XLI

Heute wäre ich beinahe gestorben.

Als ich morgens in der Blechhütte, in der ich mein Büro eingerichtet habe, Exportpapiere vorbereitete, kam mein Vorarbeiter Michael in heller Panik hereingestürzt.

»Sir! Eine Mine ist eingebrochen! Drei Männer verschüttet, in Schacht sieben! Die anderen sind auch noch unten!«

Ich sprang auf. »Sind sie am Leben?«

»Nicht mehr lange, Sir. Ich fürchte, der Rest wird auch noch einstürzen.«

Ich lief zur Tür. »Kommen Sie mit so vielen Leuten wie möglich zu Schacht sieben.«

»Ja, Sir!« Michael rannte an mir vorbei nach draußen, aber dann kam mir ein grauenerregender Gedanke, und ich rief den Vorarbeiter zurück.

»Sie sagen, der Rest wird auch einbrechen?«

»Das Gebälk knirscht und ächzt schrecklich, Sir. Ich fürchte, das Holz ist verrottet.«

Ich holte tief Luft. »Holen Sie niemanden, Michael. Ich werde nicht unnötig das Leben anderer Menschen riskieren. Ich steige selbst hinunter.«

»Bei allem Respekt, Sir, aber allein können Sie nichts ausrichten. Die Arbeiter sind unter einem Haufen Erde und Holzbalken verschüttet.«

Meine Gedanken rasten. »Gut, dann versuchen Sie, Freiwillige zu finden. Keine Befehle, erklären Sie ihnen die Situation.«

»Sir.« Michael hastete davon, und ich rannte zum Einstieg von Schacht sieben. Aus der Tiefe waren das dumpfe Knirschen und Ächzen zu vernehmen, wie Michael es geschildert hatte. Ohne zu zögern, kletterte ich an den in die Felsen geschlagenen Eisensprossen hinunter in den Schacht. In der Grube hagelte es Geröll, und in den dichten Staubwolken konnte ich nur schwach den Schimmer von Petroleumlampen erkennen. Ich folgte dem Lichtschein und tastete mich mit ausgestreckten Händen vorwärts. Kurz darauf stieß ich auf einen der Arbeiter.

»Wer sind Sie?«, rief er aus.

»Atlas Tanit! Und Sie?«

»Ernie Price, Sir!«

»Wo sind die Männer verschüttet?«

»Hier drüben, Sir.« Er packte mich an der Schulter und führte mich ein Stück weiter zu einem Geröllhaufen, den fünf Männer fieberhaft mit Schaufeln bearbeiteten. »Als dieses schreckliche Bersten zu hören war, hab ich alle zurückgerufen, aber drei waren nicht schnell genug.«

Erneut war das dumpfe Dröhnen zu hören, und ich schrie: »Der Rest wird auch einstürzen, gehen Sie! Retten Sie sich und die anderen Männer hier!«

»Aber das ist meine Mine, Sir, wir müssen versuchen, die anderen rauszuholen!«

Jetzt vernahm ich erstickte Laute aus dem Geröllhaufen. »Gut, bleiben Sie, wenn Sie wollen. Aber denken Sie an Ihre Familie.«

»Ihr da!«, rief Ernie den anderen zu. »Schnell raus, los, sofort!« Als sie zögerten, schrie er: »Das ist ein Befehl! Los, raus mit euch!« Die Arbeiter ließen das Werkzeug fallen und machten sich an den Aufstieg. Ernie reichte mir eine Schaufel. »Machen Sie weiter, Sir. Mehr können wir nicht tun.«

Während wir wie besessen den Schutthaufen attackierten, nahmen das Dröhnen und Knirschen beständig zu. »Hier sind Balken!«, schrie ich, als meine Schaufel auf Holz stieß. »Die sind ganz unten, wir müssen von oben graben!«

Ernie nickte, und zu meiner maßlosen Erleichterung wurden die halberstickten Schreie lauter, je mehr Erde und Geröll wir beiseite schaufelten.

»Weiter!«, brüllte ich. »Durchhalten! Wir kommen näher!« Es fühlte sich an wie Stunden, aber es konnten höchstens zwei Minuten vergangen sein, als ich plötzlich eine Bewegung in dem Haufen wahrnahm. »Da, eine Hand! Ziehen Sie, Ernie!«

Er folgte meiner Anweisung, während ich weitergrub. Kurz darauf kam ein Gesicht zum Vorschein. Der Mann hustete und rang nach Atem, und Ernie gelang es, ihn herauszuziehen und zu stützen.

»Kannst du gehen, Ron?«, fragte Ernie. Ron schüttelte den Kopf, aber in diesem Moment tauchte Michael mit drei Freiwilligen auf.

»Bringt ihn raus!«, rief ich. »Zwei Männer sind noch da drin!« Ich lauschte angestrengt. Wieder hörte ich verzweifelte Laute. »Hier!«

Die anderen halfen beim Graben, und bald kam ein Bein zum Vorschein. Diesmal gelang es uns schneller, den Mann zu befreien, aber er war in noch schlechterer Verfassung als Ron und verlor immer wieder das Bewusstsein. Jetzt wurden das Bersten und Knirschen noch lauter, und der Boden unter unseren Füßen bebte.

Ich ahnte, was uns drohte, und sagte zu den Männern: »Ihn hier herauszubringen wird schwierig, da müsst ihr alle mit anpacken. Beeilt euch, ich suche hier weiter nach dem letzten Mann.« Ernie griff wieder nach seiner Schaufel, aber ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ernie. Danke. Aber die anderen brauchen Sie. Ich finde den letzten Mann. Wie heißt er?«

»Jimmy, Sir. Er ist erst neunzehn!«

»Verstehe. Und jetzt gehen Sie.«

Ernie eilte davon. Ich horchte erneut an dem Schuttberg, hörte aber keine Laute mehr. Hastig begann ich wieder zu graben. Ich blickte meinem Schicksal jetzt ins Auge. Der Rest der Mine würde einstürzen und Jimmy und mich unter sich begraben. Um nicht aufzugeben, schrie ich dennoch: »Jimmy! Wir schaffen das! Hören Sie mich, Jimmy? Wir werden hier rauskommen!« Zu meinem Erstaunen hörte ich plötzlich ein mattes Stöhnen. »Jimmy?! Jimmy, sind Sie am Leben?«

Der Laut war erneut zu vernehmen, und als ich an dieser Stelle weitergrub, stieß ich tatsächlich binnen Kurzem auf einen halb bewusstlosen Mann. Sein Oberkörper schien unversehrt zu sein, aber seine Beine waren unter einem schweren Holzbalken eingeklemmt.

»Jimmy! Halten Sie durch!«, rief ich und zog mit aller Kraft an ihm. Als er vor Schmerz aufschrie, war mir klar, dass ich so nicht vorgehen konnte. Immerhin war Jimmy von dem schweren Balken nicht erschlagen worden, aber er ließ sich keinen Zentimeter bewegen, sosehr ich mich auch abmühte.

Ich begann das Holz abzutasten in der Hoffnung, irgendwo auf Risse zu stoßen. Wenn es mir gelingen würde, den Balken zu spalten, würde ich Jimmy vielleicht darunter hervorziehen können. Nach ein paar Sekunden spürte ich tatsächlich eine gebrochene Stelle im Holz. Mit neuer Kraft ergriff ich eine herumliegende Spitzhacke und setzte an der Bruchstelle an. Inzwischen bebte jedoch der Boden unter meinen Füßen so heftig, dass ich Mühe hatte, richtig zu treffen.

»Verflucht!«, schrie ich. Es wäre eine große Hilfe gewesen, einen Gegenstand zur Hand zu haben, mit dem ich die entstandene Lücke hätte vergrößern können. Während ich mich bückte und am Boden nach geeigneten Felsbrocken tastete, fiel mir auf einmal der Edelstein ein, den ich um den Hals trug.

»Der Diamant«, flüsterte ich. Rasch zog ich den Lederbeutel über den Kopf, nahm das kostbare Juwel heraus und klemmte es in die entstandene Spalte. Dann trat ich mit der Spitzhacke in Händen einen Schritt zurück und hieb mit voller Wucht darauf ein. Als ich auf den Diamanten traf und ihn weiter ins Holz hineintrieb, barst der Balken entzwei. Ich ließ die Spitzhacke fallen, packte die untere Hälfte und zerrte sie beiseite. Dann ergriff ich erneut Jimmys Hände und befreite ihn.

Anschließend zog ich ihn an den Armen zum Ausstiegsschaft. »Hilfe!«, schrie ich dort. »Ich brauche hier Hilfe!« Allerdings machte ich mir wenig Hoffnung, dass man mich bei dem schrecklichen Grollen und Rumpeln in der Mine oben hören konnte. Mit letzter Kraft lud ich mir Jimmy, der ohnmächtig geworden war, auf die Schultern. Dann begann ich den Aufstieg über die Eisensprossen, um dieser Hölle zu entkommen. Es war ungeheuer mühselig, aber ich hielt durch, nun war ich schon so weit gekommen. Nach einigen Metern hörte ich Stimmen über mir.

»He, da kommt jemand hoch!«

»Das kann doch gar nicht sein, das bildest du dir ein!«

»Schau doch selbst!«

»Oh, verdammt! Los, wir müssen ihm helfen! Wir kommen, Sir, halten Sie durch!«

Ich kämpfte mich weiter voran, der Rettung entgegen, bis ich spürte, wie mir die Last von den Schultern genommen wurde.

»Wir haben ihn! Zieh, Michael!«, hörte ich Ernie schreien.

In dem Moment, als Jimmy von meinen Schultern gehoben wurde, verlor ich das Gleichgewicht, und meine Füße glitten von den Eisensprossen. Während die Männer Jimmy nach oben zogen, klammerte ich mich verzweifelt an eine Sprosse und versuchte wieder Halt zu finden. Im selben Moment war von unten ein furchtbares Dröhnen zu hören, und Geröll rieselte mir ins Gesicht.

»Die Mine stürzt ein!«, schrie Ernie. »Schnell, packt ihn und zieht ihn hoch!«

Als ich nach unten schaute, sah ich einen Hagel aus Felsbrocken und Geröll, der in einen dunklen Schlund taumelte. Das Krachen war ohrenbetäubend, und als ich nach oben blickte, sah ich als Letztes Ernies Hände, die nach mir griffen. Ich streckte meine Hand nach ihnen aus, doch in diesem Moment brach die Wand ein, an der ich hing, und ich spürte, wie ich in die Tiefe stürzte, bevor die Welt vor meinen Augen verschwand.

***

Als ich zu meinem Erstaunen wieder erwachte, musste ich heftig blinzeln, bevor ich etwas erkennen konnte. Ich befand mich in einer der oberirdischen Bretterhütten, gebettet auf einen Haufen Arbeitskleidung.

»Er ist wach!«, rief Ernie aus. »Mr Tanit, Sie sind am Leben!«

Jetzt spürte ich einen Schmerz, der so stechend war, dass ich kaum atmen konnte. »Meine Brust«, brachte ich mühsam hervor.

»Ihre Rippen, Sir. Sind vermutlich gebrochen. Was ist mit Ihren Beinen?«, fragte Ernie. »Können Sie die Zehen bewegen?«

Das gelang mir zum Glück. »Die Männer aus Schacht sieben …«, ächzte ich.

»Denen geht’s so weit gut, Sir. Sind ziemlich mit den Nerven runter, und es gibt einige Knochenbrüche, aber das ist alles. Dank Ihnen, Sir.«

Ich betastete meinen dröhnenden Kopf. »Die Mine ist über mir eingestürzt.«

»Ja, Sir, als sie nur noch drei Meter vom Mundloch entfernt waren. Doch zum Glück sind Sie nicht weit abgestürzt, und wir konnten Sie schnell ausgraben. Alle verfügbaren Männer haben mitgeholfen.«

»Danke.« Ich versuchte den Arm auszustrecken, um Ernie die Hand zu schütteln, aber ein bohrender Schmerz durchzuckte mich. Ich schrie auf.

»Versuchen Sie sich möglichst wenig zu bewegen, Sir. Wir haben Mr Mackenzie in Adelaide informiert. Er hat uns versichert, dass die besten Ärzte hierher unterwegs sind, um Sie und die Arbeiter zu versorgen. Aber bis dahin … Michael hatte da eine Idee.« Er nickte dem Vorarbeiter zu, der an der Tür stand.

Michael räusperte sich. »Wären Sie bereit, sich von den Ngangkari behandeln zu lassen, Sir?«

»Ngangkari?«

»Das sind Aborigines-Heiler, Sir. Ich habe gehört, dass einer von ihnen in einem nicht weit entfernten Dorf lebt. Es wird noch einige Tage dauern, bis die Ärzte aus Adelaide eintreffen. Aber ein Ngangkari könnte schon heute Nachmittag hier sein.«

Ich nickte mühsam. »Die Schmerzen in der Brust sind schrecklich.«

Michael sah erleichtert aus. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr Tanit. Ich komme später wieder und bringe Hilfe mit. Sie sind ein sehr mutiger Mann.« Damit eilte er hinaus.

»Ist er wach?«, hörte ich eine Stimme von draußen.

»Bin gleich wieder da«, sagte Ernie und ging hinaus, um nachzusehen. Murmeln war zu vernehmen, dann kam er zurück. »Ich weiß, Sie sind gerade erst wieder zu sich gekommen, Sir. Aber da draußen wartet ein Besucher, der sich unbedingt davon überzeugen möchte, dass Sie so weit in Ordnung sind.«

»Wer ist es?«, fragte ich.

»Jimmy, Sir. Er möchte Ihnen danken.«

»Bitte lassen Sie ihn herein.«

Nachdem Ernie hinausgegangen war, kam ein junger Mann herein, der fast noch ein Junge war. Er hinkte, und als er an mein Lager trat, nahm er seinen Sonnenhut ab und hielt ihn ehrerbietig in den Händen.

»Jimmy«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin am Leben. Und das verdanke ich nur Ihnen, Sir. Die anderen haben mir erzählt, dass Sie ganz allein da unten geblieben sind, um mich auszugraben. Und dass Sie mich dann auf Ihren Schultern hochgeschleppt haben. Ich verdanke Ihnen alles.« Er blickte scheu zu Boden.

»Sie alle arbeiten hier für mich, deshalb bin ich für Ihre Sicherheit verantwortlich. Ich habe nur meine Pflicht getan.« Der junge Mann wirkte etwas verlegen. »Ist alles in Ordnung, Jimmy?«

»Ja, Sir.« Er warf einen Blick zur Tür. »Ich habe hier nur etwas, das ich Ihnen zurückgeben möchte.«

»Was meinen Sie?«, fragte ich. Jimmy griff in seine Tasche und brachte einen vertrauten Gegenstand zum Vorschein. Ich musste wider Willen lachen, woraufhin mich ein stechender Schmerz durchzuckte. »Den wiederzusehen hätte ich nicht erwartet, Jimmy. Wissen Sie, was das ist?« Der Edelstein war immer noch mit Leim und schwarzer Schuhcreme bedeckt.

»Ja, Sir. Früher habe ich in Diamantenminen in Kanada gearbeitet. Ich würde einen Diamanten überall erkennen. Aber so einen«, er schüttelte den Kopf, »habe ich noch nirgendwo gesehen.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Ich versuchte mich auf den Kleiderschichten aufzurichten. »Wie um alles in der Welt haben Sie ihn wiedergefunden? Ich hatte dem da unten schon Lebewohl gesagt.«

»Ich hab gesehen, wie Sie etwas aus dem Beutel genommen haben, den Sie umhängen hatten. Als Sie mit der Hacke auf den Balken eingeschlagen haben, ist mir der Diamant direkt auf die Brust gefallen, Sir. Und ich habe ihn für Sie festgehalten.« Jimmy trat noch einen Schritt näher. »Hier.« Er legte mir den Stein in die Hände.

Ich starrte ein paar Momente darauf. »Ich dachte, das Letzte, was ich damit machen würde, wäre, ein Leben zu retten. Aber da ist er wieder. Zu mir zurückgekehrt.« Ich drehte den Stein in den Händen und blickte dann zu Jimmy auf. »Warum haben Sie ihn nicht behalten? Mit dem Diamanten hätten Sie es sich leisten können, von hier wegzugehen. Sie hätten alles mit Ihrem Leben machen können, wonach Ihnen der Sinn steht. Und dennoch haben Sie sich dafür entschieden, ihn mir zurückzugeben.«

Jimmy schüttelte empört den Kopf. »Daran würd ich nicht mal im Traum denken, Sir. Der Stein gehört mir nicht.«

»Nun, dann danke ich Ihnen, dass Sie ihn mir zurückgebracht haben.«

Der junge Mann warf mir einen scheuen Blick zu. »Ich könnte Ihnen die gleiche Frage stellen, Sir.«

»Wie bitte?«

»Sie haben es doch selbst gesagt. Mit einem Stein wie diesem könnten Sie überall sein. Stattdessen sind Sie hier bei uns, einem wilden Haufen Männer mitten in der Wüste. Heute sind Sie beinahe ums Leben gekommen. Wieso verkaufen Sie den Diamanten nicht und fangen irgendwo ein neues Leben an?«

Ich verstand, dass dem jungen Mann meine Geschichte rätselhaft erscheinen musste. »Sie haben gesagt, der Stein gehört Ihnen nicht, Jimmy. Nun, die gleiche Antwort könnte ich Ihnen auch geben. Vielen Dank, dass Sie ihn mir zurückgebracht haben.« Als sich der junge Mann zum Gehen wandte, rief ich ihm nach. »Jimmy! Mir wäre sehr daran gelegen, dass Sie den anderen nichts davon erzählen.«

»Von was denn, Sir?«, erwiderte Jimmy. Ich nickte, und er humpelte hinaus.

Ich starrte auf den Diamanten. »Sogar als ich dich loswerden wollte, bist du zurückgekehrt. Hast du deinen Zweck nicht erfüllt?« Behutsam steckte ich den Stein wieder in den Lederbeutel zurück. Dann schloss ich die Augen und sank in tiefen Schlaf.

Später wurde ich von Michael geweckt. »Mr Tanit? Einer von den Ngangkari ist hier.« Ich rieb mir die Augen. Neben Michael stand ein hochgewachsener Mann. Er trug einen langen Rock aus getrockneten Gräsern, der Körper war mit bunten Mustern bedeckt. Der Mann blickte auf mich hinunter und hob zur Begrüßung die Hand.

Ich erwiderte den Gruß. »Guten Tag. Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind.«

Er deutete auf sich. »Yarran.«

Ich zeigte auf mich. »Atlas.« Er nickte. »Ich habe einen schlimmen Schmerz in der Brust. Ich glaube, Rippen sind gebrochen. Haben Sie vielleicht eine Arznei gegen die Schmerzen?« Yarran starrte mich wortlos an.

»Ich glaub, er spricht unsere Sprache kaum, Mr Tanit«, warf Michael ein.

Yarran zeigte auf meine Brust. »Ja. Schmerzen«, sagte ich. Yarran nickte und klopfte Michael auf den Rücken. »Ich glaube, er möchte, dass Sie gehen, Michael.«

Der Vorarbeiter sah skeptisch drein. »Ist das wirklich in Ordnung, Sir?«

»Ja, keine Sorge. Danke.« Nachdem Michael hinausgegangen war, legte Yarran mir beide Hände auf die Brust. »Bitte vorsichtig!«, rief ich aus, weil schon die kleinste Berührung unangenehm war. Yarran lächelte mich an.

»Schmerz«, sagte er.

»Ja, große Schmerzen«, bestätigte ich.

Er nickte abermals. Dann atmete er tief ein und legte beide Hände erneut auf meine Körpermitte. Ich wappnete mich gegen den Schmerz, aber die Berührung war leicht, und seine Hände strichen so sanft über meine Rippen, als streichle er behutsam eine Katze.

»Ähm, bitte«, sagte Yarran und deutete auf mein schlammverkrustetes Hemd. Vorsichtig knöpfte ich es auf und schaute auf meinen Brustkorb, der mit schwarzen und blauen Blutergüssen übersät war. »Schmerz«, wiederholte Yarran und legte wieder die Hände auf meine Brust. Er schloss die Augen, und seine Atemzüge wurden ruhiger und tiefer.

»Mmmmmm«, begann er mit tiefer melodiöser Stimme zu summen. Ich blickte zu ihm auf und sah, dass er die Stirn runzelte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Innen Schmerz«, antwortete er.

»Ich weiß. Gebrochene Rippen, denke ich.«

»Nein. Innen. Tief. Schmerz.«

Ein Anflug von Panik erfasste mich. »Tiefer? Glauben Sie, ich habe eine Verletzung am Herzen?« Ich deutete auf meine linke Seite.

»Körper heilt wieder«, sagte Yarran. »Seele ist verletzt.« Er sah mich mit seinen schimmernden dunkelbraunen Augen, die denen von Kilara ähnelten, eindringlich an. »Ahnen«, sprach er weiter und deutete himmelwärts. »Ahnen in Sorge.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich …« Doch bevor ich weitersprechen konnte, begann Yarran mit den Daumen meine Schläfen zu massieren. Seine Hände umfassten meinen Kopf fest, aber ich verspürte keinen Schmerz.

Was dann geschah, ist sehr schwer zu beschreiben, aber ich will mein Bestes versuchen. Yarrans Finger schienen immer kraftvoller Druck auszuüben, bis ich das Gefühl bekam, dass er meinen Schädel durchdrungen hatte und in mein Gehirn vorgestoßen war. Ich betone noch einmal, dass nichts daran schmerzhaft war. Eher fühlte es sich an, als würde mein Inneres zärtlich berührt. Dieses Gefühl erfasste zunächst meinen Kopf, dann den Hals und die Brust. Das Atmen fiel mir plötzlich leichter, als wäre mehr Platz in meiner Lunge als zuvor. Der Raum um mich her erstrahlte in weißem Licht, und ich fühlte mich entspannt und friedlich. Dann hörte ich Yarrans Stimme, die in meinem Kopf umherzutanzen schien.

»Deine Seele hat große Schmerzen«, sagte er mit seiner tiefen wohltönenden Stimme. »Die Ahnen und ich helfen dir bei deiner Heilung.«

»Sie können sich ja perfekt ausdrücken, Yarran!«, rief ich verblüfft aus.

»Wir sind lediglich von der Welt des Physischen begrenzt, Atlas. Ich fürchte, du hast vergessen, dass die Welt nicht nur daraus besteht.«

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»Wo du sein willst«, antwortete er.

Ich überlegte einen Moment. »Ich möchte bei Elle sein. Aber sie ist verschwunden, Yarran. Und ich verstehe immer noch nicht, warum.«

»Sie wird vermisst«, sagte Yarran leise.

»Ja, ich vermisse sie schrecklich in meinem Leben.«

»Sie wird vermisst … überall. Hmm.«

»Was meinen Sie damit?«

»Es gibt eine Linie, die uns mit den Menschen verbindet, die wir lieben, auch wenn sie weit entfernt sind. Obwohl wir diese Linie nicht sehen können, sorgt sie dafür, dass die Verbindung immer erhalten bleibt. Du bist immer noch mit Elle verbunden.«

Mein Herz schlug schneller. »Obwohl sie nicht aufs Schiff kam?«

»Ja. Ich kann nicht sehen, wo die Linie zwischen euch beiden endet. Aber Elle wünscht sich, gefunden zu werden.«

»Wirklich?«, fragte ich überrascht.

»Ja«, sinnierte Yarran. »Du hast viel zu tun. Viel zu tun.«

»Sie meinen, dass ich nach Elle suchen soll?«

Yarran hielt inne, als müsse er sich seine nächsten Worte sorgfältig überlegen. »Die Ahnen glauben, dass du ein Schicksal zu erfüllen hast. Sie werden dich beschützen, Atlas.«

»Ich verstehe nicht recht, Yarran.«

»Schlaf jetzt. Die Ahnen werden über dich wachen.«

Das weiße Licht verwandelte sich langsam in Dunkelheit, und ich sank in einen erholsamen Schlaf. Als ich erwachte, war es finster im Raum. Beim Einatmen stellte ich fest, dass der Schmerz in meiner Brust schon merklich nachgelassen hatte. Meine Rippen waren zweifellos gebrochen, aber ich konnte ungehindert atmen und merkte sogar, dass ich beinahe mühelos aufstehen konnte. Ich knöpfte mein Hemd zu und trat vor die Tür der Hütte, wo ich von der Stille des Outback empfangen wurde. Das weiße Licht des Vollmonds beleuchtete die Landschaft, die mit den vielen Bohrungsstellen an einen fremden, mit Kratern übersäten Planeten erinnerte.

Das helle Piepsen und Quaken der Wüstenfrösche erfüllte die Luft, ab und an war das Heulen eines Dingo zu hören. Plötzlich spürte ich eine Hand auf der Schulter und fuhr herum. Vor mir stand Yarran.

»Yarran! Ich fühle mich viel besser. Danke!«

Der Heiler nickte und reichte mir einen kleinen Strauß, der aus frisch gepflückten Kräutern und Blumen zu bestehen schien. »Trinken«, sagte er dazu.

»Das werde ich tun, danke.« Ich zögerte einen Moment. »Es hat mir gutgetan, mit Ihnen zu sprechen«, sagte ich schließlich. Als er mich ausdruckslos ansah, kam ich mir dumm vor, weil ich meinen Traum auf Yarrans spirituelle Kräfte zurückführte. »Es geht mir jedenfalls besser.«

Yarran drehte sich um und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Komm«, sagte er. Ich folgte ihm, und wir wanderten hinter der Hütte durch die weite vom Mondlicht erhellte Wüste. Nach etwa zehn Minuten blieb Yarran stehen und ließ sich im Schneidersitz auf der staubigen Erde nieder. Ich tat es ihm gleich. Dann deutete der Heiler zum Himmel und sagte: »Ahnen.«

Als ich nach oben schaute, stockte mir der Atem. Hier leuchteten die Sterne so hell, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Orion, Stier, Perseus, die Plejaden … es war ein glitzerndes und funkelndes Wunder am endlosen schwarzen Firmament.

»Yarran … die Sterne … so habe ich sie noch nie erlebt …«

»Sind immer da«, erwiderte der Heiler. »Aber du siehst nicht. Seele verletzt. Wird heilen.«

Angesichts dieser kosmischen Pracht empfand ich Demut und eine große innere Ruhe. Und ich konnte spüren, dass es auch in der Dunkelheit Leben und in der Kälte Wärme gab. Ich betrachtete die Sieben Schwestern.

»Seid gegrüßt, meine Beschützerinnen.«

Ich würdigte ihre Pracht und Schönheit und bat sie stumm um Verzeihung dafür, dass ich nicht mehr daran gedacht hatte, was sie schon mein ganzes Leben lang für mich getan hatten. Sie hatten mir auf meiner gefahrvollen Reise als Junge den Weg gewiesen. Ihnen hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht tot im Schnee Sibiriens verendet war. Ich glaubte auch, dass die Sieben Schwestern mir Elle gesandt hatten, ebenso wie Monsieur Landowski, Laurent Brouilly, Pip, Karine und Archie Vaughan. Und natürlich auch Kitty Mercer und ihren Bruder Ralph.

»Gut«, sagte Yarran und erhob sich. »Nach Hause.« Und damit ging er ohne weitere Worte des Abschieds in die Wüste hinein.

»Aber, Yarran, die Minensiedlung ist doch in dieser Richtung«, rief ich ihm nach. »Bitte bleiben Sie heute Abend dort. Wir bringen Sie morgen auf einem Pferd in Ihr Dorf zurück!«

Yarran drehte sich um. »Nein, du nach Hause.« Er zeigte zum Himmel und ging weiter.

»Was meinen Sie damit, dass ich nach Hause gehen soll? Nach Coober Pedy? Oder in die Schweiz? Yarran!«, rief ich.

Er blieb erneut stehen und drehte sich um, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. »Viel zu tun.«

Diese drei Worte hatte er auch in meinem Traum gesagt. »Ich wusste es … Meinen Sie, dass ich nach Elle suchen soll, Yarran?« Doch diesmal ging der Heiler unbeirrt weiter und drehte sich nicht noch einmal um. »Bitte bleiben Sie stehen!«, rief ich. »Sie können doch nicht einfach so im Outback verschwinden! Das ist zu gefährlich!«

Doch Yarran lachte nur und wanderte mit ruhigen festen Schritten in die Nacht hinein.

Da ich wusste, dass ich nichts mehr ausrichten konnte, kehrte ich zu meiner unterirdischen Behausung zurück.

Nach dieser Begegnung mit einem Ngangkari fühle ich mich belebt … Ich würde sogar zu behaupten wagen, dass ich neue Hoffnung geschöpft habe. Luft strömt durch meine Lunge, ich bin lebendig, was leider für viele Menschen nicht mehr gilt, die mir nahestanden. Mein Vater, Pip, Karine, Archie … Ihnen bin ich es schuldig, mich aufzuraffen und mein Leben zu leben.

Und ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.

Ich muss Elle finden.

Und sie zurückgewinnen.

Um jeden Preis.