Atlantik
1949
Ohne dich
bin ich zerfallen
zu kosmischem Staub
Die Sterne sind schwarz
Die Nacht ist endlos
Die Plejaden weinen
Das Licht ist erloschen
Mein Leben ist erloschen
Ich bin allein
in meinem Bett
Meine Welt ist zerbrochen. Dieses Tagebuch wird gewiss mein letztes sein, die Geschichte von Atlas Tanit ist dann zu Ende. All die vielen Jahre ist es mir gelungen zu überleben, weil ich von der universellen Kraft gestärkt wurde, die Menschen zum Durchhalten befähigt – Hoffnung. Doch jetzt ist auch sie erloschen, und ich sehe mich außerstande weiterzumachen. Spät am Abend, wenn es still ist auf Deck, werde ich mich ins Meer stürzen, damit die eiskalten Fluten mich verschlingen.
Diesen letzten Eintrag schreibe ich nur noch aus Pflichtgefühl Ihnen gegenüber, liebe Leserin, lieber Leser. Es ist nicht das Ende, das ich mir gewünscht habe, als ich damals in meiner Kindheit zum ersten Mal zu schreiben begann. Vielleicht haben Sie dieses Tagebuch entdeckt und zuerst das Ende gelesen, um zu erfahren, was dem Mann widerfahren ist, der sich von einem Ozeandampfer ins Meer stürzte. Vielleicht haben Sie sich aber auch meiner gesamten Lebensgeschichte gewidmet, die Sie hoffentlich zumindest interessant fanden. Falls ja, haben Sie mein Schicksal eventuell bereits vorhergesehen.
Elle ist verschwunden.
Mein schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit, und die kann ich nun nicht mehr ertragen.
Nachdem ich in den frühen Morgenstunden aus Elles Zimmer gegangen war und mich in mein eigenes begeben hatte, schrieb ich Tagebuch, packte meinen Koffer und sank anschließend in einen friedlichen Schlummer voller wunderschöner Träume von meiner zukünftigen Frau. Um acht Uhr erwachte ich, stand auf und bezahlte die Hotelrechnung und unsere Fahrkarten für die Überfahrt. Dann ging ich an Bord der Orient und suchte unsere Kabine auf. Dem jungen Steward, der mir mit dem Gepäck behilflich war, erzählte ich froh und aufgeregt von unserem Plan, und der Mann versicherte mir, dass es dem Kapitän eine große Freude sein werde, uns zu trauen. Anschließend trank ich Kaffee und schlenderte an Deck, um nach Elle Ausschau zu halten.
Am Pier herrschte großes Gedränge, und ich konnte sehen, wie traurig es für viele Menschen war, sich von ihren Lieben trennen zu müssen, die nach Australien auswanderten. Diesen Schmerz konnte ich nur allzu gut nachvollziehen, und ich dankte den Sternen, dass ich diese Reise mit dem einzigen Menschen antreten würde, den ich als Familie brauchte.
Gegen halb zehn begab ich mich zur Gangway, wo Elle und ich verabredet waren. Als die Minuten vergingen und es bereits zwanzig vor zehn war, begann ich zu befürchten, dass Elle womöglich verschlafen hatte. Ich erklärte dem Steward die Situation, und er versicherte mir, dass mir vor der Abfahrt noch genug Zeit blieb, um zum Voyager Hotel zu laufen und rechtzeitig wieder zurück zu sein.
Ich eilte so schnell die Gangway hinunter, dass ich beinahe eine Familie ins Wasser gestoßen hätte. Im Hotel rannte ich durch die Lobby nach oben und hämmerte wie wild an die Tür von Elles Zimmer, aber drinnen rührte sich nichts.
»Elle!«, rief ich. »Elle, das Schiff fährt gleich ab! Elle!«
Da nichts geschah, hastete ich nach unten zur Rezeption, wo ich denselben bebrillten Mann vorfand, der uns am Vortag empfangen hatte.
»Ah, guten Morgen, Sir! Ihr großer Tag ist gekommen! Aber sollten Sie nicht bereits an Bord sein? In einer Viertelstunde wird die Gangway eingezogen.«
»Ja, ich weiß, aber meine Verlobte scheint noch zu schlafen. Wir waren an Bord verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Können Sie bitte ganz schnell ihr Zimmer aufschließen, damit ich sie wecken kann?«
Der Empfangschef sah verwundert aus. »Aber Ihre Verlobte hat vor einer halben Stunde mit ihrem Koffer das Hotel verlassen, Sir. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«
Ich runzelte die Stirn. »Das kann nicht sein, weshalb ist sie dann nicht an Bord? Sie müssen sich geirrt haben. Bitte schließen Sie das Zimmer auf.«
»Wirklich, Sir, Sie müssen mir glauben, ich habe …«
»JETZT SOFORT!«, schrie ich, woraufhin mich alle Leute in der Lobby erschrocken anstarrten.
»Wie Sie wünschen, Sir. Ich bitte meinen Kollegen, Sie zu begleiten …«
»Geben Sie den Schüssel her, ich gehe selbst.« Ich riss dem Mann den Zimmerschlüssel aus der Hand und rannte wieder nach oben. Als ich das Zimmer betrat, sah ich auf den ersten Blick, dass der Empfangschef recht hatte. Es war leer, nirgendwo lagen persönliche Gegenstände herum, das Bett war gemacht. Und auf dem kleinen Tisch stand eine Kaffeetasse mit einer Spur von Elles Lippenstift am Rand. Sie war heute Morgen noch hier gewesen, hatte das Hotel aber verlassen, wie der Empfangschef berichtet hatte.
Im ersten Moment war ich vor Freude überwältigt. Das konnte schließlich nur bedeuten, dass Elle an Bord war und wir uns irgendwie verpasst hatten. Jetzt blieben mir nur noch zehn Minuten, und ich hastete nach unten, warf den Schlüssel auf den Empfangstresen und eilte aufs Schiff. Oben an der Gangway hielt ich überall Ausschau nach Elle.
»Haben Sie eine hellblonde Frau mit dunkelblauem Mantel und Koffer in der Hand gesehen?«, fragte ich den Mann, der für die Gangway zuständig war. »Sie müsste vor Kurzem an Bord gegangen sein.«
Der Mann überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. »Bedauere, Sir, ich kann mich an keine Person erinnern, auf die diese Beschreibung passt. Aber das Schiff ist sehr groß, ich kann mich natürlich irren. Wenn diese Frau an Bord ist, wurde sie bestimmt zu ihrer Kabine gebracht. Fragen Sie am besten den Steward.«
Ich eilte zu unserer Kabine, wo ich aber auch nur meinen eigenen Koffer vorfand. Als ich auf dem Gang dem Steward begegnete, fragte ich ihn flehentlich, ob er Elle gesehen habe.
»Ihr Nachname lautet Leopine. Oder vielleicht hat sie auch den Namen Tanit benutzt. Hellblonde Haare, dunkelblauer Mantel. Sie ist meine Verlobte …« Vor Aufregung begann ich beinahe zu stottern. Auf meiner Uhr sah ich, dass das Schiff in fünf Minuten ablegen würde. Ich raste wieder zur Gangway zurück und fragte jeden, der mir begegnete, nach Elle, jedoch erfolglos. Inzwischen schlug mir das Herz bis zum Hals, und mir wurde schwindlig vor Panik.
Die Motoren des Dampfers erwachten dröhnend zum Leben.
»Nein, nein, bitte, nein!« Ich hielt einen Mann in weißer Uniform fest. »Sie müssen das Schiff anhalten! Ich weiß nicht, ob meine Verlobte an Bord ist!«
»Tut mir leid, Sir, um Punkt zehn Uhr wird die Gangway eingezogen. Wir können keinerlei Ausnahmen machen.« Ich lehnte mich an die Reling und hielt verzweifelt nach meiner Liebsten Ausschau. Als ich sie nirgendwo sah, rannte ich zur Gangway zurück und flehte den Matrosen an, der meine Misere erkannte, aber dennoch die Weisung seiner Vorgesetzten befolgen musste.
»Ich verstehe Sie, Sir«, sagte er beruhigend. »Ich würde Ihnen wirklich sehr gern helfen. Unter den Umständen sollten Sie vielleicht lieber von Bord gehen.«
»Aber wenn sie auf dem Schiff ist!«, schrie ich.
»Dann können Sie nachkommen, Sir. In wenigen Wochen legt erneut ein Dampfer ab.«
Als ich mich entnervt abwandte, sah ich mich plötzlich einer älteren Dame gegenüber. Sie hatte hohe Wangenknochen, helle Haut und leuchtend blaue Augen, denen von Elle nicht unähnlich. Ihr lockiges Haar war grau bis auf ein paar rotbraune Strähnen.
»Gangway einziehen!«, kam der Befehl von oben. Zwei weitere Matrosen eilten herbei, und zu dritt zogen die Männer an den Seilen, um die Gangway einzuholen. Das ohrenbetäubende Dröhnen des Schiffshorns war zu vernehmen.
»Wo ist sie denn nur? Sie sollte doch hier sein!« Ich wandte mich der älteren Dame zu. »Verzeihung, Madam, haben Sie vielleicht eine blonde Frau gesehen, die in den letzten Minuten an Bord gegangen ist?«
»Das kann ich nicht sagen, Sir.« Der Akzent der Dame war unüberhörbar schottisch. »Hier waren so viele Leute unterwegs. Aber sie ist doch gewiss an Bord.«
Das Horn ertönte erneut, und das Schiff setzte sich in Bewegung. Ich erwog, im letzten Moment an Land zu springen. Vielleicht hatte der Matrose recht. Wenn ich hierblieb, könnte das Schlimmste nur sein, dass Elle unterwegs nach Australien und damit in Sicherheit war. Mir würde es gewiss gelingen, mich vor Kreeg ein paar Wochen lang zu verstecken. Aber wenn Elle sich nicht auf dem Schiff befand, musste ich in England bleiben, um sie zu beschützen. Meine Gedanken rasten.
»O Gott, wo bist du nur, Elle?«, schrie ich in den Wind. Meine Stimme ging im Dröhnen des Schiffshorns und dem Kreischen der Möwen unter. Ich stolperte aufs Deck zurück und hielt mich an der Reling fest. »Elle! Elle! Elle!«, schrie ich hilflos. Mir war, als stürzte ich in einen bodenlosen Abgrund, und ich rang um Luft. Während ich verzweifelt zum Pier starrte, entdeckte ich plötzlich etwas, das mir vertraut vorkam. Ich konnte es kaum glauben, aber zwischen den Menschen, die Kusshände warfen und mit Taschentüchern winkten, stand eine hellblaue Papiertüte, identisch mit der Tüte aus der Schneiderei, in der Elle ihr Hochzeitskleid gekauft hatte.
Aber es konnte doch nicht Elles Tüte sein, oder?
Ich hatte nichts zu verlieren.
»Entschuldigung! Entschuldigung!«, schrie ich zu den Leuten hinunter. »Meine Tüte! Ich habe meine Tüte stehen lassen!« Ich deutete und gestikulierte wild, bis ein Junge auf mich aufmerksam wurde und sich zu der Tüte umdrehte. Rasch drängte er sich durch die Menschenmenge und ergriff sie. »Ja! Bitte wirf sie rüber!«, rief ich ihm zu. Das Schiff war inzwischen etwa drei Meter vom Ufer weg und entfernte sich weiter. Der Junge lief zum Rand des Piers und blickte zu mir hinauf. Erschrocken wurde mir klar, dass es dem Jungen niemals gelingen würde, diese Distanz zu überwinden. Ich rannte zur Gangway zurück und sagte drängend zu dem Matrosen, der vorher so verständnisvoll gewesen war: »Bitte, meine Tüte! Dieser Junge hat sie gefunden!« Der Mann nickte und hechtete sich sofort über die Reling. Eine Sekunde lang glaubte ich, er wäre ins Wasser gefallen, aber dann sah ich, dass er eine Strickleiter hinunterkletterte. Unten angekommen, streckte er die freie Hand aus. Der Junge, der die Szene beobachtet hatte, zögerte.
»Jetzt oder nie!«, schrie der Matrose. Der Junge schaute noch einmal zu mir hinauf, und ich nickte ihm ermutigend zu. Dann schleuderte er die Tüte übers Wasser, und mir blieb fast das Herz stehen. Doch es gelang dem Matrosen, die Tüte zu fangen, ohne abzustürzen, und er kletterte rasch wieder nach oben. Der Junge jubelte, und ich applaudierte ihm, bevor ich die Tüte in Empfang nahm.
»Oh, danke, danke!«, rief ich aus.
»Die gehört Ihrer Verlobten, oder?«, fragte der Mann.
»Ja.«
»Na, wenn die Tüte auf dem Pier stand, kann man doch hoffen, dass Ihre Verlobte an Bord ist, oder?«
»Ja. Vielen Dank noch mal.« Ich drängte mich zwischen den Menschen hindurch, die, von ihren Gefühlen überwältigt, Abschied nahmen von ihrem Heimatland, um es für lange Zeit oder vielleicht für immer zu verlassen.
Auf dem Achterdeck war es ruhiger, sodass ich die Tüte öffnen konnte. Ich zog ein weißes Satinkleid heraus. Auf dem Boden der Tüte lagen zwei Papiere, und mir wurde schwindlig, als ich die Kohlezeichnung erkannte, die ich am Vortag von Elle angefertigt hatte. Auf dem anderen Blatt stand:
Keinen Menschen habe ich mehr bewundert als Dich.
Reise nach Australien im Wissen, dass Du Dich nicht um meine Sicherheit zu sorgen brauchst.
Ewig die Deine,
Elle
(Geh und leb Dein Leben, wie ich das meine leben muss.)
Ich fühlte mich wie betäubt, und alles erschien mir vollkommen unwirklich. Aus dieser Nachricht ging hervor, dass Elle sich dafür entschieden hatte, nicht an Bord zu gehen. Dass sie sich entschieden hatte, mich zu verlassen.
»Nein«, flüsterte ich. »Nein, das kann nicht …« Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden rasten vor meinem inneren Auge vorüber. Alles hatte so verheißungsvoll ausgesehen …
Ohne Vorwarnung gaben meine Knie nach, und ich sank zu Boden. Ich hatte mit Tränen gerechnet, aber sie blieben aus. Mein Körper hatte nicht mehr die Kraft dafür. In diesem Moment erlosch mein Lebenswille.
»’tschuldigung, Mister, alles in Ordnung mit Ihnen?« Als ich aufschaute, sah ich ein schrecklich dünnes Mädchen mit blasser Haut und schlaffen braunen Haaren vor mir. Es sprach mit starkem Cockney-Akzent und mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein. »He, Mister? Autsch, verflucht, der sieht aber ganz schön käsig aus, hol mal wen mit ’ner Uniform, hörst du, Eddie?« Ein vielleicht fünfjähriger Junge neben ihr flitzte gehorsam davon. »’tschuldigung, kann mir mal wer helfen, bitte? Der Bursche hier ist wohl hingeplumpst. Hallo, hören Sie mich?« Das Mädchen ging neben mir auf die Knie.
»Du darfst überhaupt nicht hier an Deck sein, du schmutzige Gossengöre«, war eine tiefe blasierte Stimme zu vernehmen. »Du gehörst nach unten in den Schiffsbauch, zu den Kanalratten.«
»Ist klar, Mister, wir wollten nur noch ’n letzten Blick auf England werfen. Aber dem Mann hier ist nicht wohl. Können Sie mal helfen?«, erwiderte das Mädchen.
Der Mann sagte ärgerlich: »Hol doch einen Steward. Die werden bezahlt für so was.« Und damit stolzierte er davon.
Das Mädchen warf die Hände in die Luft. »Danke für nichts!« Dann lächelte sie mich an, wobei eine Reihe ungepflegter gelblicher Zähne zum Vorschein kam. »Nur keine Sorge, Mister, Eddie holt jemanden.«
»Ich … kann nicht …«, murmelte ich kraftlos.
Das Mädchen ergriff meine Hand und schüttelte sie heftig, vermutlich, damit ich nicht ohnmächtig wurde. »Schon gut, Mister. Wie heißen Sie? Ich bin Sarah.«
»Sarah …«, stammelte ich.
Sie nickte. »Ganz recht, Mister. Alles bisschen viel auf einmal, wie? Geht mir auch so. Aber in Australien ist es bestimmt schön. Wetter soll warm sein, und wir können jeden Tag im Meer schwimmen, hab ich gehört.«
»Elle …«, stammelte ich, »Elle …«
Sarahs braune Augen betrachteten mich verwundert. »Elle? Wer ist das?«
Ich stöhnte. »Sie ist weg, sie ist weg.«
Sarah schaute sich um. »Weg? Wohin denn, Mister?«
»Weggegangen …«
Sie verdrehte die Augen. »Ach, Mist, jetzt spinnt er. Wird schon alles, Mister. Schauen Sie, hier ist jemand, der Bescheid weiß.« Ein uniformierter Steward kam auf uns zu. Der Mann wirkte verärgert.
»Was hast du hier zu suchen?«, raunzte er Sarah an.
Sie lachte trotzig. »Wollten England noch Lebewohl sagen. Einerlei, der arme Mann hier braucht Hilfe.«
Der Steward ging neben mir auf die Knie. »Ich kümmere mich um ihn. Und jetzt verschwinde bloß mit diesem Jungen nach unten. Ihr wisst, dass ihr nicht hier sein dürft. Es gab schon Beschwerden.«
Sarah seufzte. »Ja, schon recht. Komm, Eddie.« Der Kleine winkte mir zu, und ich bemühte mich, das Winken zu erwidern. »Hoffe, es geht Ihnen bald besser, Mister«, sagte Sarah. »Gute Reise noch.« Sie nahm den Jungen an der Hand, und die beiden trollten sich. Als ich ihnen nachschaute, sah ich, wie Sarah rasch zur Reling rannte und den Jungen hochhob, damit er darübergucken konnte. Den freien Arm schwenkte Sarah und schrie: »WIEDERSEHN, ENGLAND! Wink noch mal, Eddie!«
»Verschwindet!«, blaffte der Steward. »Auf der Stelle!« Die Kinder rannten davon. »Verzeihung, Sir, das ist mir sehr unangenehm. Man wird Sie nicht wieder belästigen.«
Nach und nach kam ich wieder zu mir. »Nein, ich habe den Kindern zu danken … Wer ist diese Sarah?«
Der Steward reagierte unwirsch. »Sind Waisen, die beiden. Unter Deck sind viele Waisenkinder, die nach Australien verschifft werden, um dort neue Eltern zu finden.«
»Waisenkinder?«, wiederholte ich erstaunt.
»Ja, Sir. Und ich entschuldige mich für diesen Vorfall. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Das Verhalten dieses Mannes begann mich zu ärgern. »Nein, ich …«
»Sie sind gestürzt, Sir. Keine Sorge, wir kümmern uns um Ihr Wohlbefinden.«
Ich versuchte mich hochzurappeln. »Ich … muss … das Schiff verlassen.«
Der Steward hielt mich fest. »Nur die Ruhe, Sir. Das ist nicht mehr möglich. Der nächste Halt des Schiffes ist Ägypten.«
Ich versuchte mich aus seinem Griff zu winden, war aber zu schwach dafür. »Nein, ich …« Mehr brachte ich nicht hervor, dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich im Bett in meiner Kabine wieder zu mir kam, beugte sich ein Mann im Tweedsakko über mich.
»Hallo, Mr Tanit. Fühlen Sie sich besser?«
Ich blinzelte heftig. »Ja. Was ist passiert?«
Der Mann lächelte. »Ich bin Doktor Lyons, der Schiffsarzt. Mit so einem frühen Einsatz während dieser Reise hätte ich nicht gerechnet, aber sieh an. Sie sind auf Deck gestürzt, Mr Tanit, können Sie sich daran erinnern?«
»Ja.«
Der Arzt brachte eine kleine Taschenlampe zum Vorschein und leuchtete mir damit in die Augen. »Sie scheinen einen sehr anstrengenden Morgen gehabt zu haben, da kann so etwas schon einmal passieren.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Der Steward auf Ihrem Deck sagte mir, Sie hätten an Bord heiraten wollen?« Ich nickte stumm. »Ich habe die Nachricht gelesen, die Sie in der Hand hielten. Tut mir leid für Sie. So etwas ist nicht leicht zu verkraften, das kann ich mir gut vorstellen.«
Grauen packte mich, als mir die Ereignisse vor meinem Zusammenbruch wieder ins Bewusstsein kamen. »O nein. O nein!« Ich setzte mich ruckartig auf.
Der Arzt legte mir die Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig, Mr Tanit. Hier, nehmen Sie das.« Er reichte mir eine Pille und ein Glas Wasser. »Das ist ein leichtes Beruhigungsmittel, damit werden Sie ein paar Stunden schlafen.«
Ich wollte aber nicht schlafen. »Ich muss das Schiff verlassen!«
Dr Lyons sah mich mitfühlend an. »Das ist nicht möglich, Mr Tanit. Deshalb schlage ich vor, dass Sie jetzt dieses Mittel nehmen. Ich verspreche Ihnen, dass die Zeit dann schneller vergeht.« Er steckte mir die Pille in den Mund, und ich schluckte sie. »So ist es gut. Das verschafft Ihnen eine Auszeit. Ich schaue später wieder nach Ihnen.«
Dr Lyons stand auf, und noch bevor er die Tür erreichte, war ich schon eingeschlafen.
Als ich aufwachte, hielt ich hier in meinem Tagebuch meine letzten Gedanken fest.
Um nicht verrückt zu werden, muss ich glauben, dass mein Leben keine Lüge war und dass Elle mich aufrichtig geliebt hat. Warum sie nicht aufs Schiff kam … Ich kann lediglich vermuten, dass sie sich außerstande sah, auf Dauer mit der Bedrohung durch Kreeg Eszu zu leben, der es sich zum Ziel gesetzt hat, mich zu töten. Das kann ich ihr nicht einmal vorwerfen. Wir haben wie unter einer dunklen Wolke gelebt. Elle verdient ein weitaus besseres Leben. Ich weiß jedenfalls, dass ich sie unsterblich liebe, und darüber bin ich froh.
Aber ich weiß auch, dass ohne sie die Welt für mich leer ist.
Und so endet hier die Geschichte von Atlas Tanit oder Bo d’Aplièse oder beiden – wem Sie auf diesen Seiten auch begegnet sind, liebe Leserin, lieber Leser. Wenn ich meinen Füller niedergelegt habe, werde ich an Deck gehen. Ich hoffe, die Sieben Schwestern werden ein allerletztes Mal für mich leuchten.
Den Tod fürchte ich nicht, hoffe jedoch, dass die kalten Wasser des Atlantik gnädig sind und mir die Qual ersparen, viele Stunden im Nichts zu treiben.
Doch was soll ich mit dem Diamanten tun? Soll ich ihn jemandem vermachen? Kann ich ihn irgendwie Mr Kohler zukommen lassen, damit er ihn an Georg und Claudia weitergibt? Aber wenn Kreeg jemals erfährt, wo sich der kostbare Stein befindet …
Ich werde ein Testament aufsetzen, bevor ich meinem Leben ein Ende bereite, und mein Vermögen den Hoffman-Geschwistern vermachen, damit für die Kinder gesorgt ist. Und vielleicht ist es wirklich am besten, wenn ich den elenden Diamanten mit in mein Grab in den Fluten nehme, damit er kein weiteres Unheil anrichten kann.
Etwas lässt mir jedoch keine Ruhe, bevor ich diese Seiten beende. Ich habe dieses Tagebuch 1928 in Paris begonnen. Jetzt amüsiert es mich geradezu, dass ich damals so überaus vorsichtig war, nicht einmal meinen Namen zu erwähnen. Was sich natürlich als überflüssig erwies, nachdem Kreeg mich in Leipzig entdeckte. Wenn Sie mich bisher begleitet haben, liebe Leserin, lieber Leser, will ich Ihnen nun der Vollständigkeit halber auch jene Ereignisse schildern, aus denen das Chaos entstand, das mein Leben seit damals belastete. Das bin ich Ihnen schuldig, meine ich.
Kreeg, wenn dir dieses Tagebuch jemals in die Hände fällt: Ich werde im Folgenden erneut die Umstände erklären, die zum Tod deiner Mutter führten. Bitte begreife, dass dieser Bericht von einem Mann verfasst wurde, der nicht mehr lange leben wird, nichts mehr zu verbergen hat und deshalb keinerlei Nutzen daraus ziehen würde, zu lügen.
Tjumen, Sibirien, April 1918
Im Rückblick scheint meine Geburt unter einem guten Stern gestanden zu haben, was ich damals freilich nicht ahnte. Das Ende der Romanow-Dynastie führte zu
Verzeihung, liebe Leserin, lieber Leser. Ich wurde unterbrochen, denn jemand klopfte an die Tür. Herein kam Dr Lyons, der nach mir sehen wollte. Er berichtete, als er sich in der dritten Klasse bei den Waisenkindern von deren Wohlergehen überzeugt hatte, habe sich ein Mädchen namens Sarah nach meinem Befinden erkundigt.
»Sie war sehr fürsorglich«, sagte ich, und dabei kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich tastete nach dem Diamanten auf meiner Brust. »Deshalb würde ich ihr gern danken. Können Sie mir sagen, wie ich zur dritten Klasse finde?«
»Gewiss, wenn Sie das wirklich wagen wollen«, antwortete der Arzt. »Die Kinder sind alle gesund, aber ich fürchte, mit der Körperhygiene nehmen Sie es nicht sehr genau, Mr Tanit.«
Mir gelang ein kleines Lachen. »Das macht mir nichts aus, Dr Lyons. Welchen Weg muss ich nehmen?«
Kurz darauf versuchte ich mich im Bauch der Orient in einem Gewirr aus Gängen und Korridoren zurechtzufinden. Schließlich gelangte ich mehrere Decks unter meinem zur dritten Klasse. Dort gab es kein Tageslicht, nur grellweiße Beleuchtung, und es kam mir vor, als würde ich jegliches Zeitgefühl verlieren.
Der Gemeinschaftsraum in der dritten Klasse war mit abgenutzten Tischen und Stühlen ausgestattet, dicker Zigarettenqualm hing in der Luft. An dem größten Tisch saß eine Schar ärmlich wirkender Kinder, darunter auch der kleine Eddie. Aber Sarah konnte ich nirgendwo entdecken.
Ich trat zu dem Tisch. »Entschuldigt die Störung, aber kann mir jemand von euch sagen, wo ich Sarah finde?«
»Hat sich wieder nach oben geschlichen«, sagte ein Junge und schlug sich dann die Hand vor den Mund, weil er sich verplappert hatte. »Aber seien Sie nicht böse mit ihr, Mister, sie will nur aufs Meer schauen.«
Ich lächelte beruhigend. »Keine Sorge, junger Mann, das mache ich selbst auch gern.«
»Dann kriegt sie keine Schläge?«, fragte der Junge.
»Schläge? Um Himmels willen, nein! Ganz im Gegenteil, ich wollte mich bei ihr bedanken.« Ich nickte Eddie zu und hielt den Daumen hoch. Der Junge erwiderte die Geste. »Ich arbeite auch nicht auf dem Schiff, ich bin nur ein Passagier.«
»Ein feiner Herr? So hörst du dich nämlich an«, sagte ein anderer Junge, und die Kinder kicherten.
»Ach, nicht so fein wie viele andere Passagiere hier an Bord. Finde ich Sarah dann auf dem Aussichtsdeck?«
»Denk schon, ja«, antwortete der Junge.
Auf dem Aussichtsdeck war es still, nur der endlose schwarze Ozean und die eisige Januarluft leisteten mir Gesellschaft. Seufzend stützte ich mich auf die Reling und blickte zum Himmel hinauf. Celaeno leuchtete in dieser Nacht besonders hell. Das tiefe Brummen der Schiffsmotoren wirkte beruhigend auf mich, und die frische Meeresluft war wohltuend.
»Sind Sie’s, Mister?«, hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme aus der Dunkelheit, und Sarah trat hinter einem Rettungsring hervor. »Der Mann, der vorhin umgekippt ist?«
»Hallo, Sarah. Ich wollte dir für deine Fürsorge danken.«
»Schsch, nicht so laut! Ich darf nicht hier oben sein!« Sie legte einen Finger an die Lippen.
Ich seufzte. »Was für eine lächerliche Vorschrift. Komm ruhig zu mir, das merkt doch niemand.«
Das Mädchen trat neben mich, und ein paar Momente lang standen wir nur da und atmeten die salzige Meeresluft ein. »Geht’s Ihnen besser?«, fragte Sarah schließlich.
Ich nickte. »Ja, viel besser, danke. Du warst der einzige Mensch, der mir gleich geholfen hat. Das war sehr nett von dir.«
»Versteht sich von selbst, Mister. Ist doch menschlicher Anstand, oder? Aber die ganzen feinen Pinkel da oben haben so viel Angst, sich schmutzig zu machen, dass sie nicht mal jemandem helfen.« Sarah schnalzte übertrieben erwachsen mit der Zunge.
Das Rauschen der Wellen tat mir wohl, und ich merkte, wie ich zur Ruhe kam. Es gefiel mir gut, auf dem Meer unterwegs zu sein. »Weißt du, wie viele Kinder mit dir nach Australien reisen?«, fragte ich.
Sie überlegte einen Moment. »Ich denk, so um die hundert. Ich bin schon fünfzehn, ich komm zurecht. Aber da sind auch so ganz Kleine dabei, die noch nicht mal drei sind. Die tun mir leid.« Sarah starrte aufs Meer hinaus, und ich war gerührt über ihre Fürsorglichkeit. Schließlich war das Mädchen selbst noch ein Kind.
»Darf ich fragen, was deinen Eltern widerfahren ist?«, erkundigte ich mich.
Sarah sah sich auf dem menschenleeren Deck um, als wolle sie sichergehen, dass niemand zuhörte. Ich vermutete, dass die Erinnerung schmerzhaft war und dass Sarah selten darüber sprach. »Im Krieg sind ’ne Menge Bomben aufs East End gefallen. Die letzte hat zehn Leute erwischt, auch meine Mam. Wir waren im Keller, wissen Sie, weil die Sirenen losgegangen waren. Meine Mam hatte ihr Strickzeug vergessen und ging los, um es zu holen, als das Ding aufs Dach fiel. Ich bin ohne auch nur den kleinsten Kratzer aus dem Schutt rausgebuddelt worden. Sechs war ich damals. Der Bursche, der mich hat jammern hören, hat gemeint, das wär das reinste Wunder gewesen.«
Ich wollte Sarah tröstend die Hand auf den Arm legen, unterließ es aber, weil ich nicht aufdringlich wirken wollte. »Wie schrecklich, das tut mir sehr leid. Wo bist du danach untergekommen?«
Sarah holte tief Luft und atmete langsam aus, bevor sie weitersprach. »Bei meiner Tante, die hat auch in der Straße gewohnt. Sollte nur so lang sein, bis mein Dad aus Frankreich zurückkam. Aber er kam eben nie mehr zurück aus dem Krieg, und meine Tante war zu arm, um mich zu behalten, deshalb musste ich ins Waisenhaus. War aber nicht so schlimm da, wir haben alle zusammengehalten. Und dann hat man uns gesagt, dass wir nach Australien gebracht werden, um da ein neues Leben anzufangen. Deshalb sind wir jetzt auf dem Pott hier.«
Die Orient pflügte durch eine riesige Woge, und Gischt sprühte uns ins Gesicht. Sarah gab ein keckerndes Lachen von sich. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend und brachte auch mich zum Lachen.
»Haben Sie auch jemanden im Krieg verloren, Mister?«, fragte Sarah.
Karine, Pip und Archie Vaughan kamen mir in den Sinn. »Ja.«
Sarah nickte weise. »Hab ich mir gedacht. Sie haben so traurige Augen.«
»Ach ja?« Sarah schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln, und ich blickte wieder in die Dunkelheit hinaus. »Ich habe auch gerade jemanden verloren, aber nicht wegen des Kriegs.«
»Wer war denn das?«
»Sie heißt Elle.« Ich schloss die Augen. »Und sie war meine große Liebe.«
Sarah stützte die Hände in die Hüften. »Sie heißt Elle? Das heißt, sie guckt sich nicht die Radieschen von unten an?«
Die Ausdrucksweise des Mädchens brachte mich wider Willen zum Schmunzeln. »Nein. Sie ist nur … nicht auf diesem Schiff.«
Sarah warf die Hände in die Luft. »Aber warum sind Sie denn so traurig? Sie müssen sie doch bloß wieder zurückholen.«
»Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber Elle will nicht mehr mit mir zusammen sein.« Ich tastete nach dem Diamanten. »Jedenfalls möchte ich dir noch einmal danken, Sarah. Und dir etwas schenken.« Ich nestelte das Band des Beutels aus meinem Hemdkragen hervor.
Das Mädchen legte mir die Hand auf den Arm. »O nein, ich nehm kein Geld von Ihnen, Mister. Nicht für ’ne freundliche Geste. Das wär nicht recht. Ich mein, wenn ich Ihre Socken stopfen oder Ihre Hose nähen soll, freu ich mich über Bezahlung. Aber nur dafür.«
Ich war ein wenig verdutzt. »Ich glaube, du verstehst das nicht ganz, Sarah, du könntest damit dein Leben verändern …«
»Mister, ich bin hier auf einem Schiff zum andern Ende der Welt. Glauben Sie mir, das ist Veränderung genug fürs Erste. Und wie gesagt: Ich bin geschickt mit den Händen, ich hoffe, dass ich Arbeit finde und mir mein eigenes Geld verdienen kann. Und einen Mann wünsch ich mir auch!«
Ich schob das Band wieder unter den Kragen. »Wenn das so ist, wünsche ich dir noch einen angenehmen Abend. Nochmals vielen Dank, Sarah.«
Als ich mich entfernte, rief Sarah mir plötzlich nach: »Glauben Sie an Gott, Mister?«
Die Frage verblüffte mich. Ich blieb stehen und drehte mich um. »Wie meinst du das?«
»Ich hab in letzter Zeit viel drüber nachgedacht, und Sie kommen mir so schlau vor. Deshalb hab ich mir überlegt, frag ich Sie mal.«
Während ich zu Sarah zurückging, dachte ich über ihre Frage nach. »Ich glaube, es kommt darauf an, was du mit ›Gott‹ meinst. Ich glaube an die Kraft des Universums, aber vielleicht ist das ja das Gleiche.«
Sarah zog die Nase kraus. »Also glauben Sie nicht, dass Gott so’n alter Kerl mit weißem Rauschebart ist?«
Ich lachte leise. »Hört sich für mich eher wie der Weihnachtsmann an. Und an den glaube ich auf jeden Fall.«
»Ha. Der kreuzt im Waisenhaus nicht oft auf, so viel kann ich Ihnen sagen.«
»Ja, ich weiß.« Ich schaute zu den Sternen hinauf. »Weißt du, Elle war ein Waisenkind wie du. Und ich bin wahrscheinlich auch eine Art Waise.«
Sarah legte die Stirn in Falten. »Wie kann man denn ›eine Art Waise‹ sein?«
Ich lächelte. »Gute Frage. Das ist aber nicht einfach zu erklären.«
»Na, Zeit haben wir doch hier reichlich, oder nicht? Ich werd mir alle Mühe geben, jeden Abend hier raufzukommen. Der blaue Dunst da unten ist fürchterlich. Dann können wir uns hier treffen, und Sie erzählen mir Ihre Geschichte.«
»Meine Geschichte willst du hören? Sie ist wirklich sehr lang. Und auch ziemlich traurig.«
»B isher ist sie vielleicht traurig, Mister. Aber sie ist noch nicht zu Ende, oder?« Ich zögerte, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. Sarah starrte mich erschrocken an. »He, so ein Blick kommt mir bekannt vor. Sie wollen doch wohl nicht hier ins Meer springen, oder?«
»Ich …«
Jetzt wurde Sarah richtiggehend wütend. »Nun seien Sie bloß nicht so selbstsüchtig! Wissen Sie, wer bestimmt jetzt gern hier wär? Meine Mam! Kann sie aber nicht, weil ihr ’ne Bombe auf den Kopf gefallen ist. Und so ist es auch mit den Eltern von den ganzen Kleinen da unter Deck. Die würden alles geben, um wiederzukriegen, was ihnen so grausam weggenommen worden ist. Und da denken Sie drüber nach, sich selbst abzumurksen?«
Ich wich einen Schritt zurück. »Sarah, ich wollte dich nicht aufregen …«
»Aufregen? Nee, mir geht’s gut. Aber wissen Sie, wem es dann nicht mehr gut gehen wird? Den Leuten, die Sie kennen. Wenn diese Elle mitkriegt, dass Sie sich wegen ihr umgebracht haben? Was glauben Sie wohl, was für ein schlechtes Gewissen die dann kriegt?« Sarah starrte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich hatte mir tatsächlich gar nicht überlegt, dass Elle vielleicht von meinem Ableben erfahren könnte. »Und außerdem, wenn Elle sie geliebt hat, und so hört sich’s ja an, will sie doch ganz bestimmt nicht, dass Sie sich umbringen.«
Ich war um eine Antwort verlegen. »Nein … sicher nicht«, räumte ich schließlich ein. »Entschuldige, wenn ich dich aufgeregt habe. Vor allem, weil ich selbst meine Eltern als Kind verloren habe.«
Das besänftigte Sarah jedoch keineswegs, sondern erboste sie noch mehr. »Na, das ist doch erst recht der Gipfel! Glauben Sie vielleicht, die wollen heut Abend zuschauen, wie ihr Sohn sich ins Meer stürzt?« Sie deutete zum Himmel. »Doch wohl kaum, verflixt noch mal.«
Der Zorn des jungen Mädchens brachte mich zur Vernunft. »Du hast recht, Sarah«, sagte ich, plötzlich sehr beschämt.
Sarah trat auf mich zu und sagte jetzt sanfter: »Sie dürfen nie vergessen, dass das Leben ein Geschenk ist, Mister. Auch wenn es mal nicht schön ist.«
Tränen traten mir in die Augen, und ich nickte. »Das hat Elle auch einmal gesagt.«
Sarah zuckte mit den Achseln. »Recht hat sie.« Das Mädchen stupste mich in die Brust. »Und außerdem können Sie sich in Australien ’ne nette neue Freundin suchen, die Sie nicht allein auf einem Schiff hocken lässt. Okay?«
Trotz meiner Tränen brachte mich das zum Lachen. »In Ordnung, Sarah. Ich habe verstanden.«
»Und ich will unbedingt Ihre Geschichte hören, gleich morgen Abend. Sie lassen mich doch hoffentlich nicht hängen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, mache ich nicht, Sarah.«
Ich wünschte ihr eine gute Nacht und kehrte in meine Kabine zu meinem Tagebuch zurück. Mein Versprechen Sarah gegenüber werde ich halten. Es ist ihr gelungen, mich aus meinen düstersten Gefühlen herauszuholen. Trotz ihres schwierigen Lebens bemüht sich dieses Mädchen nicht nur, überall das Gute zu erkennen, sondern hat auch noch die Kraft, sich um andere zu kümmern.
In dieser Hinsicht erinnert Sarah mich ein wenig an Elle.