XLIV

1965 

Ich bin sehr stolz auf Atlantis. Während ich an der Anlegestelle sitze und das Haus im Licht der goldenen Abendsonne betrachte, kann ich nicht umhin, mein Werk zu bewundern. Eric Kohler hat mir an die fünfzehn Architekten vorgestellt, bevor ich mich für einen entschied, dem ich dieses große Unterfangen anvertrauen wollte. An Interesse mangelte es nicht – ein Anwesen auf einem entlegenen Stück Land am Genfer See zu entwerfen war für viele ein verlockendes Projekt. Doch wenn ich auch einige fantastische Vorschläge erhalten hatte, war mir doch vor allem an einem ganz besonders gelegen: Ich musste uneingeschränktes Vertrauen in den Architekten meiner Wahl haben können.

Sicherheit und Abgeschiedenheit standen an allererster Stelle. Ich hatte eine exakte Vision davon, wie das Anwesen aussehen sollte, und erwartete, dass es genau nach meinen Vorstellungen gestaltet wurde. Vor allem wollte ich, dass es aussah, als stünde es schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle. Ich war mir darüber im Klaren, dass man natürlich über diesen exzentrischen Mann sprechen würde, der am See ein gigantisches Anwesen errichten ließ, und wollte unter keinen Umständen, dass es aussah wie die Villa eines James-Bond-Schurken. Deshalb ließ ich das Haus im Louis-quinze-Stil erbauen. Ich sollte wohl nicht unerwähnt lassen, dass jeder, der sich beim Grundbuchamt nach der Geschichte dieses Hauses erkundigt, erfahren wird, dass es aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt. Es ist immer wieder erstaunlich, wozu Menschen bereit sind, wenn man ihnen eine große Geldsumme bietet.

Das Grundbuchamt würde Neugierige auch darüber informieren, dass Atlantis einer Firma namens Icarus Holdings gehört – einer Strohfirma, die unter den Namen zweier Eigentümer geführt wird: Eric Kohler und Georg Hoffman. Innerhalb der letzten fünfzehn Jahre hat Georg sich zu einem exzellenten Juristen entwickelt. Ich hatte mein Versprechen gehalten und sein Studium finanziert. Nach dem Examen wurde er sofort von Mr Kohler, der den jungen Mann zweifellos als seinen Protegé betrachtete, in die Kanzlei aufgenommen. Mr Kohler ist nun seit fünf Jahren im Ruhestand, und seither betreut Georg meine Angelegenheiten.

Sollte Kreeg jemals auf die Idee kommen, in der Schweiz herumzuschnüffeln, werde ich ihn durch meine Vorkehrungen hoffentlich von meiner Fährte abbringen können.

Ein unkundiger Betrachter könnte auf den ersten Blick nicht erkennen, dass Atlantis neu erbaut wurde. Ich sorgte mit großem Aufwand dafür, dass nur historische Materialien zum Einsatz kamen, bis hin zu Türknäufen und Fliesen. Deshalb vermittelt das Anwesen den Eindruck von Eleganz und Größe. Es hat drei Stockwerke, deren massige roséfarbene Mauern von hohen Fenstern durchbrochen und von einem steilen roten Dach mit Türmen an jeder Ecke gekrönt sind.

Im Innern ist es mit allem modernen Luxus ausgestattet. Meine Lieblingsetage ist die oberste, wo ich sieben Schlafzimmer in Auftrag gegeben hatte. Von jedem hat man eine prachtvolle Aussicht über die Baumwipfel hinweg auf den Genfer See. Ich hatte gehofft, darum gebetet und in meiner Naivität fest damit gerechnet, dass diese Räume inzwischen von den Töchtern bewohnt sein würden, die Angelina mir vor all den Jahren verhießen hatte. Doch noch immer stehen die Zimmer leer.

Unkundige würden niemals erkennen können, wie viele Geheimnisse Atlantis birgt. Das verdeutlicht gewiss auch, warum die Vertrauenswürdigkeit des Architekten mir ganz besonders am Herzen lag. Für den Fall, dass irgendjemand in Atlantis durch einen unwillkommenen Besucher namens Kreeg Eszu in Gefahr sein sollte, habe ich dafür gesorgt, dass es eine Vielzahl an Fluchtmöglichkeiten gibt. Aus naheliegenden Gründen werde ich diese hier nicht detailliert beschreiben. Es gibt jedoch ein gesamtes Netzwerk aus verborgenen Aufzügen und Tunneln, die eine schnelle unbemerkte Flucht ermöglichen würden, sollte das vonnöten sein.

Ferner war mir sehr daran gelegen, einen Garten erschaffen zu lassen, auf den auch Flora Vaughan stolz gewesen wäre. Weite Rasenflächen führen vom Haus hinunter zum See, und ich habe unzählige Bäume und Sträucher pflanzen lassen, deren Wachstum im Lauf der Jahre für verborgene Pfade und geheime Schlupfwinkel gesorgt hat. Im Frühling, wenn alles erblüht, kann ich mir keinen schöneren Ort auf Erden vorstellen.

Ich wünschte nur, ich könnte all diese Pracht mit jemandem teilen.

Als ich Granada 1951 verließ, gelobte ich mir, dass die nächsten Seiten in diesem Tagebuch von meiner glücklichen Wiedervereinigung mit Elle und unserer Tochter handeln würden. Dieses Versprechen habe ich bislang nicht halten können.

Nach meiner Begegnung mit Angelina reiste ich zurück nach Genf, um mit der Verwirklichung von Atlantis zu beginnen. Als die Bauarbeiten dann in vollem Gange waren, setzte ich meine Suche nach der Frau, die ich liebe, und meiner Tochter auf der ganzen Welt fort.

Das ist jetzt vierzehn Jahre her. Meine Tochter wird bald erwachsen sein, wo immer sie auch lebt.

Damals ging ich methodisch vor und reiste zunächst in Städte und Dörfer in Frankreich, die Elle während unserer gemeinsamen Jahre erwähnt hatte. In Reims kam ich mit einer Kellnerin ins Gespräch, die mir von einer Frau mit einem Baby berichtete, die nach Süditalien unterwegs war, um dort ein neues Leben zu beginnen. Deshalb fuhr ich als Nächstes dorthin und folgte dann weiteren vagen Hinweisen, die mich nach Portugal, Deutschland, Belgien und erneut nach Spanien führten.

Zusätzlich hatte ich Mr Kohler angewiesen, weltweit nach den Namen »Leopine«, »Elle«, »Tanit« und »d’Aplièse« sowie Variationen dieser Namen Ausschau zu halten. Als Mr Kohler in den Ruhestand ging, übernahm Georg Hoffman diese Aufgabe. Ich kann den jungen Mann gar nicht genug wertschätzen. Er erledigt diese gewiss mühselige Aufgabe mit großem Eifer. Jedes Mal, wenn er eine Spur entdeckt, steige ich in ein Flugzeug und suche diesen Ort auf, auch wenn es mit großen Mühen verbunden ist. Dann befrage ich hartnäckig Einheimische, bis ich ganz sicher bin, dass die Spur ins Leere führt. Auf meiner unermüdlichen Suche habe ich Teile der Welt bereist, die ich andernfalls sicher nie zu Gesicht bekommen hätte: Kenia, Südafrika, Indien, China …

Liebe Leserin, lieber Leser, ich habe die Suche niemals aufgegeben. Noch die entlegensten Winkel der Welt habe ich aufgesucht in der Überzeugung, dass ich eines Tages, wenn ich um eine Straßenecke biege oder einen Strand entlangspaziere, Elles bezauberndes Gesicht wieder erblicken würde. Doch meine Bemühungen waren vergebens.

Zweifellos fragen Sie sich, weshalb ich dennoch zu meinem Tagebuch zurückgekehrt bin. Heute Morgen erhielt ich über Georg einen Brief von einem alten Bekannten, den ich hier wiedergeben will:

Lieber Bo,

ich hoffe, dass dieses Schreiben Dich über die Kanzlei erreicht. Monsieur Landowski hat mir vor seinem Tod nicht nur seinen Meißel vermacht, sondern auch Deine Anschrift übermittelt. ›F ür den Fall, dass Ihr beide Euch braucht‹, hatte er geschrieben, feinfühlig, wie er war. Meinst Du, es wäre möglich, dass Du mich in Paris besuchen kommst? Aus der Adresse Deines Anwalts schließe ich, dass Du inzwischen in Genf lebst, von wo aus die Reise nicht allzu mühsam sein sollte. Ich würde auch anbieten, zu Dir zu kommen, aber meine alten Knochen erlauben solche Eskapaden nicht mehr.

Ein letztes Wiedersehen mit Dir würde mich freuen, Bo.

Dein Freund

Laurent Brouilly

Ich starrte auf das Blatt. Mr Kohlers Kontaktdaten hatte ich allen wichtigen Menschen aus meiner Vergangenheit zukommen lassen, von Monsieur Landowski bis zu Ralph Mackenzie, für den Fall, dass Elle unversehens vor deren Tür stehen würde. Und so gehörte es zu den kleinen Freuden meines Daseins, gelegentlich von den Menschen zu hören, die mir in all den Jahren so viel bedeutet hatten.

Monsieur Landowski ist 1961 gestorben. Ich werde mich bis ans Ende meiner Tage dafür schämen, nicht bei seiner Bestattung gewesen zu sein, aber ich fürchtete, dieses Ereignis könnte Kreeg einen idealen Anlass bieten, mir aufzulauern. Seit ich wusste, dass ich eine Tochter hatte, war ich eisern entschlossen, am Leben zu bleiben, und verhielt mich deshalb so überaus vorsichtig wie früher. Als ich durch Marcel von Monsieur Landowskis Tod erfuhr, hatte ich deshalb drei Tage lang allein geweint und die Sterne darum gebeten, in seinem neuen Leben gut für ihn zu sorgen.

Laurent Brouilly hatte ich nicht mehr wiedergesehen seit jenem schicksalhaften Tag in Paris, als Elle und ich zur Flucht gezwungen gewesen waren.

***

In einer stillen Kopfsteinpflastergasse in Montparnasse fand ich die von Laurent angegebene Adresse und klopfte an die Tür seines malerischen Hauses. Kurz darauf hörte ich, wie sie entriegelt wurde, dann stand eine junge Frau in blauer Schwesterntracht vor mir und sah mich fragend an.

»Hallo, Madame. Bin ich hier richtig bei Laurent Brouilly?«

Sie lächelte mich an. »Ja, das ist Professor Brouillys Haus. Erwartet er Sie?«

Ich überlegte kurz. »Offen gestanden bin ich mir nicht ganz sicher. Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass sein alter Freund Bo hier ist?«

»Natürlich.« Nachdem sie den Riegel wieder vorgelegt hatte, verschwand sie, kehrte aber kurz darauf wieder zurück. »Er war ganz begeistert, als ich Ihren Namen nannte, Monsieur Bo. Bitte kommen Sie herein.« Ich betrat Laurents Häuschen, das mich sehr an seine frühere enge Wohnung erinnerte. Im Flur herrschte ein munteres Durcheinander aus Leinwänden, Abdecktüchern und unvollendeten Skulpturen … eine wahrhafte Künstlerbude.

»Er ist gebrechlich, Monsieur Bo, was immer er Ihnen auch erzählen wird. Gehen Sie schonend mit ihm um.« Ich nickte. »Bitte hier entlang.« Die Pflegerin öffnete die Tür zu einem Wohnraum voller Grünpflanzen. Zwischen Blättern und Ranken saß ein sehr abgemagerter und stark gealterter Laurent Brouilly auf einem breiten Samtsofa. Er sah so schwächlich aus, als könnte ihn ein Windstoß umpusten.

»Ich hab es vergessen«, sagte er. »Sprichst du jetzt eigentlich?« Ich öffnete den Mund, unsicher, was ich sagen sollte, als Laurent rief: »War ein Scherz!«, und schelmisch kicherte.

Erleichterung erfasste mich. »Hallo, Laurent.« Ich durchquerte das Zimmer und schüttelte ihm die Hand, die sich so leicht wie eine Feder anfühlte.

»Leider kann ich nicht mehr so fest zupacken wie früher«, sagte er. »Mit Bildhauerarbeiten war schon vor ein paar Jahren Schluss. Aber ich male. Bitte setz dich doch.« Er wies auf den leeren Platz neben sich auf dem Sofa. »Spielst du noch Geige? Oder Cello?«

»Manchmal. Aber spätestens nach einer Viertelstunde beginnt mein Arm zu schmerzen, wegen einer alten Verletzung.«

»Ach ja, das hatte Landowski erwähnt.« Laurent betrachtete mich eingehend, und ich bemerkte erfreut, dass seine Augen nichts an Ausdruckskraft verloren hatten, wenn auch sein Haar grau und sein Körper schwach war. »Danke, Hélène«, sagte er zu der jungen Frau, die an der Tür stehen geblieben war.

»Rufen Sie mich einfach, wenn Sie etwas brauchen, Professor Brouilly.« Sie ging hinaus.

Ich sah Laurent mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Professor, wie?«

»Ja, ich bin aufgestiegen und war dann zuletzt Leiter des Fachbereichs Skulptur an der École des Beaux-Arts, kannst du dir das vorstellen?«

»Aber ja, Monsieur Landowski hat es mir bei unserer letzten Begegnung erzählt.« Ich zögerte einen Moment, bevor ich die schwierige Frage stellte. »In deinem Brief hast du geschrieben, dass du dich über ein ›letztes Wiedersehen‹ freuen würdest. Was um alles in der Welt soll das bedeuten? Wie alt bist du denn? Doch wohl kaum älter als sechzig, oder?«

»Zweiundsechzig, Bo. Aber du bist ja nicht blind. Du siehst doch, dass ich krank bin. Die elenden Ärzte haben mir gesagt, dass ich nicht wieder gesund werde. Sie können nicht einschätzen, wie lange ich noch lebe, aber mehr als ein paar Monate werden es wohl nicht sein.«

»Das tut mir sehr leid zu hören, Laurent.«

Er zuckte mit den Achseln. »Der Krebs ist trotzdem leichter zu ertragen als der Verlust von Bel vor all den Jahren.«

Ich legte ihm die Hand aufs Knie, und es schmerzte mich, wie knochig es sich anfühlte. »Denkst du immer noch an sie?«

»Jede Minute des Tages«, antwortete er wehmütig. »Aber …« Ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Trotz allem hatte ich ein begnadetes Leben. Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, die du vielleicht kaum glauben kannst …« Er schloss die Augen. »Vor vielen Jahren hatte ich gerade ein Seminar zu Donatello gehalten. Als ich meine Bücher einpackte, kam eine Studentin zu mir. Bo, sobald ich in ihr Gesicht blickte, wusste ich … es war, als wäre ich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Sie stellte sich als Beatriz Aires Cabral vor.« Laurent schüttelte den Kopf.

»Aires Cabral?«, wiederholte ich. »War das nicht Bels Nachname?«

Laurent öffnete die Augen und sah mich an. »Ganz genau.«

»Das gibt’s doch nicht«, sagte ich verblüfft.

»Sie sagte, ob ich mich daran erinnern könnte, dass ich für ihren Vater Gustavo eine Skulptur ihrer Mutter angefertigt und sie zur Hochzeit der beiden nach Brasilien geschickt hatte.« Er lachte leise. »Sie wusste es natürlich nicht. Aber vor mir stand meine eigene Tochter.«

Wir waren beide so ergriffen, dass wir eine Zeit lang in Schweigen versanken. Dann sagte ich: »Mir fehlen die Worte …«

»Das kann ich verstehen«, erwiderte Laurent. »Jedenfalls erzählte mir Beatriz, dass sie erst eineinhalb Jahre alt war, als ihre Mutter starb. Es gab eine Gelbfieberepidemie in Rio, und …« Seine Stimme brach, und seine Augen verschleierten sich. »Sie war erst einundzwanzig. Nach so viel Unglück im Leben so früh zu sterben … Entschuldige.« Eine Träne rollte über seine bleiche Wange. »Ich fragte Beatriz nach ihrem ›Vater‹. Sie sagte mir, ihr Verhältnis sei schwierig, und Gustavo sei über die Jahre immer mehr dem Alkohol verfallen. Er verbot ihr, ihrer künstlerischen Leidenschaft nachzugehen, starb aber, als sie siebzehn war. Nach seinem Tod schrieb sie sich an der École des Beaux-Arts ein, wie zuvor ihre Mutter. Davon hatte Beatriz gewusst.«

»Und sie kam in deine Klasse«, flüsterte ich. Laurent und ich sahen uns einen Moment lang an und begannen dann beide zu lächeln.

»Das Universum hält magische Wege für uns bereit, nicht wahr, Bo?«, fuhr Laurent dann fort. »Jedenfalls blieb Beatriz fünf Jahre in Paris, und ich nahm sie natürlich unter meine Fittiche. Sie hat mich oft hier in meinem Haus besucht. Wir gingen sogar einmal die Woche zusammen zum Mittagessen ins La Closerie des Lilas, wo ich oft mit ihrer Mutter gewesen war.« Wieder lachte Laurent leise. »Was für eine Freude! Und weißt du, ich war auch mit ihr in Landowskis Atelier. Er hat ihr stolz die Fotos von unserer Arbeit am Cristo gezeigt und Geschichten aus meiner Jugend erzählt.«

Eine Frage lag mir auf der Zunge. »Hast du … Beatriz jemals gesagt, wer ihr leiblicher Vater ist?«

Laurent schüttelte den Kopf. »Mit welchem Recht hätte ich ihr offenbaren sollen, dass Gustavo nicht ihr wirklicher Vater war? Nein, das kam für mich nicht infrage.«

Ich lehnte mich zurück und blickte zur Decke auf. Es fiel mir schwer, meine Gefühle im Griff zu behalten. Der Anblick des todgeweihten Laurent und die Geschichte seiner Tochter berührten mich zutiefst. Nach solchen Fügungen konnte wohl niemand mehr an den schicksalhaften Mächten des Universums zweifeln. Als ich die Fassung wiedergewonnen hatte, fragte ich: »Stehst du noch in Verbindung mit Beatriz?«

»Wir schreiben uns jeden Monat, und ich weiß alles über ihr Leben. Sie hat einen ehrenwerten Mann, der gut zu ihr ist und sie aufrichtig liebt.« Laurent seufzte. »Tragischerweise ist ihr erstes Kind gestorben. Aber sie hat ein weiteres bekommen, eine Tochter.«

»Wie heißt sie?«, erkundigte ich mich.

»Cristina«, sagte Laurent leise. Er wirkte plötzlich bedrückt. »Aber Beatriz schrieb mir, dass sie ein schwieriges Kind ist. Sie ist jetzt sieben und sehr ablehnend gegenüber ihrer Mutter.« Laurent schaute aus dem Fenster, in Gedanken verloren. »Cristina ist wohl außergewöhnlich intelligent, aber es fehlt ihr an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl gegenüber ihren Mitmenschen. Der Umgang mit ihr ist ein großes Problem.«

»Wie schlimm für Beatriz«, bemerkte ich. »Vor allem, weil sie ohnehin schon so viel durchgemacht hat.«

»Ja.« Laurent wandte sich mir langsam zu. »Und das bringt mich auch zu dem Grund, warum ich dich um einen Besuch gebeten habe.«

»Sprich weiter«, ermutigte ich ihn.

Als Laurent tief Luft holte, hörte ich das Rasseln in seiner Lunge. »Ich möchte meiner Tochter so viel Unterstützung wie möglich zukommen lassen, werde aber nicht mehr lange auf dieser Welt weilen, Bo. Mein Geld werde ich ihr hinterlassen, was nicht allzu viel ist. Was ich mir wünschen würde, ist …« Seine Stimme brach erneut, und ich legte meine Hand auf die seine. »Es wäre mir ein Trost, wenn du von Zeit zu Zeit nach der Familie schauen würdest. Es gibt niemanden außer dir, den ich fragen könnte, ohne das Geheimnis von Beatriz’ wahrer Herkunft zu offenbaren, was ich unter allen Umständen vermeiden möchte.«

Ich nickte. »Selbstverständlich, Laurent. Möchtest du, dass ich mit Beatriz Kontakt aufnehme?«

»Nein, das würde nur jede Menge Fragen aufwerfen. Vielleicht könntest du … die Familie einfach aus der Ferne im Blick behalten. Und es wäre mir eine enorme Beruhigung zu wissen, dass jemand da ist, der Hilfestellung geben könnte, falls das benötigt würde.«

»Verstehe, Laurent.« Ich überlegte fieberhaft, wie ich meinem Freund diesen Wunsch erfüllen konnte. Beatriz lebte mit ihrer Familie in Brasilien, ich dagegen in der Schweiz. Das würde nicht ganz einfach zu organisieren sein. Doch ich bemerkte Laurents bittenden Blick, und da ich nur allzu gut wusste, wie sich innige Liebe anfühlte, beschloss ich, meinen Freund auf keinen Fall zu enttäuschen. »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich deinem Wunsch nachkommen werde.«

Ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Danke, Bo. Ich danke dir sehr.« Er tätschelte meine Hand. »Ich werde jetzt müde, aber gibt es noch etwas, das du gern wissen möchtest?«

Ich überlegte. »Evelyn«, sagte ich dann. »Hast du von ihr gehört?«

Laurent sah traurig aus. »Es tut mir leid, Bo. Sie ist kurz nach Monsieur Landowski gestorben.«

Das schmerzte mich sehr. Evelyn war immer so liebevoll zu mir gewesen, und durch meine besessene Suche nach Elle hatte ich es versäumt, den Kontakt zu halten. »Als ich vor fünfzehn Jahren mit ihr sprach, erwähnte sie, dass sie ihre Enkelin nie kennengelernt habe. Weißt du, ob sich daran etwas geändert hat?«

Laurent schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich habe Louis bei der Beerdigung getroffen, aber weder Giselle noch Marina waren bei ihm.«

»Marina«, wiederholte ich. »Genau, so heißt sie. Sie muss jetzt um die zwanzig sein, oder?«

»Ja. Eine traurige Geschichte. Wie du ja sicher von Evelyn erfahren hast, war Giselle eine Art Naturgewalt. Es gab Gerüchte, dass sie Trinkerin war, und die Ehe mit Louis scheiterte. Eines Tages verließ Giselle ihn und nahm die gemeinsame Tochter mit. Louis sagte mir, dass er unzählige Male versucht habe, Kontakt zu seiner Tochter aufzunehmen, aber Giselle hatte sie vollständig gegen ihn aufgebracht.«

»Wie schrecklich.«

»Ja. Aber ich habe gehört, dass es auch zu großen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter kam und dass Giselle Marina irgendwann aus dem Haus warf. Seither …« Er zögerte.

»Bitte sprich weiter, Laurent.«

»Unlängst habe ich von Marcel Landowski gehört, dass Marina an der Rue Saint-Denis arbeitet.« Ich sah ihn verständnislos an, und Laurent seufzte. »Offenbar verkauft sie ihren Körper, um zu überleben.«

Ich schlug entsetzt die Hand vor den Mund. »Großer Gott, Laurent.« Dann rieb ich mir die Schläfen. »Ich muss irgendetwas tun, um zu helfen. Das bin ich Evelyn schuldig.«

Laurent nickte. »Ich hätte das auch tun wollen, wenn ich noch dazu imstande wäre.« Das Atmen fiel ihm sichtlich schwer, und er legte eine Hand auf die Brust. »Könntest du jetzt bitte Hélène holen?«

»Selbstverständlich, Laurent.« Als ich aufstand, ergriff er meine Hand.

»Schwörst du mir, dass du dein Versprechen hältst, Bo?«

»Bei den Sternen.«

Er lächelte mich ein letztes Mal an. »Dann weiß ich, dass du die Wahrheit sagst.«