XXXVI

England
1949

In New York in diese Unruhen zu geraten blieb für eine ganze Weile mein letztes unangenehmes Erlebnis. Ende 1949 erfuhr ich von Eric Kohler, dass ich bald damit rechnen konnte, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erhalten. Arthur Morston Books verzeichnete unterdessen Rekordeinkünfte. Nach all diesen Jahren spürte ich, wie die Last auf meinen Schultern etwas weniger schwer wog.

Das Atmen fiel mir leichter.

Ich konnte besser schlafen.

Und gewiss spielte bei meinem Wohlbefinden auch noch etwas anderes eine Rolle: die Abwesenheit von Kreeg Eszu. Seit jenem grauenvollen Abend in Leipzig hatte es keine weitere Begegnung mit ihm gegeben. Ich gestattete mir die Hoffnung, liebe Leserin, lieber Leser, dass der Mann nicht mehr am Leben war – im Krieg umgekommen wie so viele andere.

Und dann sah ich ihn.

Es war ein kalter Tag in London. Rupert und Louise Forbes waren in der Stadt und statteten uns einen Besuch in der Buchhandlung ab. Wie immer war es eine große Freude, die beiden wiederzusehen, und ich war froh zu hören, dass Flora wohlauf war, obwohl Teddy und seine amerikanische Frau High Weald offenbar verkommen ließen.

Die Forbes hatten ihr Baby dabei, einen fröhlichen, lebhaften Jungen namens Laurence, den Elle sofort liebevoll umsorgte. Nachdem der Kleine eingeschlummert war, zeigte Elle stolz Rupert und Louise unsere Neuerwerbungen, und ich begab mich an den Schreibtisch zurück, um mich um die Buchhaltung zu kümmern. Während ich Rechnungen überprüfte, blickte ich einmal auf und schaute durch das große Schaufenster nach draußen auf die Kensington Church Street. In diesem Moment trat auf der anderen Straßenseite ein hochgewachsener Mann ins Bild. Er trug einen Tuchmantel und einen Filzhut und rauchte eine Zigarette. Eine junge Frau ging an dem Mann vorüber und drehte sich dann um, weil er offenbar etwas zu ihr gesagt hatte. Der Mann warf den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft. In diesem Moment sah ich sein Gesicht, und das Blut gefror mir in den Adern.

»Elle!«, rief ich aus.

Die drei fuhren herum und sahen, wie ich zum Fenster deutete. Elle folgte meinem Blick und rannte sofort zum Lichtschalter, um den Laden zu verdunkeln.

»Was um alles in der Welt ist los, alter Freund?«, erkundigte sich Rupert, als ich mich zu Boden warf, um nicht entdeckt zu werden.

»Hat Sie etwas erschreckt, Robert?«, fragte auch Louise beunruhigt. Als ich den Kopf hob und vorsichtig hinausspähte, sah ich, wie Kreeg die Straße überquerte und auf den Buchladen zukam.

»Los, Elle, wir müssen weg!« Wir hasteten zur Hintertür und zogen sie in dem Augenblick hinter uns zu, als auch schon die Ladenglocke klingelte. Elle wollte nach oben laufen, aber ich hielt sie fest, weil ich fürchtete, Kreeg könnte ihre Schritte hören. Sie war starr vor Angst, und ich drückte beruhigend ihre Hand. Dann legte ich den Zeigefinger an die Lippen und beugte mich zur Tür, um zu horchen.

»Guten Morgen«, sagte Rupert. »Willkommen bei Arthur Morston Books.«

»Vielen Dank«, erwiderte Kreeg mit seiner dunklen rauen Stimme. »Was für ein bezaubernder Laden.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, danke. Wie kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie nach einem bestimmten Buch?«

»Sind Sie der Besitzer?«

»Wie bitte?«

»Ich fragte, ob Sie der Besitzer dieser Buchhandlung sind«, antwortete Kreeg kalt.

»Ja. Rupert Forbes ist mein Name. Meine Frau und ich sind Mitinhaber dieses Ladens.«

»Louise Forbes«, stellte Louise sich vor. »Schön, Sie kennenzulernen.«

»Gus Zeeker. Ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Forbes.« Ich sah Elle stirnrunzelnd an, als ich das Anagramm des Namens hörte.

»Mir scheint, ich nehme da einen Akzent wahr, Mr Zeeker«, bemerkte Rupert. »Aus welcher Gegend stammen Sie?«

»Ah, diese Frage lässt sich schwer beantworten, Mr Forbes. Ich betrachte mich selbst gern als Weltbürger.«

»Das ist gewiss sehr beeindruckend, aber auch Weltbürger wurden einmal irgendwo geboren, nicht wahr?«, erwiderte Rupert freundlich.

Kreeg lachte leise. »Sie scheinen ein intelligenter Mann zu sein, Mr Forbes. Würden Sie einen Menschen wirklich nur nach seinem Herkunftsort beurteilen?«

»Selbstverständlich nicht. Ich fand es nur interessant, da ich mir gern einbilde, Akzente gut zuordnen zu können. Und der Ihre kommt einem selten zu Ohren.«

Ein Schweigen entstand, bevor Eszu wieder sprach. »Wie gesagt: Ich bin Weltbürger.«

»Gewiss, doch ich frage mich, auf welcher Seite ein Weltbürger wohl in diesem Krieg kämpfte?« Ruperts Mut erstaunte mich.

Kreeg lachte schallend. »Sind wir denn nicht inzwischen alle Freunde, Mr Forbes?« Auf diese Bemerkung folgte ein weiteres bedrohliches Schweigen. »Aber verzeihen Sie, Sie hatten sich erkundigt, ob ich ein bestimmtes Buch suche.«

»Ja«, sagte Rupert knapp.

»Das können Sie tatsächlich. Ich war dieser Tage schon einmal hier, hatte aber mit jemand anderem gesprochen. Einem großen Mann mit dunklen Haaren und braunen Augen. Wer könnte das wohl gewesen sein?«

Ich umklammerte Elles Hand noch fester.

»Hmm«, sagte Rupert. »Sind Sie auch ganz sicher, dass das bei Arthur Morston Books gewesen ist? Ich muss zu meinem Leidwesen sagen, dass es in dieser Gegend etliche Buchläden gibt. In diesem hier arbeitet niemand, auf den Ihre Beschreibung zutrifft.« Ich war enorm erleichtert, dass Rupert mich zu schützen versuchte.

»Doch, ich bin mir sogar äußerst sicher«, antwortete Kreeg langsam, »dass es hier war. Es hielt sich auch noch eine junge Frau mit hellblondem Haar darin auf.«

»Sehen Sie’s mir nach, Mr Zeeker«, entgegnete Rupert, »aber als Sie gerade hereinkamen, äußerten Sie sich lobend über unsere Buchhandlung, ganz, als sähen Sie sie zum ersten Mal. Wir haben Ihnen soeben erklärt, dass wir niemanden beschäftigen, auf den Ihre Beschreibung zutrifft. Deshalb nun erneut die Frage: Sind Sie wirklich absolut sicher, dass Sie bei Arthur Morston Books gewesen sind?«

Jetzt hörte ich die alten Holzdielen unter Kreegs Füßen knarren, als er sich bewegte.

»Ein entzückendes Kind«, sagte er. »Das ist wohl Ihres?«

»Unser kleiner Junge, ja«, antwortete Louise.

»Familie ist ja so wichtig, nicht wahr, Mrs Forbes?«

»Gewiss, das finde ich auch, Mr Zeeker.«

Kreeg seufzte übertrieben dramatisch. »Sehen Sie dieses kleine Wesen nur an. So klein und so schwach und hilflos. Und ganz und gar angewiesen auf Sie, nicht wahr, Mrs Forbes?«

»Ja, sicherlich. Er heißt Laurence.«

»Laurence? Gestatten Sie mir, Ihre Namenswahl zu loben, Mrs Forbes. Dieser Name stammt ursprünglich aus dem Französischen und bedeutet in etwa ›der Siegreiche‹. Namen sind ja ungemein wichtig fürs spätere Leben, meine ich.«

»Ach, von dieser Bedeutung … wusste ich gar nichts«, erwiderte Louise ruhig. »Wie faszinierend.«

»O ja, das sind Namen immer. Es ist ja etwas ungemein Persönliches, wie wir genannt werden, und doch hören wir unseren Namen das ganze Leben lang von anderen.«

»Ich möchte gewiss nicht drängen, Mr Zeeker«, schaltete sich Rupert ein, »aber meine Frau und ich wollten den Laden für die Mittagspause gerade schließen. Nach welchem Buch suchen Sie denn?«

»Natürlich, Mr Forbes. Als ich kürzlich hier war, fragte ich nach einem alten Atlas.«

Ich kniff entsetzt die Augen zusammen. Rupert und Louise kannten den Zusammenhang natürlich nicht. Kreeg vermutete also wohl, dass ich in der Nähe war, und legte deshalb diese Fährte.

»Nun, wie gesagt, bezweifle ich, dass Sie in diesem Laden waren«, erwiderte Rupert, »aber unsere Abteilung für Geografie befindet sich gleich hier. Suchen Sie nach einem bestimmten Atlas?«

»Er ist einzigartig, Mr Forbes, aber wenn ich ihn sehe, werde ich ihn erkennen.«

»Verstehe. Nun, das hört sich an, als würden Sie recht viel Zeit zum Stöbern benötigen. Dann seien Sie doch so gut und kommen später noch einmal wieder, ja?«

»Ich bin ganz sicher, dass er hier ist, Mr Forbes«, entgegnete Kreeg entschieden. »Stöbern wird nicht nötig sein.«

»Hören Sie, ich verstehe nicht, was …«

Der kleine Laurence begann jetzt ungehalten zu quengeln. »Ach, das arme Kind. Nehmen Sie ihn doch auf den Arm, Mrs Forbes. Sie sollten jede Minute mit Ihrem Jungen genießen. Es gibt schließlich nichts Heiligeres als die Bindung zwischen Mutter und Kind.« Elle warf mir einen Blick zu, und ich schaute zu Boden. »Darf ich fragen, Mrs Forbes, wie dieses Kind wohl ohne Sie zurechtkommen würde?«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Louise hörbar erschrocken.

»Nun, dann werde ich einmal etwas deutlicher: Angenommen, ein schreckliches Unheil würde Ihnen und Ihrem Gatten hier widerfahren – was sollte dann aus dem kleinen Laurence werden?«

»Das reicht! Unerhört, so etwas in meinem Laden zu äußern!«, sagte Rupert jetzt mit erhobener Stimme.

»Das war nur so dahingesagt, Mr Forbes. Ich räume jedoch ein, dass diese Frage schwer zu beantworten ist. Denn Sie können natürlich gar nicht wissen, was aus Ihrem Kind werden würde.«

Laurence begann nun lauthals zu weinen.

»Gehen Sie jetzt bitte«, sagte Rupert fest. »Sie beunruhigen meine Frau.«

»Eine Mutter bedeutet die ganze Welt für ihr Kind«, fuhr Kreeg ungerührt fort. »Sie ist Beschützerin, Freundin, Anker. Ohne diesen Anker kann ein Kind davontreiben, und dann weiß man nie, was geschehen wird.«

»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Mr Zeeker, und nun verlassen Sie augenblicklich den Laden«, verlangte Rupert erneut.

»Stellen Sie sich doch einmal vor, ich würde Sie jetzt entführen, Mrs Forbes, und Ihr Kind wäre zu einem Dasein ohne Mutter verdammt. Glauben Sie nicht, dass Laurence hier dann das Recht hätte, sich an mir zu rächen?«

»Sie bedrohen mein Kind?«, sagte Rupert jetzt wutentbrannt.

»Ich? Nein, so etwas würde ich niemals tun, Mr Forbes, das entspricht ganz und gar nicht meinem Charakter. Bei dem dunkelhaarigen braunäugigen Mann, der hier angestellt ist, wäre ich mir da allerdings nicht so sicher.«

»Teufel auch, jetzt reicht es mir aber mit Ihnen.« Die Dielen knarrten laut, als Rupert mit schnellen Schritten zu Kreeg trat, um ihn hinauszubefördern. Ich hörte einen Aufschrei von Louise.

»Lassen Sie ihn los!«, schrie sie. Ich packte den Türknauf, bereit, Rupert zu Hilfe zu eilen. Unter keinen Umständen würde ich zulassen, dass er verletzt wurde.

»Ich lasse Ihren Gatten gern wieder los, Mrs Forbes«, knurrte Kreeg, »aber nur wenn Sie mir sagen, wo sich die Tanits aufhalten.«

»Wer soll das denn sein, diese Tanits?«, schrie Louise. Ich war zutiefst gerührt, dass sie trotz dieser Bedrohung so tapfer zu uns hielt.

Dann war ein Rumsen und Keuchen zu hören, als Rupert offenbar zu Boden fiel, nachdem Kreeg ihn losgelassen hatte. »Ich weiß, dass die beiden für Ihre Familie gearbeitet haben«, sprach Kreeg weiter. »Hatte unlängst einen Drink und ein interessantes Gespräch mit Ihrem Bruder, Mrs Forbes. Wobei der haltlose Mensch fast die ganze Flasche Whisky leer gesoffen hat, genauer gesagt. Jedenfalls hat er mir berichtet, dass die Tanits Ihr Anwesen verlassen haben und nun diese Buchhandlung hier betreiben.«

»Wir kennen diese Leute nicht«, sagte Rupert, immer noch um Atem ringend. »Wie Sie ja selbst erlebt haben, ist Teddy ein Trinker, dem man kein einziges Wort glauben kann. Wir haben keinerlei Grund, Sie anzulügen.«

»Ach ja? Was Tanit Ihnen erzählt hat, ist nicht wahr, Mr Forbes, Sie beschäftigen hier einen Mörder. Das hat er gewiss nicht erwähnt, oder? Glauben Sie mir, ich würde Sie gern von der Bedrohung befreien, die Tanit für Ihre Familie darstellt.«

»Ich rufe jetzt die Polizei.« Ich hörte, wie Rupert nach hinten eilte und den Telefonhörer abnahm. »Sie sollten jetzt lieber verschwinden, wenn Sie nicht verhaftet werden wollen. Ihnen ist sicher nicht klar, wen Sie da gerade attackiert haben. Mein betrunkener Bruder hat wahrscheinlich nicht erwähnt, dass die Buchhandlung nur ein Hobby für mich ist. Ich arbeite für die britische Regierung.«

»Da sind Sie nicht zu beneiden. Nun gut, ich verabschiede mich. Doch zuvor noch eines … Zu Beginn unserer Unterhaltung erwähnten Sie den Krieg. Würden Sie wohl einen Unterschied machen zwischen einem Soldaten, der Ihren Freund getötet hat, und denen, die diesen Soldaten schützen?«

»Raus! Verschwinden Sie!«, schrie jetzt Louise, während Laurence’ Weinen immer lauter wurde.

»Ganz wie Sie wünschen.« Die Ladenglocke klingelte, doch dann fügte Kreeg noch hinzu: »Ach ja, und er heißt übrigens nicht ›Robert‹.« Dann knallte er die Tür hinter sich zu.

»Schsch, mein Schatz, alles ist wieder gut«, versuchte Louise den kleinen Laurence zu beruhigen, während Rupert die Tür öffnete, hinter der wir uns versteckten.

»Um Himmels willen, meine Freunde, was um alles in der Welt hatte das denn zu bedeuten?!«, fragte Rupert, als Elle und ich hinter der Tür auftauchten. Louise schloss die Ladentür ab und zog die Rollos herunter.

Ich schüttelte Rupert die Hand. »Danke. Vielen Dank, dass Sie uns nicht verraten haben.«

»Keine Ursache, mein Bester. Ich mag kurzsichtig sein, aber wenn’s Ärger gibt, sehe ich das auf den ersten Blick. Der Mistkerl hat mir allerdings fast den Hals umgedreht, da wäre jetzt eine Erklärung schon angebracht, meine ich.«

Ich schilderte Rupert und Louise die Hintergründe – dass Kreeg Eszu glaubte, ich sei verantwortlich für den Tod seiner Mutter, und deshalb geschworen habe, mich zu töten.

»Oh, Robert, wie entsetzlich«, sagte Louise mitfühlend. »Das tut mir so leid für Sie. Was für eine schreckliche Situation.«

»Ja, so ist es, Louise. Wir können Ihnen gar nicht genug danken für alles, was Sie für uns getan haben. Sie haben Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um unseres zu retten …« Mir versagte die Stimme. »Das werde ich Ihnen nie vergessen. Sie müssen aber wissen, dass ich niemals leichtfertig Ihre Familie in Gefahr gebracht hätte. Wir hatten vermutet, dass Kreeg vielleicht im Krieg ums Leben gekommen wäre.«

»Was aber leider nicht der Fall ist, wie wir jetzt wissen«, fügte Elle niedergeschlagen hinzu.

»Was haben Sie nun vor?«, fragte Rupert. »Hier sind Sie nicht mehr sicher, er weiß von Ihrer Anwesenheit.«

»Sollen wir in die Schweiz gehen?«, fragte Elle. »Mr Kohler hat uns doch mitgeteilt, dass er täglich mit der Bewilligung unserer Staatsbürgerschaft rechnet.«

»Und dann?«, erwiderte ich. »Ich werde Schweizer Bürger sein, aber unter meinem eigenen Namen. Wenn Kreeg uns hier gefunden hat, wird ihm das dort auch gelingen.« Ich strich mir über die Stirn. »Ich fürchte, das Netz zieht sich immer weiter zu.«

»Wie eng fühlen Sie sich dem Leben in Europa verbunden?«, erkundigte sich Rupert.

»Ich fürchte, Amerika ist auch kein Ausweg«, antwortete ich. »Darüber habe ich schon öfter nachgedacht. Aber mit den modernen Möglichkeiten der Nachrichtentechnik würde Kreeg uns über kurz oder lang auch dort aufspüren, vermute ich.«

Rupert nickte. »An Amerika dachte ich eigentlich auch nicht.« Ich sah ihn fragend an. »Ein alter Schulfreund von mir hat seine Frau verloren, sie starb an einer Lungenentzündung. Der arme Bursche konnte es nicht mehr länger ertragen, hier zu leben, weil alles ihn an diesen schmerzlichen Verlust erinnerte. Deshalb stieg er auf ein Schiff und fuhr ans Ende der Welt.«

»Ans Ende der Welt?«, wiederholte ich.

»Na ja, nicht ganz«, antwortete Rupert, »aber das könnte es jedenfalls sein. Ich spreche von Australien.«

»Australien?«, rief Elle verwundert aus.

Rupert verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann im Raum umherzuwandern. »Soll ein großartiges Land sein. Prächtiges Wetter, großartige Natur … und natürlich die endlose Weite vom abgelegenen menschenleeren Outback. Ich denke mir, wer untertauchen will, ist da am rechten Ort und könnte noch einmal ganz von vorn anfangen. Dieser Ansicht bin jedenfalls ich als Mitglied des Geheimdienstes Ihrer Majestät.«

Elle sah mich an. »Ich weiß nichts über Australien«, sagte sie. »Aber irgendetwas müssen wir unternehmen. Rupert hat natürlich recht, hier können wir nicht bleiben.«

»Und wenn dieser Feind beschlossen hat, Sie zu verfolgen, können Sie sich gar nicht weit genug entfernen«, gab Louise mit einem matten Lächeln zu bedenken.

»Sollte er noch einmal hier auftauchen«, sagte Rupert, »werden wir ihn auf die falsche Fährte lenken. Wir könnten doch sagen, Sie seien nach Amerika geflohen und wir hätten mit Ihnen nichts mehr zu schaffen. Damit er endgültig Ihre Spur verliert.«

»Das wäre ungeheuer hilfreich«, sagte ich erleichtert. »Aber dieser Mann … ist hochgefährlich. Sie müssen ungemein vorsichtig sein.«

»Hab’s verstanden, alter Junge. Sie scheinen zu vergessen, dass ich für den MI5 arbeite. Ich mag ein wenig versponnen wirken, bin den Umgang mit zwielichtigen Gesellen aber gewohnt. Apropos: Ich werde natürlich sofort Nachforschungen über diesen Kerl anstellen. Vielleicht finde ich irgendetwas, das Anlass gibt, ihn zu verhaften und des Landes zu verweisen. Ein paar Tage wegsperren kann ich ihn auf jeden Fall, weil er versucht hat, mich zu würgen. Wie schreibt sich ›Zeeker‹ genau?«

»Das ist ein Deckname«, antwortete ich. »In Wahrheit heißt er Kreeg Eszu. Aber ich bezweifle, dass Sie viel über ihn finden werden. Wie ich hat er seit Jahren wenig Spuren in der Welt hinterlassen.«

»Dennoch, ich werde mein Bestes versuchen. Und bis dahin: Auf nach Australien also?«

Als Elle und ich uns einen Blick zuwarfen, sahen wir beide den Schmerz in den Augen des anderen. Es hatte den Anschein gehabt, als hätte unser Leben eine Wendung zum Guten genommen … doch nun wurde uns wieder grausam der Boden unter den Füßen weggerissen. »Es ist … so weit weg«, sagte ich schließlich zögernd.

»Verzeihen Sie mir, Robert, aber ist das nicht genau der Sinn der Sache?«, bemerkte Rupert behutsam.

»Wir hätten gar nichts«, murmelte Elle, »und müssten wieder ganz von vorne anfangen.«

»Nur die Ruhe, es muss ja nicht auf Dauer sein«, wandte Rupert ein. »Sehen Sie es doch einfach mal als Auszeit an. Sie beide tauchen eine Weile unter – ein paar Monate vielleicht oder ein bisschen länger –, ich schaue indessen, was ich hier tun kann. Klingt das nach einem vernünftigen Plan?«

Ich nahm Elles Hand und sagte leise: »Ja.«

Rupert klopfte mir auf die Schulter. »Gut. Dann befördern wir Sie mal nach Tilbury. Mit etwas Glück fährt von dort innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden ein Schiff.«

»Sie sind wirklich zu gütig, Rupert«, sagte Elle.

»Ach bitte, das ist doch das Mindeste, was wir tun können.«

»Meine Mutter spricht immer noch so herzlich von Ihnen beiden«, fügte Louise hinzu. »Und es ist großartig, was Sie hier in der Buchhandlung geleistet haben.«

»Wir werden den Laden schrecklich vermissen«, sagte Elle bedrückt.

»Diese Reise nach Down Under wird übrigens eine Stange Geld kosten«, bemerkte Rupert. »Wie sieht es mit Ihren Finanzen aus?«

»Wir kommen zurecht, danke«, antwortete ich. »Sie haben uns einen großzügigen Lohn bezahlt.«

»Prächtig, prächtig, mein Bester. Dann schlage ich vor, Sie packen Ihre Siebensachen, und ich bringe Sie nach Essex. Mein Wagen steht vor der Tür.«

»Ich bleibe mit Laurence hier«, sagte Louise.

»Das sollten Sie auf gar keinen Fall tun!«, widersprach ich. »Kreeg Eszu scheut auch vor Brandstiftung nicht zurück. Ich würde um Ihre Sicherheit fürchten.«

»Brandstiftung?«, wiederholte Rupert. »Nun, dieses Schicksal darf Beatrix Potters Buchhandlung auf gar keinen Fall ereilen. Ich werde ein paar Anrufe tätigen und für eine dezente Überwachung sorgen. Sobald der Schuft sich auch nur in der Nähe des Ladens blicken lässt, wird man ihn festnehmen.«

»Manchmal kannst du wirklich nützlich sein, Rupes«, sagte Louise und zwinkerte ihrem Mann zu.

»Ich gebe mir alle Mühe. Nun, dann machen Sie sich doch mal reisefertig, während ich mich ans Telefon hänge, was meinen Sie?«

Elle und ich eilten nach oben und begannen mit den Tätigkeiten, die uns bedauerlicherweise inzwischen nur allzu vertraut waren. Die Koffer wurden unter dem Bett hervorgezogen, nur das Nötigste hineingeworfen. Wir bewegten uns stumm und mechanisch, in Gedanken mit diesem neuerlichen gewaltigen Umbruch in unserem Leben beschäftigt.

»Rupert hat sehr gute Verbindungen«, sagte ich nach einer Weile. »Er wird uns bestimmt mit dem Transfer von Geldern und solchen Dingen helfen können.«

»Und was wird aus unseren Angelegenheiten in der Schweiz?«, fragte Elle. »Hatte Mr Kohler dich nicht ausdrücklich gebeten, nie wieder spurlos zu verschwinden?«

»Doch, hat er. Dazu muss ich mir während der Reise etwas einfallen lassen. Die wird vermutlich ohnehin einige Wochen dauern.«

»Ja … ich …« Elle verstummte. Tränen traten ihr in die Augen.

»Oh, mein Liebling.« Ich ließ die Hemden fallen, die ich gerade in den Koffer packen wollte, und zog Elle in meine Arme. »Es tut mir so entsetzlich leid. Das alles ist so furchtbar ungerecht, vor allem dir gegenüber.« Die mühsam unterdrückten Tränen brachen sich jetzt doch Bahn, und Elle schluchzte an meiner Brust. »Bitte verzeih mir. Durch mich ist dein Leben unendlich schwierig geworden.«

»Darum geht es gar nicht, Bo. Ich hatte nur gehofft, wir hätten Frieden gefunden. Du hast mir doch immer gesagt, ich soll dem Universum vertrauen. Deshalb hatte ich geglaubt, Kreeg Eszu wäre tot. Ich hatte zu hoffen gewagt, dass wir jetzt unser wirkliches Leben beginnen könnten … Heirat, Kinder … aber das ist natürlich mein eigener Fehler …«

Ich hielt sie fest umschlungen. »Bitte, Elle, sag so etwas nicht. Nichts an diesem ganzen schlimmen Schlamassel hat etwas mit dir zu tun. Es ist die Last, die ich zu tragen habe, und du bist mir dabei die größte Stütze. Was ich ohne dich getan hätte, kann ich gar nicht ermessen.« Jetzt wurden auch meine Augen feucht.

»Hör auf, Bo, bitte. Das Leben ist ein Geschenk, wie es auch gerade aussehen mag. Also«, fügte sie hinzu, »Australien.«

»Australien«, bestätigte ich.

Elle löste sich aus meinen Armen und klatschte aufmunternd in die Hände. »Ein neues Abenteuer also. Über das Wetter dort werde ich mich ganz gewiss nicht beklagen. Aber ich habe einige Schauergeschichten über Spinnen gehört.«

»Hab keine Angst, Elle, ich werde dich beschützen. Spinnen können zwar beißen, aber zumindest keine Gebäude niederbrennen«, sagte ich mit einem matten Grinsen.

»Da hast du recht«, seufzte sie. »Mit etwas Glück wird es Kreeg nicht gelingen, uns am anderen Ende der Welt aufzuspüren. Vielleicht sollte ich lieber dankbar sein für die Sicherheit, die uns Australien bieten kann, anstatt um unser abgesichertes Leben in der Schweiz zu trauern. Und letztlich spielt es auch gar keine Rolle, wo wir sind, mein liebster Bo. Wir sind überall zu Hause, solange wir nur zusammen sind.« Mein Blick heftete sich auf ihren Ring, und ich starrte darauf, bis Elle schließlich fragte: »Was ist?«

»Das empfinde ich genauso wie du.« Ich nahm ihre Hand und wiederholte: »Wir sind überall zu Hause, solange wir nur zusammen sind. Zu viel Zeit ist vergangen, in der ich nicht mit dir verheiratet war, Elle Leopine.«

Sie sah überrascht aus. »Ich bin ganz deiner Meinung, mein Liebling«, pflichtete sie mir bei.

»Ich habe eine Idee«, verkündete ich mit funkelnden Augen.

Elle sah ein wenig aufgeregt, aber auch verwirrt aus. »Eine Idee?«

»Ein Schiffskapitän darf offiziell auf hoher See Trauungen abhalten und eine gültige Heiratsurkunde ausstellen. Wir könnten während der Reise nach Australien heiraten, Elle!« Ich sank auf ein Knie. »Elle Leopine. Du bist die große, ewige, allumfassende Liebe meines Lebens. Willst du mich heiraten?«

Es war mir gelungen, sie zu überraschen, was – wie mir einmal zu Ohren gekommen war – wohl das Geheimnis eines gelungenen Heiratsantrags ist.

»Oh, Bo.« Elle schlug beide Hände vor den Mund. »Ja, natürlich! Ja, ich will!«

Und so standen wir glücklich lachend im Obergeschoss von Arthur Morston Books, und der Rest der Welt geriet für einen kurzen Moment vollkommen in Vergessenheit.

***

Die Fahrt zum Hafen von Tilbury in Essex dauerte nicht lange und verlief ereignislos. Rupert übertraf sich selbst, seine Planung war exzellent. Er hatte einen Freund beauftragt, mit dem exakt gleichen Wagen, wie Rupert selbst ihn besaß, vor dem Buchladen zu halten, falls Eszu ihn beschatten sollte. Der Freund fuhr Richtung Norden, während kurz darauf Elle und ich in Ruperts Auto stiegen. Und schon waren wir wiederum unterwegs in ein neues Leben.

»Morgen sticht ein Dampfer in See«, berichtete Rupert. »Er legt einen Zwischenstopp in Port Said in Ägypten ein und fährt dann weiter bis Adelaide. Ich wage zu behaupten, dass ich diesen Mistkerl Kreeg Eszu wegen versuchten Mordes hinter Schloss und Riegel gebracht habe, bis Sie den Fuß auf australischen Boden setzen. Machen Sie sich nur keine Gedanken.« Ruperts lässige, fröhliche Art munterte mich zwar auf, aber ich war weitaus weniger zuversichtlich als er. »In der Nähe des Hafens gibt es wohl ein einigermaßen anständiges Hotel«, fuhr Rupert fort. »Ich setze Sie da ab, und von dort aus wird man auch Ihre Fahrkarten für die Schiffspassage organisieren können. Sie nehmen die RMS Orient

»Vielen Dank, Rupert.«

»Gern geschehen, mein Freund. Wenn Sie sich ein wenig eingelebt haben, schreiben Sie mir an die Adresse der Buchhandlung, ich halte Sie dann auf dem Laufenden. Mit etwas Glück können Sie beide bald nach Europa zurückkehren und sich das Märchenschloss in der Schweiz errichten!« Als wir vor dem Voyager Hotel anhielten, schüttelte ich Rupert fest die Hand, bevor ich die Wagentür öffnete. »Viel Glück, Mr und Mrs Tanit«, sagte er. »Und denken Sie daran: Sobald sich dieser Schuft irgendwo blicken lässt, wird er auf eine falsche Fährte gelockt, während ich alles daransetze, ihn verhaften zu lassen.«

Wir winkten Rupert zum Abschied und betraten dann das Hotel. Ein verstaubter Flügel und welke Topfpflanzen wiesen auf verblichene Pracht hin. Das Hotel mochte einstmals luxuriös gewesen sein, war aber während des Kriegs sichtlich heruntergekommen.

»Guten Abend, Sir«, begrüßte mich der bebrillte Empfangschef.

»Guten Abend. Ich hätte gern ein Zimmer, bitte.«

»Wie lange möchten Sie beide bleiben?«

»Nur für eine Nacht. Und man sagte uns, dass wir hier Fahrkarten für das Dampfschiff bekommen könnten, das morgen früh ablegt.«

»Selbstverständlich, Sir, das können wir für Sie organisieren. Würden Sie mir einige Angaben …«

»Ach, Entschuldigung, ich habe einen Fehler gemacht«, unterbrach ich den Mann. »Ich bräuchte zwei Zimmer.«

Elle warf mir einen fragenden Blick zu.

»Zwei Zimmer?«, wiederholte der Empfangschef.

»Ja, bitte.« Ich beugte mich vertraulich über den Tresen. »Meine Verlobte und ich heiraten morgen an Bord.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch. Also zwei Zimmer«, sagte der Mann schmunzelnd. »Ich beneide Sie regelrecht, weil Sie morgen an Bord dieses Schiffes gehen können. Ein Neuanfang, nicht wahr?«

Der Mann konnte natürlich nicht ahnen, wie recht er damit hatte. »Ja, so ist es«, bestätigte ich.

»Wunderbar. Das könnten wir alle gut gebrauchen nach diesen letzten Jahren, Mr …«

»Tanit. Und das ist Miss Leopine.«

»Vielen Dank. Ich werde die Fahrkarten in Ihrem Namen buchen, Sir. In welcher Klasse möchten Sie reisen?«

»Oh.« Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. »Zweite«, sagte ich schließlich.

»Sehr wohl, Sir. Ich lasse Ihnen die Fahrkarten aufs Zimmer bringen. Bezahlen können Sie morgen früh bei der Abmeldung. Das Schiff legt um Punkt zehn Uhr ab. Sie sollten spätestens eine halbe Stunde vorher an Bord sein.«

Wir stellten unser Gepäck am Empfang ab, damit es aufs Zimmer gebracht wurde, nahmen die Schlüssel entgegen und gingen nach oben.

»Was ist los, Bo?«, raunte Elle. »Warum hast du uns zwei Zimmer gebucht?«

»Das ist doch sonnenklar, oder nicht? Der Bräutigam darf die Braut vor der Trauung nicht sehen!«

Elle kicherte. »Wie romantisch. Obwohl wir ja an sich jeden Penny für unseren Neuanfang in Australien brauchen. Wir hätten das Geld lieber sparen sollen.«

»Ach, Unsinn. Wir sollten uns doch zumindest ein paar Traditionen gönnen, meinst du nicht auch? Außerdem«, fügte ich hinzu, »habe ich genügend Rücklagen, damit du ein Hochzeitskleid bekommen kannst. Ich finde, wir sollten heute Nachmittag eines besorgen.«

»Das ist wirklich reizend von dir, Bo, aber vollkommen unnötig.«

»Ganz im Gegenteil, Elle!«, widersprach ich. »Das ist sogar dringend nötig, finde ich. Aschenputtel wird ein schönes Kleid tragen und am Ball teilnehmen!«

Wie sich dann zeigte, lag ein ganz besonderer Zauber über diesem Tag. Hand in Hand spazierten Elle und ich an dem kalten Nachmittag durch die Hafengegend. Wir genossen die Wintersonne, tranken heißen Tee aus Pappbechern, um unsere Hände zu wärmen, und statteten sogar dem Schiff, das uns über den Ozean befördern würde, einen Besuch ab. Am Pier angekommen, schauten wir zu dem mächtigen Dampfer RMS Orient hinauf, der in seiner gewaltigen Größe etwas Majestätisches ausstrahlte. Er war an die hundertfünfzig Meter lang und etwa dreißig Meter hoch, hatte einen schimmernden schwarzen Rumpf und zwei strahlend weiße Decks mit zahllosen Bullaugen.

»Du liebe Güte«, sagte Elle staunend. »Könnten wir nicht für immer auf diesem Schiff leben? Dann wären wir nie mehr in Gefahr.«

Ich überlegte einen Augenblick. »Ja, du hast recht. Eine ganz hervorragende Idee. Vielleicht sollte ich Agathas Geld einfach für eine dieser gigantischen Jachten ausgeben, die in Zeitschriften abgebildet sind?«

»Aber nur, wenn sie drei Swimmingpools hat, Bo«, sagte Elle lachend. Das helle Licht der Wintersonne ließ ihr Gesicht erstrahlen, und etwas Schöneres hatte ich noch nie im Leben gesehen. Mir kam eine Idee.

»Warte hier!«, sagte ich und sprang auf.

»Was ist denn, Bo? Was machst du?«, rief Elle.

»Bleib bitte einfach so sitzen!« Ich rannte zu einer schmalen Seitenstraße, wo wir zuvor an einem kleinen Laden für Künstlerbedarf vorbeigekommen waren. Nachdem ich dort ein paar Blatt Papier und Kohlestifte gekauft hatte, kehrte ich im Laufschritt zu Elle zurück.

»Was hast du vor?«, fragte sie.

»Ich möchte dich zeichnen.«

»Was, mich? Zeichnen?« Elle kicherte.

»Ja. Monsieur Landowski hat in seinem Atelier einmal etwas über den richtigen Augenblick gesagt. Er meinte, er wisse erst in dem Moment, wenn er etwas sehe , was er gestalten wolle. Erst jetzt meine ich zu verstehen, was er damit meinte. Mir ist gerade danach, deine Schönheit einzufangen.«

»Freut mich, dass dir nach all den Jahren auch noch danach ist, mir Komplimente zu machen«, sagte Elle verschmitzt.

»Ich hatte bislang nicht den Mut, Porträts zu zeichnen, nur Landschaften. Nun hoffe ich natürlich sehr, dass ich diesem wunderbaren Anblick gerecht werden kann …«

Ich machte mich ans Werk und gab mir alle Mühe, um Elles wunderschöne große Augen, ihre zierliche Nase und die vollen Lippen in ihrem anmutigen herzförmigen Gesicht darzustellen. Nach einer Viertelstunde war das Porträt fertig, und als ich es mit Elle verglich, war ich insgeheim zufrieden mit meinem Ergebnis. Die Zeichnung war auf jeden Fall besser geraten als jeder Fluss oder Baum, den ich bislang abzubilden versucht hatte.

»Zeig es mir«, verlangte Elle. Ich reichte ihr das Blatt, und sie betrachtete es eingehend, bevor sie es mir zurückgab. »Ich finde das Bild wundervoll. Danke.«

»Ich weiß, dass es alles andere als vollkommen ist«, sagte ich. »Aber es wird mich für immer an diesen Moment erinnern.«

»Und warum wünschst du dir das, Bo?«

Ich schloss die Augen und atmete in tiefen Zügen die frische salzige Meeresluft ein, die mir neue Kraft zu geben schien. »Weil ich trotz aller Widrigkeiten, mein Liebling, zuversichtlich in unsere Zukunft blicke. Und weil ich morgen die große Liebe meines Lebens heiraten werde.«

Elle küsste mich auf die Wange. »Ich werde diese Zeichnung für immer aufbewahren.«

Nach einer Weile erhoben wir uns und erkundigten uns bei einer Passantin nach Modegeschäften vor Ort. Eine hübsche kleine Schneiderei wurde uns empfohlen.

»Triff die Auswahl bitte allein, Elle«, erklärte ich. »Ich darf das Kleid vor der Trauung nicht sehen, das verlangt die Tradition. Und lass dir ruhig Zeit.« Nachdem sie den Laden betreten hatte, fiel mein Blick auf mein eigenes Spiegelbild in der Schaufensterscheibe, und ich musste mir eingestehen, dass ich zurzeit weitaus älter aussah, als ich tatsächlich war. Meine Haare wurden bereits grau, und die Furchen in meiner Stirn schienen von Tag zu Tag tiefer zu werden. Ich konnte nur hoffen, dass dieser Prozess sich verlangsamen würde, wenn demnächst ganze Weltmeere zwischen mir und Kreeg Eszu liegen würden.

Nach etwa zwanzig Minuten war die Türglocke erneut zu hören, und Elle kam mit strahlendem Lächeln aus dem Laden, in der Hand eine hellblaue Papiertüte.

»Vielen Dank, Bo. Ich hoffe, es wird dir gefallen.«

Im Hotel begleitete ich meine Verlobte zu ihrem Zimmer, das im Stockwerk über mir lag.

»Hier sollte ich mich jetzt für heute verabschieden.« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich meine, eigentlich dürfte ich dich erst bei der Trauung wiedersehen, aber ich möchte sichergehen, dass du morgen auch wirklich an Bord bist. Deshalb erwarte ich dich um halb zehn an der Gangway auf der Orient

»Gut, um halb zehn«, wiederholte Elle.

Ich strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Deine letzte Nacht des sündigen Lebens …«

»Ha!« Elle lachte auf. »Dafür bin ich nicht verantwortlich zu machen. Daran bist ganz allein du schuld.«

Ich hielt beide Hände hoch. »Ich bekenne freimütig, dass ich dich zu diesem Lotterleben verführt habe. Wirst du mir jemals vergeben können?« Ich legte gespielt bittend die Hände zusammen.

»Da du ein Einsehen hattest und das morgen wiedergutmachen willst, wäre ich zur Vergebung geneigt«, erwiderte Elle vergnügt. »Aber da dies die letzte Nacht unseres sündigen Lebens sein wird, vielleicht sollten wir sie dann … doch noch richtig genießen?« Sie öffnete spielerisch meinen obersten Hemdknopf.

»Ah, verstehe.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Fürchtest du, dass sich nach unserer Hochzeit etwas ändern wird?«

»Unbedingt. Ich werde mich bestimmt nur noch halb so verlockend fühlen.«

»Nun, dann sollten wir wohl doch die Gunst der Stunde nutzen.« Ich küsste Elle, und sie zog mich in ihr Zimmer.

In dieser Nacht liebten wir uns leidenschaftlich, verloren uns ineinander bis zur Erschöpfung. Wir lebten in unserer eigenen Welt, der Rest des Universums war uns vollkommen gleichgültig. Als wir irgendwann eng umschlungen einschlummerten, begleiteten mich Elles ruhige Atemzüge in den Schlaf. Einige Stunden später erwachte ich und löste mich behutsam von ihr. Sie bewegte sich schlaftrunken, und ich küsste sie auf die Stirn.

»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe«, flüsterte ich. »Ich gehe jetzt auf mein Zimmer, um meine Sachen zu packen.«

»Ja, gut. Wir sehen uns an Bord der Orient

»Genau. Um halb zehn. Schlaf schön, mein Liebling.« An der Tür drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick auf meine künftige Frau. Sie war wieder eingeschlafen, und mit ihrer weißen Haut und dem schimmernden hellblonden Haar erinnerte sie mich an eine Engelsgestalt auf einem Gemälde von Botticelli.

Oft habe ich versucht, mir die Liebe zu erklären. Inzwischen glaube ich, dazu fähig zu sein. Liebe bedeutet, bereitwillig und aus ganzem Herzen das Wohl eines anderen Menschen über das eigene zu stellen, ungeachtet aller Folgen. Es gelang mir schließlich, mich vom Anblick meiner schlafenden Liebsten loszureißen, und als ich die Zimmertür hinter mir zuzog, war mein Herz voller Liebe für die wunderbare Frau, die seit zwanzig Jahren an meiner Seite war – und die ich morgen heiraten würde.