XLV

Rote Lichter spiegelten sich auf dem regennassen Asphalt der Rue Saint-Denis. Unter schäbigen Markisen standen breitschultrige Männer und rauchten, und ich spürte, wie sie mich musterten. Im Eingang zu einem heruntergekommenen Café entdeckte ich eine glamourös aufgemachte Frau im Pelzmantel. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sprach sie an.

»Entschuldigung, ich suche nach jemandem.«

»Suchen Sie nicht weiter, Monsieur. Für hundert Francs können Sie alles mit mir machen, worauf Sie Lust haben.« Sie zwinkerte mir zu.

»Nein, so meinte ich das nicht. Ich suche nach einer gewissen Marina.«

Die Frau verdrehte die Augen. »Was wollen Sie denn mit so einem kleinen Mädchen, wenn Sie eine richtige Frau wie mich haben können?« Sie packte meinen Mantelkragen.

»Nein, nein, ich suche nicht das . Man hat mir gesagt, dass ich Marina hier finden könnte. Wissen Sie, wo sie ist? Ich bin ein alter Freund ihrer Familie.«

Jetzt gab die Frau ein verächtliches Schnauben von sich. »Wie Sie wollen, Monsieur.« Sie deutete die Straße entlang. »Marina finden Sie im Le Lézard.«

»Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen.« Die Frau wandte sich mit einem Achselzucken ab, und ich steuerte auf das leuchtende Neonschild zu.

Als ich das Etablissement betreten wollte, verstellte mir ein wuchtiger Mann mit Lederjacke den Weg. »Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?«

»Ich suche jemanden«, antwortete ich.

»Bedauere, Monsieur, Sie müssen zuerst mit mir reden, ich vermittle Sie dann. Aber ich kann Sie beruhigen, bei mir sind Sie bei dem Richtigen.«

Ich konnte meinen Ärger nur mit Mühe verbergen. »Ich will keine Verabredung, sondern suche nur nach einer Frau namens Marina.«

Der Mann beäugte mich argwöhnisch. »Marina?«

»Ja.« Der Türsteher musterte mich von Kopf bis Fuß und sagte dann: »Na gut. Keine Ahnung, warum ich die überhaupt weiterbeschäftige. Sie ist wählerisch, und wer kein Geld in der Tasche hat, sollte das lieber nicht sein, Monsieur.« Er schob die Tür des Etablissements auf. »Sie finden Marina ganz hinten.«

Ich betrat den spärlich beleuchteten Club, in dem hier und da Männer in Anzügen saßen, junge Frauen in kurzen Röcken auf ihrem Schoß. Die abgestandene Luft stank nach Zigarettenrauch und Desinfektionsmittel. Ich ging zum hinteren Ende des Raums, wo neben einer Wendeltreppe eine lange Lederbank an der Wand stand. Darauf saß eine zierliche Frau mit einem Baby auf dem Schoß, das etwa ein halbes Jahr alt sein mochte.

»Schsch, chéri «, tröstete sie das Kind. »Alles ist gut. Mama kommt ganz bald zurück.«

»Hallo«, sagte ich. »Sind Sie Marina?«

Die junge Frau schaute ängstlich zu mir auf. »Pierre soll mir eigentlich Bescheid geben, wenn jemand nach mir verlangt.«

Ich hielt beide Hände hoch. »Bitte, deshalb bin ich nicht hier. Ich bin ein alter Freund Ihrer Großmutter.«

Marina sah verwundert aus. »Ich habe keine Großmutter. Beide sind schon vor meiner Geburt gestorben.«

Ich holte tief Luft. »Nun ja, es wäre möglich, dass sich das anders verhält, Marina.«

Sie sah mich skeptisch an. »Was soll das heißen? Wer sind Sie?«

Das Baby begann zu weinen, und eine laute Männerstimme von der anderen Seite des Raums donnerte: »Bring den verdammten Balg zum Schweigen! Ich bin hier, um so einem Lärm zu entkommen, verflucht!«

Marina schüttelte den Kopf. »Na, komm schon, chéri , es dauert nicht mehr lange.« Sie wiegte das Kind sanft und summte ein Schlaflied, bis das Baby sich beruhigte. »So ist es gut, so ist es gut.« Marina schaute wieder zu mir hoch. »Sagen Sie mir einfach, was Sie von mir wollen.«

»Darf ich mich setzen?«, fragte ich. Sie nickte. »Ist das Ihr Kind?«

»Nein. Das ist der kleine Sohn von meiner Freundin Celine.« Marina blickte auf die Uhr an der Wand. »Sie ist gerade beschäftigt, wahrscheinlich noch etwa zehn Minuten.«

»Ah«, sagte ich unbehaglich. »Also: Ich kannte Ihre Großmutter Evelyn. Ob Sie es glauben oder nicht, aber sie hat für mich gesorgt, als ich ein Kind war.«

»Hm. Und was hat das damit zu tun, dass Sie jetzt hier sind?«

»Ich habe durch einen alten Freund von Ihren Lebensumständen erfahren und wollte Ihnen sagen, dass mir das sehr leidtut. Das muss sehr schwierig für Sie sein«, sagte ich vorsichtig.

Marina schürzte die Lippen. »Ich brauche kein Mitleid von Ihnen, Monsieur.«

»Ich bemitleide Sie nicht, sondern möchte Ihnen Unterstützung anbieten, falls Sie das wollen.«

Sie sah mich missbilligend an. »Ich habe von Männern wie Ihnen gehört, die Mädchen das Blaue vom Himmel versprechen und sie dann wie ihr Eigentum behandeln. Mir geht es gut hier, vielen Dank.«

Es war mir äußerst unangenehm, dass sie mir solche Absichten unterstellte. »Nein, Marina, um so etwas geht es nicht. Ihre Großmutter – die Mutter Ihres Vaters – hat Sie sehr geliebt. Sie ist nicht vor Ihrer Geburt gestorben, sondern sehnte sich im Gegenteil danach, Sie kennenzulernen, aber das wollte Ihre Mutter nicht. Vielleicht war sie eifersüchtig.«

Marina sah mich lange forschend an, bevor sie sich wieder dem Baby zuwandte. »Ich glaube Ihnen.«

»Evelyn war damals ungemein gütig zu mir, und ich möchte mich dafür bedanken. Was brauchen Sie, Marina? Falls es Geld ist oder dass Ihnen einfach jemand zuhört … ich kann beides anbieten.«

Die junge Frau reagierte ungehalten. »Ich bin nicht so einfältig zu glauben, dass damit keine Verpflichtungen verbunden sind, Monsieur. Ich würde auf keinen Fall Geld von Ihnen annehmen.«

Mir fiel nichts anderes mehr ein, als hartnäckig zu bleiben. »Ich bin nur ein Freund, der helfen will … und ja, eine große Schuld wiedergutmachen.« Plötzlich kam ein beleibter Mann, verschwitzt und rot im Gesicht, die Treppe heruntergestapft, gefolgt von einer schlanken rothaarigen Frau mit Netzstrümpfen.

»Igitt, hat der gestunken«, sagte sie zu Marina, als der Mann außer Hörweite war. »Hallo, mein Kleiner, warst du schön brav bei Tante Ma?«, fügte sie hinzu und nahm Marina das Baby ab.

»Er war ganz lieb. So ein süßes Kerlchen, Celine.«

»Ah, er ist ein kleiner Quälgeist, das ist er«, erwiderte Celine und küsste das Baby auf die Stirn. Dann griff sie in ihre Tasche und reichte Marina einige Franc-Scheine. »Dein Anteil.«

»Vielen Dank.«

Celine beäugte mich. »Und du hast einen Freier, Ma? Sie können sich glücklich schätzen, Monsieur. Sie sind seit Wochen der Erste, den sie annimmt.«

»Bitte, Celine«, murmelte Marina verlegen.

»Du musst dich doch nicht schämen. Ma betreibt hier eine Art Kinderkrippe, nicht wahr? Ein paar von uns haben kleine Kinder, und Ma kümmert sich um sie, während wir Geld verdienen.«

Ich nickte. »Das finde ich sehr schön von ihr.«

Celine lachte. »Sie liebt das. Ich weiß gar nicht, weshalb du nicht einfach Kindermädchen wirst, Ma.«

»Mich würde doch niemand wollen«, flüsterte sie.

Der wuchtige Mann mit der Lederjacke kam herein und nickte Celine zu.

»Schon der Nächste«, stöhnte sie. »Ist wohl mein Glückstag heute.« Celine überreichte das Baby erneut Marina und ging nach oben.

»Marina, ich möchte Sie nicht weiter bedrängen«, sagte ich. »Aber bitte vertrauen Sie mir, ich bin wirklich hier, um Ihnen zu helfen.« Ich reichte ihr eine Visitenkarte. »Das hier sind die Kontaktdaten meines Anwalts Georg Hoffman. Sie können ihn jederzeit anrufen, dann wird er Sie zu mir durchstellen.« Marina nickte und beschäftigte sich dann wieder liebevoll mit dem kleinen Jungen.

Als ich das Etablissement verließ, hoffte ich inständig, dass Marina sich eines Tages bei mir melden würde.

***

Zurück in Genf, trug ich Georg Hoffman auf, eine Kanzlei in Rio de Janeiro zu finden, mit der wir zusammenarbeiten konnten, um regelmäßig Informationen über Beatriz Aires Cabral und ihre Tochter zu erhalten. Georg zeigte sich ziemlich verblüfft über dieses Ansinnen, war aber natürlich wie immer äußerst bereitwillig, als wir uns in der kürzlich umbenannten Kanzlei Schweikart & Hoffman in der Rue du Rhône gegenübersaßen.

»Das mache ich selbstverständlich sehr gern für Sie, Atlas, aber ich frage mich doch, ob es da nicht günstigere Möglichkeiten gäbe. Es wäre weitaus weniger kostenaufwendig, ein- oder zweimal im Jahr nach Brasilien zu fliegen, um selbst nach der Familie zu schauen.«

»Danke für Ihre Umsicht, Georg, aber ich wurde angewiesen, auf Abstand zu bleiben. Außerdem herrscht nicht gerade Ebbe in der Kasse, oder?«

Georg lachte. »Nein, wahrhaftig nicht. Ich habe ganz im Gegenteil heute Morgen einen Anruf von Ihrem Börsenmakler in New York erhalten. Ihre Investitionen machen sich bezahlt, die Kurse für Ihre Unternehmen steigen rasant.« Er nahm einen Notizblock aus einer Schublade von Eric Kohlers altem Schreibtisch. »Telex, Control Data, Teledyne, University Computing … Technologieunternehmen erleben einen Boom, und Ihre Einnahmen vervielfachen sich.« Er reichte mir den Block.

»Und Sie wollten mich dazu überreden, mein Geld in Gold und Silber zu investieren, mein lieber Georg«, sagte ich schmunzelnd.

Der junge Anwalt wirkte verlegen. »Ja, das stimmt. Ich fürchte, mein Gespür für Finanzinvestitionen ist noch nicht so ausgeprägt, wie es sein sollte.«

»Meines auch nicht, mein junger Freund. Sie wissen ja, warum ich in Technologie investiere.« Ich sah mich in dem Raum um. Es war immer noch ein wenig ungewohnt für mich, Georg hier in Eric Kohlers einstigem Büro zu erleben.

»Ja«, erwiderte Georg. »Weil Sie hoffen, dass sie uns dabei helfen könnten, eines Tages Elle doch noch wiederzufinden.«

»Ganz genau«, bestätigte ich. »Und Gold ist gewiss immer eine sichere Investition, stattet uns aber nicht mit Computerdatenbanken und Tracking-Systemen aus.« Ich zuckte mit den Achseln. »Und selbst wenn die Kurse einmal nicht steigen sollten, finde ich es besser, meine Millionen in den technischen Fortschritt zu investieren.«

»Auf jeden Fall. Also, womit genau soll ich denn die brasilianische Kanzlei hinsichtlich der Familie Aires Cabral beauftragen?«

Das war eine gute Frage, denn Laurent Brouilly hatte sich nicht genau dazu geäußert. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaute hinaus auf den See. »Sie sollen über den Gesundheitszustand und die finanzielle Lage der Familie Bericht erstatten.«

Georg nickte. »Wird gemacht.«

»Vielen Dank, Georg. Und noch etwas: Es könnte sein, dass Sie irgendwann einen Anruf aus Paris bekommen, von einer jungen Frau namens Marina, die ich dort kennengelernt habe. Sie ist Evelyns Enkelin.«

Georg sah überrascht aus. »Oh.«

»Ich habe ihr die Telefonnummer der Kanzlei gegeben. Sollte Marina anrufen – was ich sehr hoffe –, dann stellen Sie sie bitte sofort direkt nach Atlantis durch. Eine Sicherheitsüberprüfung ist dann nicht nötig.« Ich gab Georg den Notizblock zurück, und er schrieb etwas auf. »Wie geht es übrigens Claudia?«

»Sie arbeitet immer noch in der Bäckerei. Na ja, und kürzlich hat sie einen jungen Mann kennengelernt, einen Kunden, von dem sie wohl sehr angetan ist.«

Ich lachte leise. »Und wie findet das der große Bruder?«

Georg legte seinen Stift ab und überlegte kurz. »Wenn sie glücklich ist, bin ich es auch.«

»Wunderbar. Bitte richten Sie ihr liebe Grüße aus.« Ich stand auf. »Ach, und haben Sie in der letzten Woche noch weitere Namen gefunden?«

Georg zog eine andere Schublade auf. »Ich bin auf eine Eleanor Leopold in Danzig gestoßen. Laut den Unterlagen lebt sie dort seit ihrer Geburt, aber Sie wissen ja selbst nur allzu gut, dass Unterlagen gefälscht werden können, wenn man es richtig anstellt.« Er reichte mir das Blatt mit den neuen Informationen.

»Dann also Danzig«, sagte ich. »Ich war noch nie in Polen. Können Sie mir den Flug buchen, bitte?«

»Selbstverständlich.«

»Prächtig. Vielen Dank, Georg, ich glaube, das wär’s so weit. Ich melde mich dann nächste Woche wieder.«

»Es gäbe da … noch eine Sache.« Georg, der sonst immer ruhig und gelassen wirkte, schien mir plötzlich nervös. Er öffnete seinen Aktenkoffer, nahm ein Blatt Papier heraus und schob es mir zu.

»Was ist das?«

»Sie hatten mich ja angewiesen, nicht nur nach Elles Namen zu suchen, sondern auch nach … Kreeg Eszu.«

Ich starrte auf das Blatt, und das Blut gefror mir in den Adern. Was Georg mir gegeben hatte, war die Registrierung eines neuen Unternehmens namens Lightning Communications. Als Eigentümer und Generaldirektor aufgeführt war Kreeg Eszu.