei mir im Boot mitzufahren? Ich will in die Stadt. Dort kenne ich Leute, die euch helfen können.«

Der Junge erstarrte. »Woher wissen wir, ob man Ihnen trauen kann?«

Ich dachte über seine Frage nach. »Ein sehr berechtigter Einwand, aber leider kann ich es euch nicht beweisen.« Ich überlegte. »Da ich keine Zeitung dabeihabe, kann ich nicht belegen, dass der Krieg in Europa vorbei ist. Ich kann euch nur das hier zeigen.« Ich förderte meinen britischen Pass und den Ausweis zutage und reichte beides dem Jungen.

»Britisch?« Er wich einen Schritt zurück. »Sie haben doch gesagt, Sie sind Schweizer.«

»Stimmt.« Ich hätte mich ohrfeigen können. »Ja, gut beobachtet. Du bist offenbar ein sehr kluger Junge.« Ich lächelte verlegen. »Mein Vater war Schweizer, und ich bin eigentlich hier, um das Erbe meiner Großmutter anzutreten.« Im nächsten Moment hatte ich einen Geistesblitz. »Ich habe einen Brief von ihr hier. Kannst du Französisch lesen?«

»Ein bisschen«, erwiderte der Junge argwöhnisch.

Ich gab ihm Agathas Brief. »Bitte lies ihn.« Ich ließ mich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. »Wenn du ein Wort nicht kennst, brauchst du nur zu fragen«, bot ich ihm an.

Der Junge ging etwa zehn Meter auf Abstand und setzte sich mit seiner Schwester mir gegenüber. Dann studierte er langsam den Brief. Nach etwa fünf Minuten stand er auf.

»Einverstanden«, sagte er. »Wir kommen mit.«

Claudia strahlte übers ganze kleine Gesicht. »Wirklich?«, wandte sie sich an ihren Bruder. Dieser nickte.

Ich atmete erleichtert auf. »Sehr gut.« Rasch erhob ich mich ebenfalls. »Danke für dein Vertrauen. Sollen wir eure Sachen ins Boot laden?«

»Nein«, entgegnete der Junge. »Das kann alles hierbleiben.« Er nahm die Hand seiner Schwester.

»Ich verstehe«, antwortete ich. »Da wir uns nun miteinander bekannt gemacht haben, dürfte ich vielleicht doch deinen Namen erfahren?«

Der Junge sah mich an. »Ich heiße Georg.«

***

Mr Kohler erschrak ein wenig, mich schon am selben Nachmittag wiederzusehen. Vermutlich auch deshalb, weil ich in Begleitung zweier schmutzstarrender und halb verhungerter Kinder bei ihm erschien.

»Was, um alles in der Welt, ist passiert?«, rief er verwundert aus und hätte beinahe seine Teetasse vom Schreibtisch gestoßen.

Ich erklärte ihm alles in so knappen Worten wie möglich. Liebe Leserin, lieber Leser, es ist immer wieder erstaunlich, welche Macht Geld besitzt. Im Handumdrehen rief Mr Kohler einen Arzt und eine Sozialarbeiterin herbei und ließ warme Mahlzeiten für die beiden Kinder bringen. Alles bezahlt von Agatha Tanit, denn er war angesichts der ungewöhnlichen Umstände bereit, sofort auf das Vermögen zuzugreifen. Bestimmt wäre meine Großmutter einverstanden gewesen.

»Was wird nun aus den Kindern, Mr Kohler?«, fragte ich.

Der Anwalt schien damit etwas überfordert, woraus ich ihm keinen Vorwurf machen konnte. »Sobald ihre Identität bestätigt ist, werden wir versuchen, sie zu möglichen Angehörigen in Deutschland zurückzuführen.«

Ich sah ihn skeptisch an. »Halten Sie es für wahrscheinlich, dass es da noch jemanden gibt?«

Der Anwalt fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Nein. Und falls das zutrifft, wird vermutlich der Schweizer Staat für ihren Unterhalt aufkommen und sie in einem Kinderheim unterbringen, wo sie sicher bald Adoptiveltern finden. Als Flüchtlingskinder dürfte es für sie hoffentlich nicht schwer sein, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erlangen.«

Ich ließ mich in dem Ledersessel gegenüber von Mr Kohler nieder. »Meinen Sie etwa ein Waisenhaus?« Als Eric nickte, erinnerte ich mich an die Zustände im Apprentis d’Auteuil. Georg und Claudia nach allem, was sie durchlitten hatten, ein solches Schicksal zuzumuten, erschien mir so unbeschreiblich grausam. Ich dachte an meine Zeit in Boulogne-Billancourt. Wie hatte Landowski es ausgedrückt?

Du wirst sicher selbst eines Tages in der Lage sein, anderen zu helfen. Nimm dieses Privileg an.

Mein Entschluss stand fest.

»Ich würde gerne für die Kinder sorgen«, verkündete ich.

»Verzeihung?«

»Georg und Claudia haben auf Agathas Land Schutz gesucht. Auf meinem Land. Deshalb möchte ich mich um ihr Wohlergehen kümmern. Dass ich heute vor Ihnen sitze, habe ich einzig und allein der Hilfsbereitschaft von Fremden zu verdanken. Bis jetzt hatte ich im Leben nicht viel Gelegenheit, großzügig zu sein, doch nun haben sich die Verhältnisse ja geändert.«

Mr Kohler lehnte sich zurück und dachte über meinen Vorschlag nach. »Das ist ein sehr feiner Zug von Ihnen, Mr Tanit. Dennoch glaube ich nicht, dass Sie damit die Heimunterbringung von Georg und Claudia werden verhindern können. Oder ziehen Sie in Erwägung, die Kinder mit nach London zu nehmen?«

Ich überlegte. Bei uns zu Hause war es für die beiden einfach zu gefährlich, denn ich musste davon ausgehen, dass Kreeg mir noch immer nach dem Leben trachtete. »Das ist im Moment nicht möglich«, erwiderte ich deshalb. »Doch ich möchte unter allen Umständen verhindern, dass die zwei in ein Waisenhaus kommen. Sie haben ihre Eltern verloren, und ihre ganze Welt liegt in Trümmern. Darum brauchen sie Beständigkeit und Geborgenheit, nicht den ständigen Schwebezustand in einem Heim. Fällt Ihnen wirklich keine andere Lösung ein?«

Mr Kohler klopfte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Vielleicht … Allerdings kann ich nichts versprechen. Das Ehepaar, das Ihre Großmutter versorgt hat, wäre möglicherweise bereit, die Kinder aufzunehmen, wenn Sie für ihren Lebensunterhalt aufkommen.«

»Wirklich?«, hakte ich überrascht nach.

Der Anwalt nickte. »Sie sind Agatha sehr dankbar, weil sie ihnen das Haus vermacht hat.« Er lachte leise. »Ich hatte sogar Mühe, sie zu überreden, die Erbschaft anzutreten. Gleich heute Nachmittag rufe ich sie an.«

Ich stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Danke, Mr Kohler. Ich würde diese Leute gern kennenlernen, natürlich abhängig vom Ergebnis Ihres Telefonats. Wie heißen Sie denn?«

»Hoffman.«

***

Timeo und Joelle Hoffman waren ein reizendes und zurückhaltendes Ehepaar Mitte sechzig. Während meines Aufenthalts in Genf traf ich mich einige Male mit ihnen. Sie sprachen so liebevoll von Agatha und waren aufrichtig erfreut, dass Eric Kohler mich endlich aufgespürt hatte. Außerdem bestätigte sich die Vermutung des Anwalts, denn die Hoffmans waren nur zu gern bereit, Georg und Claudia ein Zuhause zu bieten. Das Haus selbst war ein beeindruckendes Gebäude und tadellos in Schuss.

»Es wäre uns eine Ehre, Mr Tanit!«, begeisterte sich Joelle Hoffman. »Offen gestanden fehlt uns seit dem Tod Ihrer Großmutter eine Aufgabe.«

Timeo Hoffman nickte. »Es ist unsinnig, zu zweit in diesem riesigen Haus zu wohnen, in dem vier Zimmer leer stehen. Wir haben mehr als genug Platz. Nach dem, was die armen Würmer mitgemacht haben, ist es doch das Mindeste, was wir tun können.«

Die spontane Hilfsbereitschaft der beiden ging mir ans Herz. »Haben Sie selbst Kinder?«, erkundigte ich mich.

Offenbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen. »Nein«, erwiderte Mrs Hoffman. »Es war uns leider nicht vergönnt.« Im nächsten Moment verzog sie besorgt das Gesicht. »Aber das bedeutet nicht, dass uns die Erfahrung fehlt, andere zu versorgen, Mr Tanit. Niemals würden wir …«

Ich unterbrach sie. »Ich verstehe, was Sie meinen«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie Georg und Claudia bei sich aufnehmen wollen. Sie müssen mir nur versprechen, sämtliche Kosten für Verpflegung, Kleidung und Schulbildung sofort an Mr Kohler weiterzureichen. Ich werde ihn anweisen, Ihnen das Geld umgehend zurückzuerstatten.« Als ich den beiden die Hand schütteln wollte, schloss Joelle Hoffman mich stattdessen in die Arme.

Ihr Mann lachte leise. »Entschuldigen Sie, Mr Tanit. Meine Frau will damit nur ausdrücken, wie glücklich es Agatha gemacht hätte, Sie hier im Wohnzimmer ihres Hauses stehen zu sehen.«

Mrs Hoffman trat einen Schritt zurück und blickte mir ins Gesicht. »Glauben Sie, dass Sie sich irgendwann in der Schweiz niederlassen werden?«, fragte sie. »Es ist wunderschön hier!«

Ich lächelte sie freundlich an. »Vielleicht. Doch bevor ich diesen Schritt in Erwägung ziehen kann, muss ich in England noch einiges regeln.« Ich wandte mich zum Gehen. »Bitte halten Sie Mr Kohler über die Fortschritte der Kinder auf dem Laufenden. Es wäre mir wichtig zu erfahren, wie sie sich entwickeln.«

Den Rest meines Aufenthalts in der Schweiz verbrachte ich damit, Papiere zu unterzeichnen, mich mit Bankiers zu treffen und mit Eric Kohlers Hilfe alles Organisatorische zu regeln. Dieser würde nun nicht mehr für Agatha tätig sein, sondern für mich.

»Ich schicke Ihnen Ihren Pass und die übrigen Unterlagen an die Adresse von Arthur Morston Books, Mr Tanit. Bitte vergessen Sie nicht, mir mitzuteilen, falls Sie beschließen sollten umzuziehen. Ich habe keine Lust, Ihnen noch einmal fünfzehn Jahre lang nachzujagen.«

Als ich die schwere Tür aus Walnussholz schloss, saß er noch immer kopfschüttelnd am Schreibtisch und lachte leise in sich hinein.