August 1977
Die ersten Wochen waren eine schier endlose Abfolge von Wickeln, Bäuerchen und nächtlichen Fläschchenstunden. Ich hatte darauf bestanden, dass Marina ins Haupthaus zog, damit ich sie nachts unterstützen konnte. Und ich glaube, diese Momente zählen zu den schönsten meines Lebens – wenn Maia und ich allein waren, in der Stille der Nacht, in der von draußen nur das sanfte Plätschern des Sees zu vernehmen war. Dreißig Jahre lang habe ich so besessen nach Elle gesucht und bin der Prophezeiung von Angelina nachgejagt, dass ich mich für andere Menschen verschlossen habe. Ich bin selbstsüchtig und verbissen geworden. Die kleine Maia jedoch hat mir die Augen geöffnet, und jetzt fühle ich mich so lebendig wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Marina sagt, ihr sei schon im ersten Moment, als ich Maia gesehen hatte, klar gewesen, dass ich sie niemals weggeben würde. Und ich selbst hatte mich bereits mit meinem Schicksal angefreundet, als die Räder des Jumbojets auf dem Flughafen Charles de Gaulle aufsetzten. Maia war während des gesamten Flugs ruhig und friedlich gewesen und hatte der gesamten Mythologie der Sieben Schwestern gelauscht. Ein so unschuldiges verletzliches Wesen in meinen alternden Händen zu halten hatte mich an die tröstlichste Lektion der Welt erinnert: Das Leben geht weiter, was auch immer geschieht.
Ich war nervös gewesen, bevor ich Marina meine Entscheidung mitgeteilt hatte, denn ich hatte gefürchtet, dass sie mich als Vater für ungeeignet halten würde. Doch diese Sorge war überflüssig, denn Marina strahlte glückselig.
»Oh, was für eine wundervolle Neuigkeit, Atlas! Ich finde es vollkommen richtig, dass Sie Maia selbst adoptieren. Sie brauchen sie ebenso sehr, wie die Kleine Sie braucht.«
»Aber das kann ich auf keinen Fall allein bewältigen.«
Marina lachte. »Das sollen Sie auch nicht! Ich habe beobachtet, wie Sie sie gewickelt haben. Das würde ein Orang-Utan mit mehr Geschick hinbekommen.«
»Sie wollen mir also sagen, dass Sie bei uns bleiben und für Maia sorgen werden?«, fragte ich aufgeregt.
»Ja, aber selbstverständlich, chéri !«
Georg nahm sich der Adoptionsformalitäten an, und auf seinen Vorschlag hin lautete Maias Nachname »d’Aplièse« , damit niemand auf den Namen Tanit aufmerksam werden konnte.
Und so bin ich nun auf einmal Vater geworden.
Da ich auf die sechzig zugehe, ist mir klar geworden, dass Angelinas Prophezeiung wohl nicht wahr werden wird. Georg hat natürlich weiterhin den Auftrag, überall auf der Welt nach Elle zu suchen. Aber meine langen Reisen, um irgendwo dürftigen Spuren nachzugehen, sind seltener geworden. Und wenn ich wirklich einmal weg bin, kann ich es kaum erwarten, nach Atlantis zurückzukehren und Zeit mit meiner kleinen Maia zu verbringen. Ich liebe nichts mehr, als mit ihr durch den Garten zu spazieren, wo sie auf ihren kurzen Beinchen umherstolpert, und ihr ausgedehnte Gutenachtgeschichten über die Abenteuer meines Lebens zu erzählen.
Was allerdings nicht bedeutet, dass ich nicht schrecklich darunter leide, bereits eine leibliche Tochter irgendwo auf dieser Welt zu haben, die mich genauso braucht wie die kleine Maia. Ich versuche, so wenig wie möglich daran zu denken. So lange habe ich mein Schicksal Sternbildern und Prophezeiungen anvertraut. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, endlich in der realen Welt zu leben.
Daran wurde ich überdeutlich erinnert am heutigen Abend, als ich einen Anruf erhielt. Normalerweise ist Georg am anderen Ende, wenn ich abnehme. Alle Anrufe laufen über die Kanzlei, um mich vor Eszu abzuschirmen.
»Guten Abend, Georg«, sagte ich.
»Hallo?«, hörte ich eine Stimme mit norwegischem Akzent.
»Horst?« Außer der Familie Forbes und Ralph Mackenzie haben nur Horst und Astrid diese direkte Durchwahl nach Atlantis.
»Guten Abend, Bo. Ich hoffe, ich störe dich nicht?«
»Ganz und gar nicht, mein lieber Freund. Wie geht es dir?«, fragte ich auf Norwegisch, was mir keinerlei Mühe bereitete, um mal ein wenig zu prahlen.
»Oh, gesundheitlich bin ich wohlauf. Astrid auch.«
Ich ließ mich in dem Ledersessel an meinem Schreibtisch nieder. »Ich habe im Instrumentalist den Artikel über Felix’ letzte Komposition gelesen. Alle Achtung! Ihr seid sicher sehr stolz auf ihn.«
Ein kurzes Schweigen entstand, dann erwiderte Horst grimmig: »Nein, ich bin alles andere als stolz auf meinen Enkel.«
»Oh«, sagte ich betroffen.
»Aber bevor ich jetzt davon anfange, sag mir doch bitte, Papa , wie es der kleinen Maia geht.«
»Ganz großartig! Danke der Nachfrage, Horst. Heute Morgen habe ich doch wahrhaftig miterlebt, wie sie sich selbst ›Pu der Bär‹ vorlas. Also, sie las natürlich nicht richtig, sie ist ja erst drei. Aber sie sprach die Figuren mit unterschiedlichen Stimmen, wie ich es auch mache, wenn ich ihr vorlese …« Ich musste mich bremsen, um nicht begeistert weiterzuplappern.
Horst lachte. »Kinder sind ein Segen.«
»Und durch Maia lerne ich täglich etwas Neues«, fuhr ich fort und spielte gedankenverloren mit dem Telefonkabel. »Auch wenn es nur so etwas ist, wie Schokolade aus meinem Hemd zu entfernen.«
»Ich freue mich sehr darüber, dass ihr so wunderbar zurechtkommt.« Wieder entstand eine Gesprächspause. »Darf ich fragen, ob es etwas Neues von Elle gibt?«
»Da gibt es leider nichts zu berichten, Horst. Mit jedem Tag verliere ich mehr die Hoffnung. Wie du weißt, werde ich die Suche niemals aufgeben. Aber Maia nimmt jetzt einen wichtigen Platz in meinem Leben ein.«
»Und das ist richtig so.«
Ich hörte meinen alten Freund nur noch undeutlich. »Tut mir leid, Horst, aber ich kann dich nicht gut verstehen. Könntest du ein bisschen lauter sprechen?«
»Ähm … nein, das geht leider nicht. Astrid schläft oben, und was ich mit dir besprechen möchte, muss unter uns bleiben.«
Ich setzte mich ruckartig auf. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Horst seufzte. »Ja, das muss man so sagen, mein alter Freund.« Er hielt inne und fuhr dann fort. »Es geht um Felix. Er hat sich in eine sehr unangenehme Lage gebracht.«
»Verstehe. Ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann.«
»Wie du weißt, ist Felix inzwischen nicht nur hier in Bergen, sondern in ganz Norwegen sehr berühmt. Die Leute kennen ihn als verwaisten Sohn des großen Pip Halvorsen und seiner schönen Karine, die beide auf so tragische Weise starben, als er noch klein war. Darüber wurde sehr viel in den Zeitungen geschrieben, und es hat den Anschein, als habe Felix begonnen, an seinen eigenen Mythos zu glauben.«
»Aha«, erwiderte ich, weil ich darauf nichts zu sagen wusste.
»Das wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass er eine Stelle an der Universität von Bergen bekommen hat, wo es viele junge Frauen gibt …«
Die Entwicklung, die dieses Gespräch nahm, behagte mir gar nicht. »Junge Frauen?«, wiederholte ich.
»Ja. Wenn Astrid und ich Felix überhaupt noch zu Gesicht bekommen, ist er jedes Mal in Begleitung einer anderen jungen Frau. Und er trinkt zu viel.« Horst stieß einen tiefen Seufzer aus.
Ich dachte einen Moment nach. »Er ist ein junger Mann, der jetzt zu ein wenig Ruhm gekommen ist. Da ist so etwas doch nicht außergewöhnlich«, sagte ich, um Horst zu beruhigen. »Das ist vielleicht nur eine Phase, das gibt sich bestimmt wieder.«
Horst lachte bitter. »Aber nicht, wenn er weiterhin so viel trinkt. Damit wird er sich bald zerstören.«
Ich überlegte, wie ich helfen könnte. »Es gibt einige sehr renommierte Entzugskliniken in Europa, Horst. Wie du weißt, spielt Geld keine Rolle. Wenn du einverstanden wärst, könnte ich mich kundig machen und dir dann etwas für Felix empfehlen.«
»Danke, Bo. Ich weiß allerdings, wie unverzichtbar es für einen Entzug ist, dass die betroffene Person ihre Sucht selbst loswerden möchte. Und auf Felix trifft das leider überhaupt nicht zu. Außerdem«, fügte er hinzu, »ist das gegenwärtige Problem noch komplizierter.«
»Bitte sag mir, worum es geht«, forderte ich ihn auf.
»Vor zwei Tagen wurde ich im Supermarkt in Bergen von einer jungen Frau angesprochen. Sie sah bleich und übernächtigt aus, als habe sie seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Die junge Frau stellte sich als Martha vor und sagte, sie sei schwanger.«
»Ah«, sagte ich, als mir dämmerte, worum es ging.
»Ich wünschte ihr alles Gute und fragte, weshalb sie das mir erzählt habe. Woraufhin ich erfuhr, dass Felix der Vater ist.«
»Ach, du lieber Himmel.«
»Martha berichtete weiter, sie sei eine Studentin von Felix und sie beide seien sehr verliebt ineinander. Aber offenbar will mein Enkel sie nicht finanziell unterstützen.«
Ich empfand tiefes Mitgefühl für meinen alten Freund. »Das ist nun wirklich das Allerletzte, was ihr beide braucht …«
»Stimmt. Aber es kommt noch schlimmer. Martha erschien mir irgendwie … sonderbar. Ihre Sprechweise und der etwas irre Blick in ihren Augen … Um Zeit zu gewinnen, sagte ich ihr deshalb, sie solle sich keine Sorgen machen, ich würde mit Felix reden, und ließ mir ihre Telefonnummer geben. Trotz allen Problemen mit Felix wollte ich dennoch erst einmal überprüfen, ob Martha wirklich die Wahrheit sagte. Abends suchte ich ihn in seinem Blockhaus auf. Er wirkte schockiert, als ich vor der Tür stand, und peinlich berührt, weil ich im Zimmer die vielen leeren Flaschen sah, die überall herumstanden. Ich berichtete von Martha.«
»Und wie hat Felix reagiert?«
»Wütend. Er sagte, Martha habe sich an der Universität Hals über Kopf in ihn verliebt und sei regelrecht besessen von ihm. Ich fragte ihn, ob er mit ihr geschlafen habe, was er zugab. Deshalb habe ich ihm natürlich mitgeteilt, dass er dann auch Verantwortung für die Situation übernehmen müsse.«
»Was hat er gesagt?«
»Hat sich rundweg geweigert. Meinte, Martha habe einen festen Freund, und es sei viel wahrscheinlicher, dass sie von dem schwanger sei.«
Ich rieb mir die Augen. »Verstehe.«
»Dann erklärte er mir, dass Martha jede Menge psychische Probleme habe, und bat mich inständig, ihm zu glauben, dass sie eine Gefahr für ihn darstelle.«
Ich überlegte. »Glaubst du ihm?«
Horst seufzte. »Nach dem Gespräch mit Felix traf ich mich mit Martha in einem Restaurant außerhalb der Stadt. Sie schilderte die intimen Begegnungen mit meinem Enkel in so vielen Details, dass ich keine Zweifel mehr habe. Allen Umständen nach muss Felix der Vater sein.«
Die Situation war wirklich sehr vertrackt. »Verstehe«, war alles, was mir im Moment einfiel.
»Aber …« Horst war das Gespräch hörbar unangenehm. »Ich denke, dass Felix diese junge Frau richtig einschätzt. Sie scheint eine Art Liebeswahn entwickelt zu haben, obwohl sie nur zweimal zusammen waren. Das entschuldigt natürlich Felix’ Verhalten nicht, erklärt aber zumindest teils die Hintergründe der Lage.«
Ich stand auf, trat an mein Bücherregal und griff nach dem kleinen Glücksfrosch, den Pip mir auf dem Hurtigruten-Schiff geschenkt hatte. »Geht es dem Kind bisher gut?«
»Den Kindern«, erwiderte Horst düster. »Es sind Zwillinge, wenn man dem Ultraschall glauben kann.«
»Entschuldige, ist das diese Untersuchung, bei der man das Kind im Bauch sehen kann? Oder die Kinder, in diesem Fall?«
»Ja, genau.« Horst schwieg einen Moment. »Und jetzt wird es noch absurder. Ich fragte Martha, ob sie das Geschlecht der Zwillinge schon erfahren habe. Sie nickte und berichtete stolz, sie bekäme einen Sohn. Dann fügte sie aber hinzu, das andere Kind sei ein Mädchen. Und dabei verzog sie angewidert das Gesicht.«
Stirnrunzelnd fragte ich: »Sie scheint sich also auf den Sohn zu freuen, nicht aber auf die Tochter?«
»Richtig. Martha sagte, Felix und sie würden einen wunderbaren Jungen zusammen bekommen, der dazu bestimmt sei, der nächste große Halvorsen zu werden.« Horst seufzte. »Als ich nach der Tochter fragte, zuckte Martha nur mit den Achseln, als sei ihr das Mädchen vollkommen gleichgültig.«
Unwillkürlich umklammerte ich den Frosch, als könne er mir dabei helfen, die Situation zu verbessern. »Großer Gott. Aber warum denn bloß?«
»Wie ich schon sagte: Die junge Frau hat massive psychische Probleme.«
»Weiß Astrid von alldem?«
»Bisher nicht, nein. Ich will sie nicht damit belasten, solange es nicht unbedingt nötig ist. Aber langfristig wird mir nichts anderes übrig bleiben. Das sind meine Urenkel … die Enkel meines geliebten Sohnes. Ich kann Martha und die ganze Situation nicht einfach ignorieren.«
Ich konnte Horsts Gefühle gut verstehen und hätte mich zweifellos in seiner Lage ebenso verhalten. »Was hast du vor?«
Horst holte tief Luft. »Felix wird sich ganz sicher nicht angemessen verhalten und die Verantwortung übernehmen. Ich schäme mich für meinen Enkel.« Horsts Stimme klang brüchig. »Und das würde sein Vater auch tun.« Mein Freund räusperte sich und fuhr fort. »Entschuldige, Bo. Jedenfalls bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir Martha nach der Geburt der Kinder bei uns aufnehmen müssen. Wenn sie allein bliebe, würde ich um die Sicherheit der Zwillinge fürchten. Ich bin es Pip und Karine schuldig, für den Schutz ihrer Enkelkinder zu sorgen.«
Die Güte dieses Mannes kannte wirklich keine Grenzen. »Das … ist sehr ehrenwert von dir, Horst«, erwiderte ich.
»Aber … Bo, ich bin dreiundneunzig, und meine Tage sind gewiss gezählt. Astrid ist achtundsiebzig und wird sicher noch länger leben, aber wer weiß. Wir haben wenig Geld, die meisten Rücklagen haben wir für Felix’ Ausbildung aufgebraucht und dafür, ihn aus schwierigen Situationen zu retten, in die er sich hineinmanövriert hatte.«
»Du brauchst nichts weiter zu sagen, Horst. Ich schicke euch Geld.«
»Danke, Bo, aber ich möchte dich nicht um finanzielle Unterstützung bitten, sondern um etwas anderes.«
»Was ist es denn, mein Freund?«
Nach kurzem Zögern antwortete Horst: »Um deine Liebe. Ich weiß, wie viel Freude du seit drei Jahren an der kleinen Maia hast. Deine Stimme klingt hell und so beschwingt, wie ich es zuletzt gehört habe, als wir zusammen bei uns musiziert haben. Mit einem Kind würden Astrid und ich zurechtkommen, glaube ich. Aber nicht mit zwei.«
Mein Herz schlug schneller. »Was genau meinst du, Horst?«
»Das kleine Mädchen. Würdest du das Mädchen bei dir aufnehmen?«
Ich sank erschüttert in meinen Sessel zurück. Wie sollte ich auf eine so gewaltige Aufgabe reagieren? »Ich … Horst …«
Er sprach weiter, fast flehend. »Ich weiß, dass diese Anfrage mehr ist, als man einem anderen Menschen zumuten sollte. Aber offen gestanden weiß ich einfach nicht, was ich sonst tun könnte. Martha ist psychisch krank, und ihre Tochter wird ganz sicher nicht die Liebe und Fürsorge bekommen, die sie braucht. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie das Kind zur Adoption freigeben wird. Am besten wäre es natürlich, wenn Astrid und ich uns um beide Kinder kümmern würden, aber wie gesagt, wir sind zu alt und gebrechlich dafür.«
Ein unbehagliches Schweigen entstand, bis ich schließlich hervorbrachte: »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll …«
»Du musst jetzt gar nichts sagen, Bo. Bitte lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, um dir alles in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Ich bitte dich auch nur deshalb, weil ich weiß, was für ein guter Mensch du bist. Außerdem bist du meine einzige verbliebene Verbindung zu Pip und Karine. Ich weiß, wie sehr die beiden dich bewundert haben und wie stolz sie wären, wenn du dich ihrer Enkeltochter annehmen würdest.« Jetzt war ein halb ersticktes Schluchzen zu hören.
»Ich danke dir für deine lieben Worte, Horst.« Es schmerzte mich unendlich, ihn so gequält zu erleben.
»Außerdem haben Astrid und ich immer bedauert, dass Pip ohne Geschwister aufgewachsen ist. Ich bin ganz sicher, dass es Maia guttun würde, eine kleine Schwester zum Spielen zu haben.«
»Ich … werde es mir auf jeden Fall gut überlegen.«
»Die Geburt könnte jetzt jeden Tag bevorstehen. Ich werde Astrid alles erzählen, sobald die Kinder auf der Welt sind. Martha soll danach bei uns im Haus wohnen, damit wir sie im Auge behalten können.« Horst zögerte und fügte dann hinzu: »Es … wäre am besten, wenn Astrid gar nichts von dem kleinen Mädchen erfahren würde. Du weißt ja, was für ein großes Herz sie hat. Ganz bestimmt würde sie beide Kinder aufnehmen wollen, und ich hätte Angst vor den Folgen für alle Beteiligten.«
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, holte ich mir ein Glas provenzalischen Rosé und setzte mich damit auf den Rasen am Seeufer. Horsts Bitte wog schwer. Ich verlor mich in Erinnerungen an die glückliche Zeit mit Pip, Karine und Elle in Bergen. Und ich sah auch vor mir, mit welcher Sehnsucht Elle den kleinen Felix betrachtet hatte, in der Hoffnung, bald selbst eine Familie zu haben.
Damals hatte ich mir geschworen, alles Erdenkliche zu tun, um den Halvorsens für ihre unendliche Großzügigkeit und Zuwendung zu danken.
Ich blickte zum Himmel auf. »Pip und Karine, was meint ihr? Gebt mir ein Zeichen, damit ich weiß, was ihr euch wünscht.«
»Pa, pa, pa, pa, pa!«, hörte ich plötzlich ein helles Stimmchen hinter mir.
Ich schaute mich um und sah Maia, die auf mich zugeflitzt kam, dicht gefolgt von der lächelnden Marina.
»Hallo, mein Goldschatz!« Ich nahm Maia in die Arme. »Hattest du einen schönen Tag?«
»Ja!«, antwortete sie begeistert.
»Ich kann es kaum glauben, aber sie hat mir vorhin wahrhaftig die ersten Zeilen von Madeline vorgelesen«, berichtete Marina.
»Ach, du meine Güte! Vielleicht haben wir hier eine kleine Gelehrte, Marina?«
»Das könnte wohl sein.«
Ich blickte auf meine Tochter hinunter, die es sich auf meinem Schoß bequem gemacht hatte und vergnügt in die Hände klatschte. »Maia?«
»Jaaaa?«
Ich hob sacht ihr Kinn an, damit sie mich anschauen konnte. »Hättest du vielleicht gern eine kleine Schwester?«
Ich hörte, wie Marina scharf die Luft einsog, aber Maia strahlte. »Eine Schwester? Für mich?«
»Ganz genau«, antwortete ich schmunzelnd. »Für dich ganz allein.« Maia blickte zu Marina hoch, wie ich auch. Sie beäugte mich fragend, die Hände in die Hüften gestützt.
»Ist die kleine Schwester dann in Mas Bauch?«
Maias Intelligenz verblüffte mich immer wieder aufs Neue. »Nein. Sie wird wie durch Zauberhand erscheinen, von den Sternen. So wie du auch. Würde dir das gefallen?« Maias Augen funkelten vor Begeisterung. »Können wir dann zusammen Geschichten lesen?«, wollte sie wissen.
»Aber natürlich, mein Liebling.«
»Dann ja, bitte, bitte!«
Ich lachte. »Also gut. Ma und ich denken darüber nach, ja?«
»Ganz genau, Maia«, warf Marina hastig ein. »Wir werden darüber nachdenken . Und jetzt komm, chérie . Es ist Zeit für dein Bad.«
Abends lud ich Georg nach Atlantis ein, und wir besprachen die Situation zu dritt auf der Terrasse.
»Ich verstehe, dass Sie sich verpflichtet fühlen, Atlas«, sagte mein junger Anwalt. »Aber sehen Sie sich imstande, so viel Verantwortung zu übernehmen? Eine zweite Adoption würde bedeuten, dass Sie noch weniger Zeit für Ihre Suche nach Elle haben werden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ein zweites Kind im Haus in Bezug auf die Suche nach Elle so viel verändern würde. Die größte Frage betrifft Marina. Würden Sie sich zutrauen, sich erneut um ein Neugeborenes zu kümmern?«
»Atlas, Sie könnten mir hundert Babys zum Betreuen geben, und ich wäre glücklich. Sie wissen doch, wie sehr ich Kinder liebe.« Sie zog mahnend eine Augenbraue hoch. »Aber beim nächsten Mal sprechen Sie bitte zuerst mit mir, bevor Sie so eine Idee Maia unterbreiten.«
Ich hob beide Hände. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nur vorher wissen, wie ihre Reaktion ausfallen würde. Hätte sie nicht so restlos begeistert reagiert, würde ich Horsts Bitte vielleicht anders gegenüberstehen.«
Marina nickte. »Verstehe.« Sie blickte hinaus auf den stillen See. »Jedenfalls werden Ihnen Ihre Freunde ewig dankbar sein«, fügte sie leise hinzu.
Am nächsten Morgen rief ich Horst an, um ihm mitzuteilen, dass ich das kleine Mädchen adoptieren würde. Er weinte vor Erleichterung. Später am Tag rief er an und sagte mir, Martha sei hocherfreut über den Plan. Ich fragte, ob ich mich vielleicht persönlich davon überzeugen solle. Horst riet jedoch davon ab. Er meinte, in Anbetracht von Marthas psychischem Zustand sei es besser für das Kind, wenn sie mich nicht kennen würde. Drei Tage später erfuhr ich, dass die Zwillinge geboren waren, und Marina und ich flogen nach Bergen.
Das kleine Mädchen, das wir mitnahmen nach Atlantis, hatte einen rotgoldenen Haarschopf. Während des gesamten Fluges hatte die Kleine die Fäustchen fest geballt, als wäre sie eisern zu irgendetwas entschlossen. Was das sein konnte, vermochte ich nicht zu erraten.
Beim Anblick von Maia, die ins Bettchen ihrer kleinen Schwester spähte, um sie zu bestaunen, wurde mir warm ums Herz, und ich spürte, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Maia ging sehr sanft und behutsam mit dem Baby um.
»Sie heißt Alkyone, nach dem Stern«, raunte ich.
»Hallo, Ally«, sagte Maia in dem Versuch, den Namen auszusprechen.
»Ja«, flüsterte ich. »Hallo, Ally.«